Titel:
Nachbarklage, Baugenehmigung für den Neubau eines Parkhauses mit unterirdischer Garage, Büro- und Gewerbenutzung, Gastronomie und Mobility-Hub, Anfechtung von Ausgangsgenehmigung und Einbeziehung, Änderungsgenehmigung, Aussetzung des Verfahrens wegen Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts (verneint), Bindungswirkung eines Vorbescheids (offen gelassen), Abgrenzung Neuzu, Einfügen nach dem Maß der baulichen Nutzung, Gebot der Rücksichtnahme, Abstandsflächen, Vorrang des Planungsrechts, Auslegung und Prüfungsmaßstab des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
ZPO § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 240 S. 2
InsO § 22 Abs. 1 S. 1, § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2
BauGB § 30 Abs. 3
BauGB § 34
BauNVO § 15
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
BayBO Art. 63
Schlagworte:
Nachbarklage, Baugenehmigung für den Neubau eines Parkhauses mit unterirdischer Garage, Büro- und Gewerbenutzung, Gastronomie und Mobility-Hub, Anfechtung von Ausgangsgenehmigung und Einbeziehung, Änderungsgenehmigung, Aussetzung des Verfahrens wegen Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts (verneint), Bindungswirkung eines Vorbescheids (offen gelassen), Abgrenzung Neuzu, Einfügen nach dem Maß der baulichen Nutzung, Gebot der Rücksichtnahme, Abstandsflächen, Vorrang des Planungsrechts, Auslegung und Prüfungsmaßstab des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften
Fundstelle:
BeckRS 2024, 46966
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich de außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist für die Beklagte ohne, für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung ode Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen der Beigeladenen erteilte Baugenehmigungen für den Neubau eines Parkhauses mit unterirdischer Garage, Büro- und Gewerbenutzung, Gastronomie und Mobility-Hub auf dem Grundstück A. -K. -Straße 10, FlNr. 6945/0 der Gemarkung … * (im Folgenden: Baugrundstück). Das Baugrundstück war bislang mit einem – im Zeitpunkt des gerichtlichen Augenscheins bereits beseitigten – im Wesentlichen viergeschossigen, sich über das gesamte Grundstück erstreckenden Parkhaus (mit Ladengeschäften/Gastronomie/Tanzschule) bebaut.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des östlich des Baugrundstücks gelegenen Grundstücks A. -K. -Straße 4, FlNr. 6952 der Gemarkung … * (im Folgenden: Nachbargrundstück). Zwischen Bau- und Nachbargrundstück liegt das – im Süden etwa 10,80 m, im Norden rund 11,70 m breite, im Eigentum der Beklagten stehende – Grundstück FlNr. 6945/1, im amtlichen Lageplan als „öffentliche Verkehrsfläche“ bezeichnet. Die Bestandsbebauung auf dem Nachbargrundstück besitzt sechs Geschosse, wobei das oberste Geschoss als vollständig verglastes und zurückgesetztes Terrassengeschoss ausgestaltet ist. Es weist zum Baugrundstück hin mittig ein Flachdach auf, zu den nordwestlichen und südwestlichen Gebäudeecken steigt die Wandhöhe im Vergleich zum Mittelteil aufgrund der dort flügelartigen Dachform an.
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Vergleiche folgenden Auszug aus dem (der Änderungsgenehmigung vom … April 2024 zugrunde liegenden) Plan (Lageplan), Maßstab 1 : 1000, der eine Darstellung des Vorhabens und der benachbarten Bebauung enthält (aufgrund Einscannens möglicherweise nicht mehr maßstabsgetreu; angegebene Adressdaten im Baukörper unkenntlich gemacht):
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Sowohl das Bau- als auch das Nachbargrundstück liegen innerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans mit Grünordnung Nr. 1756 „M. rstraße, S. straße, G. straße, L. straße, S. straße, K. platz, Sc. straße, B2.platz und B. straße“, der zum einen ein Kerngebiet festsetzt (Planteil sowie § 2 der textlichen Festsetzungen) und zum anderen bestimmt, dass Vergnügungsstätten lediglich ausnahmsweise und unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zulässig sein sollen (§§ 3, 4 der textlichen Festsetzungen). Mittels einfachen, übergeleiteten Baulinienplans ist ferner für das Baugrundstück umlaufend entlang aller Grundstücksgrenzen eine Baulinie festgesetzt.
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Unter dem ... Oktober 2019 erteilte die Beklagte der Beigeladenen auf deren vorherigen Antrag hin einen Vorbescheid für den „Neubau eines Parkhauses mit Büronutzung, Gastronomie und Mobility-Hub“ nach Plan-Nr. 2019-6595. Darin wurde die planungsrechtliche Zulässigkeit eines Parkhauses (Frage 1a), einer Gastronomie im Erdgeschoss (Frage 1b) und einer Büronutzung in den Obergeschossen 4 bis 6 (Frage 1c) von der Beklagten bejaht und auf verschiedene Vorgaben und Einschränkungen zum Lärmschutz hingewiesen. Ebenfalls bejaht wurde die Frage (2a nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und hinsichtlich der Bauweise; hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche wurden Befreiungen gem. § 31 Abs. 2 BauGB wegen Zurückbleibens des 5. und 6. Obergeschosses hinter der festgesetzten Baulinie in Aussicht gestellt (Frage 2 b). Ferner wurden – Frage 3 – verschiedene Abweichungen von den Abstandsflächen in Aussicht gestellt, darunter auch eine „Abweichung wegen Überschreitung der Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche mit Abstandsflächen nach Osten gegenüber Flst.Nr. 6952“ (Frage 3 d). Ausweislich der in den Behördenakten enthaltenen Postzustellungsurkunden wurde der Vorbescheid der Beigeladenen am … Oktober 2019 und eine Nachbarausfertigung der Klägerin am … Oktober 2019 zugestellt. Die Klägerin hat den Vorbescheid nicht angefochten.
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Auf Antrag vom … Juni 2021 (Plan-Nr. 2021- …*) und Änderungsanträge vom ... September 2021 (Plan-Nr. 2021- …*) und ... Oktober 2021 (Plan-Nr. 2021- … jeweils Eingang bei der Beklagten) hin wurde der Beigeladenen mit Bescheid vom … Mai 2022 eine Baugenehmigung für den Neubau eines Parkhauses mit unterirdischer Garage, Büro- und Gewerbenutzung, Gastronomie und Mobility Hub erteilt.
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Nach den genehmigten Bauvorlagen soll der 90,50 m x 29,75 m umfassende, umlaufend grenzständige Baukörper fünf Untergeschosse und oberirdisch sechs Geschosse (Höhenkote Oberkante Attika 3. Obergeschoss: 15,84 m, Attika 5. Obergeschoss: 22,92 m; Höhenkote Oberkante Absturzsicherung 23,69 m) aufweisen, wobei das vierte und fünfte Obergeschoss als zurückgesetztes Terrassengeschoss ausgestaltet werden sollen. Auf dem Flachdach des fünften Obergeschosses sind – in den Bauvorlagen als „Obergeschoss 6“ bezeichnet – zwei Aufbauten mit Technikräumen und Aufzugüberfahrt (je 5,685 m x 21,46 m, Höhenkote Oberkante Attika: 26,37 m), zwei berankte Pergolen, mittig das Oberlicht eines Lichthofs sowie ein Dachgarten vorgesehen. Der Abstand des östlichen Technikraums zur östlichen Grundstücksgrenze/dortigen Gebäudeaußenkante der Geschosse EG bis 3. OG beträgt ca. 12 m. Der Rücksprung der Terrassengeschosse von der südlichen und östlichen Gebäudeaußenwand beträgt etwa 3,10 m, vor die Fassade sollen Holzpaneele mit ca. 2,6 m Abstand zur östlichen bzw. südlichen Gebäudeaußenwand gehängt werden.
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Als Nutzung ist in den Untergeschossen 3 bis 5 ein Parksystem vorgesehen, im Untergeschoss 2 sollen sich Technikräume, eine Lüftungszentrale, eine Gastroküche, eine Garderobe und ein Kultursalon (199,48 m²) mit Bühne (41,6 m²) und Bar (30,10 m²) für maximal 200 Besucher befinden. Im Untergeschoss 1 sollen Eingabekabinen für das Parken untergebracht werden, das Erdgeschoss („Mobility-Stützpunkt“) soll Parkhauslobby, diverse Mobilitätsangebote (Carsharingangebote, Leihräder, weitere Mobilitätsangebote wie E-Scooter, Fahrradabstellplätze), ein Café im südwestlichen Gebäudeteil und einen Fahrradladen mit kleiner Werkstatt zur Wartung beherbergen. Im ersten bis fünften Obergeschoss soll Büronutzung stattfinden. Auf der Ost- und Südseite des Gebäudes sind Arkadengänge geplant, die Zufahrtsrampe zur Verteilebene des Automatikparksystems im ersten Untergeschoss soll an der Nordwestecke des geplanten Baukörpers liegen und die Zufahrt über die Z. straße, die Ausfahrt über die auf der Nordseite gelegene Rampe auf die Sch. straße erfolgen. Über diese ist auch die Anlieferung vorgesehen, wobei einer der Anlieferungsbereiche an der Nordostecke des Baukörpers (mit Ausfahrt zur öffentlichen Verkehrsfläche FlNr.6945/1), der andere auf der Nordseite in einer Anlieferungstasche liegen soll.
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Die Baugenehmigung enthält neben einer auf § 31 Abs. 2 BauGB gestützten Befreiung für das Abrücken der beiden Terrassengeschosse und des Technikgeschosses von der Baulinie zwei Abweichungen von abstandsflächenrechtlichen Vorschriften, darunter folgende zum Grundstück der Klägerin hin:
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„3) Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen zum Nachbargrundstück FlNr. 6952 durch die von der Grundstücksgrenze zurückspringenden Geschosse.
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Begründung: Die Abweichung ist zu erteilen, da das Vorhaben planungsrechtlich zulässig ist und die Schutzziele der Abstandsflächen – insbesondere die ausreichende Belichtung, Belüftung, Besonnung – auch bei Erteilung der Abweichung sowohl auf dem Baugrundstück als auch auf dem betroffenen Nachbargrundstück noch erreicht werden. Öffentliche Belange stehen der Abweichung nicht entgegen. Nachbarliche Belange sind aus Sicht der Lokalbaukommission insofern nicht verletzt, als dass die Abstandsflächen zwar die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche überschreitet, aber noch deutlich innerhalb der öffentlichen Verkehrsfläche liegen; eine unzumutbare Beeinträchtigung der auf dem Nachbargrundstück vorhandenen Bebauung ist damit aus Sicht der Lokalbaukommission nicht gegeben. Aus Sicht der Lokalbaukommission überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Ausschöpfung des planungsrechtlich zulässigen Baurechts das Interesse der Nachbarn. Eine Abweichung wegen Überschreitens der Straßenmitte durch die Abstandsflächen wurde bereits mit Vorbescheid vom …10.2019 in Aussicht gestellt.“
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Darüber hinaus wurden in die Baugenehmigung umfangreiche Auflagen aufgenommen, insbesondere zum Immissionsschutz (u.a. Festlegung von Immissionsrichtwerten). Nach der Auflage 3 b) soll ferner eine Nutzung des Kultursalons als Diskothek o.ä. entsprechend der Betriebsbeschreibung vom ... Oktober 2021 nicht gestattet sein.
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Eine Nachbarausfertigung der Baugenehmigung wurde der Klägerin ausweislich der in den Behördenakten enthaltenen Postzustellungsurkunde am … Mai 2022 zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2022, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, ließ die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht München erheben und zunächst beantragen, die Baugenehmigung vom … Mai 2022 aufzuheben.
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Mit Bescheid vom … April 2024, der Klägerin zugestellt am … April 2024, erteilte die Beklagte der Beigeladenen zu deren Antrag vom ... April 2022 (Eingang bei der Beklagten) eine Änderungsgenehmigung nach Plan-Nr. 2022- …, deren Nachbarausfertigung der Klägerin am … April 2024 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt wurde. Die Genehmigung enthält verschiedene Auflagen, darunter zum Immissionsschutz (Ziffer 4), insbesondere die Festsetzung einzuhaltender Immissionsrichtwertanteile, sowie folgende Auflage Ziffer1:
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„1. Die Auflagen, Bedingungen, Befreiungen, Abweichungen und Ausnahmen des Genehmigungsbescheides vom …05.2022 mit Ausnahme der Auflagen Nr. 1, 2, 6, 8a und 9 gelten weiter.“
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Im Vergleich zur vorherigen Baugenehmigung wurden folgende Änderungen vorgenommen (Aufzählung nicht abschließend): Erhöhung der Oberkante Attika des dritten Obergeschosses um 30 cm und Erhöhung der Oberkante der Absturzsicherung über dem dritten und fünften Obergeschoss um 4 cm (bei sonst gleichbleibender Höhenlage der Attika des fünften Obergeschosses sowie der Höhe des Flachdachs des „Technikgeschosses“), Reduzierung der Lamellenhöhe vor dem vierten und fünften Obergeschoss, Dachgarten über dem fünften Obergeschoss nunmehr mit Freischankfläche der im Erdgeschoss untergebrachten Gastronomie sowie Nutzung als Aufenthaltsfläche für Mitarbeiter, Veränderung der Maße der Technikräume (statt bisher je 5,685 m x 21,46 m nunmehr 6,95 m x 20,43 m bzw. 23,43 m) und größerer Rücksprung von der westlichen bzw. östlichen Grundstücksgrenze/Gebäudeaußenkante des Erdgeschosses bis drittes Obergeschoss (Rückversatz zur Klägerin hin: ca. 20,7 m (abgegriffen aus Grundriss „Obergeschoss 6“), dafür Pergola östlich des östlichen Technikraums (Abstand zur östlichen Grundstücksgrenze/Gebäudeaußenkante Erdgeschoss bis drittes Obergeschoss: ca. 8,70 m, abgegriffen aus Grundriss „Obergeschoss 6“), veränderte Nutzungsaufteilungen, z.B. im Erdgeschoss, Verkleinerung der Fläche des Kultursalons mit veränderten Betriebszeiten).
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Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 23. April 2024, eingegangen bei Gericht am gleichen Tag, ließ die Klägerin den Änderungsbescheid in das anhängige Klageverfahren einbeziehen. Sie beantragt zuletzt,
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Die Baugenehmigung der Landeshauptstadt München (Lokalbaukommission) vom … Mai 2022 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom … April 2024 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde – zusammengefasst – im Wesentlichen geltend gemacht, die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten. Zunächst entfalte der Vorbescheid vom ... Oktober 2019 wegen wesentlicher Abweichungen zwischen dem mit dem Vorbescheid genehmigten Vorhaben und dem nunmehr streitgegenständlichen, insbesondere hinsichtlich der Kubatur bzw. nunmehr zugelassenen größeren Wandhöhe des Gebäudes, keine Bindungswirkung. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unzulässig, da es rücksichtslos sei. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots könne nach der Rechtsprechung in besonders gelagerten Fällen gegeben sein, wenn ein Gebäude sich aufgrund seiner Höhenentwicklung nicht in den durch die Umgebungsbebauung vorgegebenen Rahmen einfüge, in geringem Abstand zu benachbarten Gebäude errichtet sei und zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der auch bauplanungsrechtlich zu berücksichtigenden Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung führe. Das streitgegenständliche Vorhaben füge sich nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Es verlasse mit seiner Höhenentwicklung den Umgebungsrahmen deutlich, was auch dann gelte, wenn man nicht auf das Technikgeschoss abstelle. Seine Gebäudehöhe, bezogen auf die Höhe des Geländers über dem fünften Obergeschoss lasse sich aus der Umgebung nicht ableiten – die Wandhöhe der von der Beigeladenen als Vorbild herangezogene Bebauung auf dem Grundstück FlNr. 6932 betrage 23,60 m, auf dem Grundstück FlNr. 6955 23,50 m. Die Bebauung auf dem Grundstück FlNr. 6927 mit einer Wandhöhe von 30,05 m könne nicht als Bezugsfall herangezogen werden, weil das Gebäude mit etwa 2.000 m² eine deutlich geringere Grundfläche als das geplante Vorhaben aufweise. Zudem handle es sich um einen Fremdkörper, weil es beinahe 7 m höher sei als die sonst vorzufindende Bebauung. Das Vorhaben führe zu städtebaulichen Spannungen, weil es Referenzfall für entsprechende Bebauung in der Umgebung und damit eine erhebliche Nachverdichtung wäre, die unter Berücksichtigung der ohnehin sehr dicht bebauten innerstädtischen Verhältnisse erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Belichtung der Bebauung hätte, das klägerische Gebäude unzumutbar verschatte und gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse beeinträchtigte.
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Darüber hinaus halte das Vorhaben die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein und verstoße damit gegen Art. 6 BayBO. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 Bayerische Bauordnung sei für die an der Baulinie situierten Außenwände nicht einschlägig. Für dessen Anwendbarkeit reiche es nicht aus, dass das Vorhaben allein nach der überbaubaren Grundstücksfläche zulässig sei; erforderlich sei vielmehr, dass das Vorhaben hinsichtlich aller abstandsrelevanten Faktoren insgesamt planungsrechtlich zulässig sei. Dies sei hier mit Blick auf die Höhenentwicklung jedoch nicht der Fall. Dass das streitgegenständliche Vorhaben die erforderliche Abstandsfläche auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Bayerische Bauordnung nicht einhalte – dies gelte bereits für die Außenwand bis zur Attika des 3. Obergeschosses – stehe außer Frage. Eine Abweichung sei insoweit nicht erteilt worden. Ferner sei auch die für die von der Baulinie zurückgesetzten Geschosse (4. bis 6. Obergeschoss) erteilte Abweichung rechtsfehlerhaft, da sie mit den abstandsflächenrechtlich geschützten Belangen der Klägerin nicht vereinbar sei. Das Vorhaben führe dazu, dass das Gebäude der Klägerin – bei Zugrundlegen des für die Wahrung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse üblichen Lichteinfallswinkels von 45 Grad – auf der für die Belichtung der Räumlichkeiten wesentlichen Westseite bis etwa zur Mitte des zweiten Obergeschosses vollständig verschattet werde. Auch wenn die Einhaltung des Lichteinfallswinkels von 45 Grad in dicht bebauten innerstädtischen Bereichen möglicherweise nicht durchgehend gefordert werden könne, käme es gleichwohl zu einer erheblichen Beeinträchtigung der abstandsflächenrechtlich geschützten Belange der Klägerin, wenn von der Westfassade ihres Gebäudes rund 2/5 der auf Belichtung von Westen ausgerichteten Büroflächen im Gebäude verschattet würden. Die Erteilung der Abweichung sei auch mit öffentlichen Belangen nicht vereinbar. Die planungsrechtliche Unzulässigkeit des Vorhabens sei als öffentlicher Belang im Sinne des Art. 63 Abs. 1 BayBO zu berücksichtigen. Bei der Berücksichtigung der abstandsflächenrechtlich geschützten nachbarlichen Belange komme es – anders als im Rahmen des Rücksichtnahmegebots – auch nicht darauf an, ob hinsichtlich der Verschattung Mindestanforderungen eingehalten würden, da bei der Abweichung von Abstandsflächenvorschriften die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Abstandsvorschriften und die dadurch bewirkte Qualität an Belichtung und Besonnung zugrunde zu legen sei. Insofern stehe fest, dass die Belichtung und Besonnung des Gebäudes der Klägerin signifikant zu ihrem Nachteil eingeschränkt werde. Zudem sei die erteilte Abweichung auch ermessensfehlerhaft. Die Beklagte habe bei der Interessenabwägung maßgeblich auf die – tatsächlich jedoch nicht gegebene – planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens abgestellt. Dem Einwand der Klägerin hinsichtlich der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften stehe schließlich auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch) nicht entgegen. Von einer in etwa gleichwertigen beiderseitigen Abweichung könne weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht die Rede sein.
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Die Beklagte beantragt
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Die Genehmigung vom … Mai 2022 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom … April 2024 verletze keine Nachbarrechte der Klägerin. Das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Bau- und Nachbargrundstück lägen im dicht bebauten innerstädtischen Bereich. Das geplante Vorhaben füge sich hinsichtlich Geschossigkeit und Kubatur in vorgegebenen Rahmen der Bebauung ein. Von einer erdrückenden und einmauernden Wirkung könne in der Situation, in der sämtliche Gebäude in einer ähnlichen Höhenentwicklung und dichten Bebauungsstruktur umgesetzt seien, nicht ausgegangen werden. Auch das klägerische Gebäude nutze das eigene Baurecht massiv aus. Infolge des vorgesehenen Rücksprungs in den oberen Geschossen nehme die Planung gegenüber dem klägerischen Anwesen Rücksicht und ermögliche so eine bessere Belichtung. Eine Einhaltung des 45-Grad-Lichteinfallwinkels auch in unteren Geschossen sei hier im dicht bebauten innerstädtischen Bereich bereits im Bestand nicht möglich. Zudem verbleibe auch weiterhin eine ausreichende Belichtung und Belüftung des klägerischen Gebäudes. Eine noch im zumutbaren Rahmen liegende Verschlechterung der Belichtungssituation ergebe aus westlicher Richtung nur (spät-)nachmittags; zudem trage auch das klägerische Gebäude durch seine eigene Situierung selbst zur Verschattungssituation erheblich bei. Qualitativ und quantitativ seien die Beeinträchtigungen vergleichbar, zumal das Bauliniengefüge grundsätzlich hier einen an der vorderen Grundstücksgrenze durchgehenden Anbau vorsehe. Qualitativ sei die gegenseitige Verschattung wegen der Lage im äußerst dicht bebauten Innenstadtbereich nicht unzumutbar. Auch eine Verletzung des Abstandsflächenrechts sei nicht gegeben. Das Vorhaben liege in einem festgesetzten Kerngebiet. Soweit das Vorhaben auf der Baulinie errichtet werde, fielen nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 Bayerische Bauordnung keine Abstandsflächen an. Die für die zurückspringenden Bauteile erteilten Abweichungen gem. Art. 6, Art. 63 Bayerische Bauordnung seien rechtmäßig. Eine unzumutbare Beeinträchtigung des Klägergrundstücks hinsichtlich der Belichtung oder der Belüftung sei nicht gegeben. Die Abstandsfläche falle nur in geringem Maß über die Straßenmitte. Die öffentlichen Interessen sowie die nachbarlichen Belange stünden in Abwägung mit den Bauherrninteressen der Erteilung der Abweichung nicht entgegen.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls
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Die Klägerin sei mit ihrem Vorbringen bereits präkludiert, da diesem die Bindungswirkung des bestandskräftigen Vorbescheids vom … Oktober 2019 entgegenstehe. Unabhängig davon sei das Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig. Insbesondere füge es sich hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in die nähere Umgebung ein, weil sich dort Gebäude befänden, die etwa gleich hoch oder sogar höher seien, wie z.B. das Gebäude auf den Grundstücken Fl.Nrn. 6927 (Wandhöhe 30,05 m), 6932 (Wandhöhe 23,60 m) oder 6955 (Wandhöhe 23,50 m). Eine Rosinenpickerei finde nicht statt, da die Grundfläche des Gebäudes auf der FlNr. 6927 schätzungsweise 2.500 bis 2.700 m² betrage. Bei diesem handle es sich nicht um einen Fremdkörper. Unabhängig davon würden städtebaulichen Spannungen weder begründet noch erhöht. Die Höhenabweichung sei marginal und habe keine Nachverdichtung zur Folge, sondern stärke das Baurecht der Nachbarn. Auch sei die Insellage des Vorhabens zu berücksichtigen. Die Sicherstellung einer ausreichenden Belichtung sei kein bodenrechtlicher Belang, sondern dem Bauordnungsrecht zuzurechnen. Eine Beeinträchtigung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse drohe nicht. Eine Wohnnutzung sei im Kerngebiet nur eingeschränkt zulässig und nehme keine schützenswerte Rechtsposition ein. An die gesunden Arbeitsverhältnisse seien im Kerngebiet keine hohen Anforderungen zu stellen. Schließlich könne sich die Klägerin auf ein etwaiges fehlendes Einfügen nach dem Maß der Nutzung mangels Drittschutzes auch nicht berufen. Das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt, das Vorhaben entfalte weder erdrückende Wirkung noch verursache es eine unzumutbare Mehrverschattung.
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Das Vorhaben sei darüber hinaus auch mit dem Bauordnungsrecht vereinbar. Ein Verstoß gegen Abstandsflächenrecht liege nicht vor; jedenfalls könne sich die Klägerin hierauf auch nicht berufen (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch), da sie selbst die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte. Soweit die Außenwände auf der Baulinie errichtet würden, komme Art. 6 Abs. 1 Satz 3 Bayerische Bauordnung zur Anwendung. Das Vorhaben sei planungsrechtlich zulässig. Zudem setzte die Vorschrift nach Wortlaut und Systematik nicht die (gesamte) planungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens voraus; es komme lediglich darauf an, ob der Grenzanbau planungsrechtlich geboten sei. Die von der Klägerin zitierten Entscheidungen bezögen sich nur auf die Bauweise. Hinsichtlich der zurückspringenden Geschosse sei rechtmäßig und ermessensgerecht eine Abweichung erteilt worden, insbesondere seien die öffentlich-rechtlich geschützten Belange der Klägerin ausreichend gewürdigt worden und nicht verletzt. Der 45-Grad-Winkel stelle keine in jedem Fall einzuhaltende Mindestgrenze dar. Eine ausreichende Belichtung des klägerischen Gebäudes von Norden und Süden sei geben. Hierfür spreche auch die vorgelegte Verschattungsstudie. Die – der Klägerin zumutbare – Mehrverschattung sei nur hinsichtlich der oberen Geschosse festzustellen, die unteren Stockwerke seien bereits durch die vorherige Bestandsbebauung auf dem Baugrundstück innenstadttypisch verschattet gewesen. Zudem springe das geplante Vorhaben zugunsten der Klägerin in den oberen Geschossen zurück.
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Mit Beschluss vom 20. Februar 2024 (Az. 504 IN 41/24) ordnete das Amtsgericht Düsseldorf das vorläufige Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beigeladenen an und bestimmte, dass Verfügungen der Beigeladenen als Schuldnerin nur mit Zustimmung des – gleichzeitig bestellten – vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind.
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Das Gericht hat am 11. November 2024 Beweis durch Augenscheinseinnahme erhoben und eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Auf die Protokolle des Augenscheins und der mündlichen Verhandlung wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, das schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Der Beschluss des Amtsgerichts Düsseldorf vom 20. Februar 2024, Az. 504 IN 41/24, über die Anordnung eines vorläufigen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beigeladenen sowie eines Zustimmungsvorbehalts des zugleich bestellten vorläufigen Insolvenzverwalters hat keine prozessualen Auswirkungen auf das hiesige verwaltungsgerichtliche Verfahren. Weder ist das Gericht gem. § 173 Satz 1 VwGO, § 240 Satz 2 ZPO (wegen Prozessunterbrechung) gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden noch ist die Prozessführungsbefugnis der Beigeladenen auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergegangen.
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§ 240 Satz 2 ZPO setzt voraus, dass die Verwaltungs- oder Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf einen vorläufigen Insolvenzverwalter übergegangen ist. Dies ist dann der Fall, wenn ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird (§ 22 Abs. 1 Satz 1, § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO; vgl. dazu: BGH, Versäumnisurteil v. 16.5.2013 – IX ZR 332/12 – juris Ls, Rn. 12 m.w.N.; U.v. 21.6.1999 – II ZR 70/98 – juris Ls 1, Rn. 4; Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 240 Rn. 5) oder bestimmt wurde, dass die Prozessführungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergehen soll (vgl. dazu: BGH, Versäumnisurteil v. 16.5.2013 – IX ZR 332/12 – juris Ls, Rn. 16).
34
Vorliegend hat das Amtsgericht Düsseldorf jedoch kein allgemeines Verfügungsverbot i.S.d. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO angeordnet, sondern einen Zustimmungsvorbehalt nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO, der weder zur einer Prozessunterbrechung noch zu einem Übergang der Prozessführungsbefugnis der Beigeladenen auf den vorläufigen Insolvenzverwalter (vgl. dazu Kopp in: BeckOK Insolvenzrecht, 36. Edition, Stand 15.7.2024, § 21 Rn. 39; § 22 Rn. 107) führt.
35
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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1. Streitgegenstand ist nach Einbeziehung der Änderungsgenehmigung durch Schriftsatz der Klagepartei vom 23. April 2024 die Baugenehmigung vom … Mai 2022 in der Fassung der Änderungsgenehmigung vom … April 2024.
37
Soweit für ein bereits genehmigtes Vorhaben eine weitere Genehmigung mit inhaltlichen Änderungen erteilt wird, kann es sich abhängig vom Regelungsinhalt entweder um eine neue selbstständige Baugenehmigung oder lediglich um eine die bestehende Genehmigung modifizierende Regelung (Tektur- oder Änderungsgenehmigung) handeln. Wenn es sich um eine unselbstständige Änderung handelt, die mit der Ursprungsgenehmigung eine untrennbare Einheit bildet, hat die Ursprungsgenehmigung keinen eigenständigen Regelungsgehalt mehr.
38
Für die Beurteilung, ob die neue Baugenehmigung eine selbstständige Genehmigung für ein alternatives Bauvorhaben oder lediglich eine Modifizierung der ursprünglichen Baugenehmigung darstellt, kommt es maßgeblich auf den Regelungsinhalt der zuletzt erteilten Baugenehmigung an (vgl. OVG RhPf, B.v. 26.7.2017 – 8 B 11235/17 – juris Rn. 35 m.w.N.). Vorliegend handelt es sich bei der Genehmigung vom … April 2024 um eine Modifizierung der ursprünglichen Baugenehmigung vom … Mai 2022, die mit dieser eine untrennbare Einheit bildet. Dies ergibt sich daraus, dass die Beigeladene zum einen ausdrücklich einen Änderungsantrag zu dem bereits genehmigten Vorhaben „Neubau eines Parkhauses mit unterirdischer Garage, Büro- und Gewerbenutzung, Gastronomie und Mobility Hub“ gestellt hat. Zum anderen nimmt der Bescheid vom … April 2024 ausdrücklich auf die Baugenehmigung vom … Mai 2022 Bezug und bestimmt, dass die Auflagen, Bedingungen, Befreiungen, Abweichungen und Ausnahmen der Ursprungsgenehmigung weitergelten mit Ausnahme der Auflagen 1, 2, 6, 8a und 9, für die zum Teil Neuregelungen getroffen werden. Die Genehmigungsfrage stellt sich insgesamt nicht neu. Ein entgegenstehender Wille der Bauherrin, das geänderte Vorhaben lediglich alternativ zu der bereits erteilten Genehmigung zu beantragen, ergibt sich aus den Behördenakten nicht.
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2. Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom … Mai 2022 in der Fassung der Änderungsgenehmigung vom … April 2024 verstößt nicht gegen im vorliegend einschlägigen Genehmigungsverfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m Art. 60 Satz 1 BayBO zu prüfende, (auch) die Klägerin schützende öffentlich-rechtliche Vorschriften (§ 113 Abs. 1 Satz 1wGO). Aus diesem Grund kann offenbleiben, ob die Klägerin bereits wegen des – auch ihr gegenüber bestandskräftig gewordenen – Vorbescheids vom ... Oktober 2019 (Plan-Nr. 2019. *) gehindert ist, Verstöße gegen bauplanungsrechtliche Vorgaben oder gegen die erteilte Abweichung von abstandsflächenrechtlichen Vorschriften zu ihrem Grundstück hin geltend zu machen (zur Prüfung im Rahmen der Begründetheit: vgl. BVerwG, U.v. 17.3.1989 – 4 C 14/85 – DVBl 1989, 673, juris Rn. 15).
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit auf der Verletzung von Normen beruht, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren und zumindest auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch den angefochtenen Bescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden.
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2.1. Das Vorhaben, dessen bauplanungsrechtliche Zulässigkeit sich im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung sowie das vorhandene Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 Baugesetzbuch i.V.m. den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans Nr. 1756 der Beklagten sowie des einfachen, übergeleiteten Baulinienplans und – im Übrigen – nach § 34 BauGB richtet, verletzt keine (auch) die Klägerin schützenden Vorschriften des Bauplanungsrechts. Insbesondere verhilft der Vortrag der Klagepartei, das Vorhaben halte sich hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung nicht innerhalb des durch die nähere Umgebung vorgegebenen Rahmens und begründe städtebauliche Spannungen bzw. verletze das Gebot der Rücksichtnahme, der Klage nicht zum Erfolg.
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2.1.1. Das in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene Einfügensgebot dient (mit Ausnahme des – sich im vorliegenden Fall ohnehin und vorrangig nach den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans richtenden – Zulassungskriteriums der Art der baulichen Nutzung, soweit die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 BauGB vorliegen) im Grundsatz nur allgemein der städtebaulichen Ordnung und nicht auch dem Schutz der Nachbarn. Nachbarrechte werden durch einen Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aber dann verletzt, wenn das Vorhaben unabhängig davon, ob es den Rahmen einhält oder nicht, sich nicht einfügt, weil mit ihm unzumutbare Auswirkungen auf ein Nachbargrundstück verbunden sind und es daher gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – BauR 1986, 542, B.v. 20.1.1992 – 4 B 229/91- juris und B.v. 11.1.1999 – 4 B 129/98 – BauR 1999, 615). Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – ZfBR 2014, 257 m.w.N.). Drittschutz wird im unbeplanten Innenbereich zudem nach § 34 Abs. 2 BauGB iVm § 15 Abs. 1 BauNVO gewährt. Darauf, ob sich das Bauvorhaben objektiv in die maßgebliche Umgebung einfügt, kommt es darüber hinaus nicht an.
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2.1.2. Unbeschadet dessen fügt sich das Bauvorhaben jedoch auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in die Eigenart der maßgeblichen näheren Umgebung ein.
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Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ein rahmenwahrendes Vorhaben kann ausnahmsweise unzulässig sein, wenn es nicht die gebotene Rücksicht auf die Bebauung in der Nachbarschaft nimmt. Umgekehrt fügt sich ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ausnahmsweise ein, wenn es bodenrechtlich beachtliche Spannungen weder herbeiführt noch erhöht (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369, juris Rn. 47; U.v. 15.12.1994 – 4 C 13.93 – DVBl 1995, 515, juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 15 ZB 20.280 – juris Rn. 7; B.v. 14.2.2018 – 1 CS 17.2496 – juris Rn. 13; ThürOVG, U.v. 26.4.2017 – 1 KO 347/14 – DVBl 2017, 1576, juris Rn. 40). Die Betrachtung muss auf das Wesentliche zurückgeführt und alles außer Acht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr als Fremdkörper erscheint (BVerwG, B.v. 22.9.2016 – 4 B 23.16 – BRS 84 Nr. 74, juris Rn. 6).
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Maßgeblicher Beurteilungsrahmen für das Vorhaben ist die Eigenart der näheren Umgebung. Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, inwieweit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9/77 – BVerwGE 55,369, juris Rn. 33; U.v. 8.12.2016 – 4 C 7/15 – BVerwGE 157, 1, juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m.w.N.; B.v. 30.1.2013 – 2 ZB 12.198 – juris Rn. 3; B.v. 7.2.2020 – 15 CS 19.2013 – juris Rn. 30; OVG NW, U.v. 1.3.2017 – 2 A 46/16 – juris Rn. 35 m.w.N.). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich dabei nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Diese kann so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74.03 – juris Rn. 2; OVG NW, U.v. 6.3.2015 – 7 A 1777/13 – juris Rn. 32). Der Grenzverlauf der näheren Umgebung ist mithin nicht notwendig davon abhängig, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennlinie (Straße, Schienenstrang, Gewässerlauf, Geländekante etc.) entkoppelt ist (BVerwG, B.v. 28.8.2003, a.a.O. Rn. 2 m.w.N.). Neben der Perspektive des stehenden Menschen kann es für die Feststellung der maßgeblichen näheren Umgebung auch auf den „Blick von oben“ (Lagepläne, Luftbilder u. ä.) ankommen (BVerwG, B.v. 13. 5. 2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246, juris Rn. 12 f.; BayVGH, B.v. 7.2.2020 – 15 CS 19.2013 – juris Rn. 30; Mitschang/Reidt im Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Auflage 2022, § 34 Rn. 21). Die nähere Umgebung ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (vgl. BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – ZfBR 1998, 164, juris Rn. 5; B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – ZfBR 2014, 574, juris Rn. 7; U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – BVerwGE 157, 1, juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19; B.v. 14.2.2018 – 1 CS 17.2496 – juris Rn. 13). Bei dem Nutzungsmaß ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart (BayVGH, B.v. 16.12.2009 – 1 CS 09.1774 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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Gemessen an diesen Maßstäben und unter Würdigung der konkreten örtlichen Verhältnisse, der in den Akten befindlichen Lagepläne und über das Internet zugänglichen Luftbilder („google maps“) ist als maßgeblicher Bereich für die Beurteilung des Einfügens nach dem Maß der baulichen Nutzung vorliegend die Bebauung des Gevierts südlich der B. straße, westlich der S. straße, nördlich und südlich der A. -K. -Straße sowie beidseits der Z. straße heranzuziehen. Weder der Z. - noch der A. -K. -Straße kommt aus sich heraus trennende Wirkung zu; insoweit konnte im gerichtlichen Augenschein eine gegenseitige Prägung der beidseitigen Bebauung wahrgenommen werden.
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Das Gericht ist im Rahmen seines Augenscheins zu der Überzeugung gelangt, dass sich die für den Parameter des Nutzungsmaßes maßgebliche nähere Umgebung nicht nur auf die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks, also das Baugrundstück selbst und die jeweils gegenüberliegende Seite der Sch. -, Z. - und der A. -K. -Straße sowie der öffentlichen Verkehrsfläche FlNr. 6945/1, erstreckt, sondern diese insbesondere und aufgrund der mit in die Beurteilung einzubeziehenden, wechselseitigen Auswirkungen im Verhältnis von Vorhaben und Umgebung bis zur S. - und B. straße reicht. Insoweit hat die Kammer eine gegenseitige Prägung zwischen dem Baugrundstück und der großmaßstäblichen, dichten und sehr heterogenen Bebauung entlang der B. - und S. straße wahrgenommen, zu der, betrachtet von der A. -K. -Straße aus, auch eine Sichtbeziehung besteht. Ein Aneinandergrenzen jeweils einheitlich geprägter Komplexe mit voneinander verschiedenen Bebauungsstrukturen konnte nicht festgestellt werden, insbesondere nicht zwischen der straßenbegleitenden Bebauung entlang der B. - und S. straße und der Bebauung im Inneren des Gevierts. Insoweit stellt sich weder die straßenseitige Bebauung noch die Bebauung im Geviertsinnern als in sich homogen dar. Straßenbegleitend sind entlang der Südseite der B. straße zwischen S. - und Z. straße nicht nur Baulichkeiten mit hoher Geschossigkeit bzw. Höhenentwicklung (B. straße 1, B. staße 3 und 5, B. straße 7, B. straße 13) vorzufinden, sondern mit den Gebäuden B. straße 7a und 9 auch Bauten mit deutlicher niedrigerer Wandhöhe und Geschossigkeit. Auch im rückwärtigen Blockinnenbereich ist die Situation inhomogen. Geschossigkeiten und Wandhöhen sind hier uneinheitlich ausgestaltet und reichen bis zu fünf Geschossen zuzüglich Terrassengeschoss bzw. ausgebautem Dachgeschoss (z.B. Gebäude der Klägerin, Bebauung auf Grundstück FlNrn. 6956, 6955 bzw. auf dem Grundstück FlNr.6932 grenzständig zum Grundstück FlNr. 6931/2 hin) bzw. bis zu 23,60 m (von Nord nach Süd verlaufender Bauteil auf dem Grundstück FlNr. 6932). Insofern lässt sich eine Zäsur des Bebauungscharakters nicht feststellen.
48
Der genehmigte Baukörper wahrt hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung den durch die Eigenart der näheren Umgebung bestimmten Rahmen im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB und lässt es insoweit auch nicht an der gebotenen Rücksichtnahme gegenüber der vorhandenen Bebauung fehlen.
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Ein Vorhaben fügt sich nach dem Maß der baulichen Nutzung ein, wenn es in der näheren Umgebung Referenzobjekte gibt, die bei einer wertenden Gesamtbetrachtung von Grundfläche, Geschosszahl und Höhe, bei offener Bebauung auch nach dem Verhältnis zur Freifläche, vergleichbar sind, wobei bedeutsam nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts solche Maße sind, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung leicht in Beziehung zueinander setzen lassen. Ihre absolute Größe nach Grundfläche, Geschosszahl und Höhe, bei offener Bebauung zusätzlich auch ihr Verhältnis zur Freifläche, prägen das Bild der maßgeblichen Umgebung und bieten sich deshalb vorrangig als Bezugsgrößen zur Ermittlung des Maßes der baulichen Nutzung an (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – BVerwGE 157, 1, juris Rn. 17 m.w.N). Auf die Grundstücksgrenzen und die Größe der Grundstücke kommt es bei Anwendung des § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht an (BVerwG, B.v. 28.9.1988 – 4 B 175/88 – ZfBR 1989, 39, juris Ls 1, Rn. 4; B.v. 21.11.1980 – 4 B 142/80 – Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr 78, juris Rn. 3).
50
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält sich das Vorhaben innerhalb des – sehr unterschiedlichen – Rahmens der in der maßgeblichen näheren Umgebung liegenden Bestandsbebauung. Dabei kann dahinstehen, ob dem auf dem Grundstück FlNr. 6927 vorhandenen Gebäude (ehemaliges Warenhaus „Kaufhof“) prägender Charakter zukommt oder es sich insoweit um einen aus der Beurteilung auszuscheidenden Fremdkörper handelt (vgl. zum Ganzen etwa: BVerwG, U.v. 15.2.1990 – 4 C 23.86 – BVerwGE 84, 322, juris Ls 1, Rn. 11 ff. m.w.N.; U.v. 7.12.2006 – 4 C 11/05 – BVerwGE 127, 231, juris Rn. 9; U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – BVerwGE 157, 1, juris Rn. 17 ff. m.w.N.).
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Das Gericht konnte sich beim Augenschein und anhand der beigezogenen Unterlagen davon überzeugen, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben jedenfalls in der nördlich angrenzenden Bebauung zwischen der Sch. straße im Süden und der B. straße im Norden insbesondere wegen der Gebäude auf FlNr. 6932 („Mathäser Filmpalast“) ein Vorbild im Hinblick auf die maßgeblichen Referenzkriterien findet.
52
Der nördlich angrenzende Kinokomplex überschreitet die Grundfläche des Vorhabens deutlich. Er prägt vor allem durch seine Gebäudehöhe und weist im rückwärtigen Bereich Wandhöhen bis zu 23,60 m, entlang der B. straße bis zu 26 m auf. Aufgrund der mit der speziellen Nutzung durch Kinosäle einhergehenden großen Geschosshöhen ist es gerechtfertigt, hinsichtlich des maßgeblichen Rahmens für das Einfügen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung vor allem die Gebäudehöhe in den Blick zu nehmen. Die Geschossigkeit ist angesichts der genannten Besonderheiten des Bezugsobjektes von geringerer Bedeutung. Der streitgegenständliche Baukörper verlässt hinsichtlich seiner Größe nicht den durch den Bebauungskomplex nördlich der Sch. straße bestimmten Rahmen.
53
Auch bei Berücksichtigung des „Technikgeschosses“ als Höhenbezugspunkt/als siebtes Geschoss bleibt das Vorhaben im Rahmen seiner maßgeblichen Umgebung. Zwar würde die Höhe des Referenzobjekts mit 26 m (im vorderen Bereich) geringfügig überschritten (Höhenkote Technikgeschoss 26,37 m). Angesichts der Großmaßstäblichkeit sowohl des Vorhabens als auch der umliegenden Bebauung wäre dieser Unterschied vom Erscheinungsbild des Gebäudes bei der anzustellenden wertenden Gesamtbetrachtung in Natura nicht zu erkennen und ist daher insoweit irrelevant (vgl. dazu auch OVG Berlin-Bbg, B.v. 5.6.2015 – OVG 10 S 11.15 – juris Rn. 7). Auch wenn man das Technikgeschoss als zusätzliches Geschoss betrachtet, trägt das Vorhaben keine neue Geschossigkeit in die maßgebliche Umgebung. Ausweislich des Lageplans im Vorbescheid vom 9. Oktober 2019 (vgl. „Lageplan, Grundrisse 3. UG – 3. OG“), in dem die Umgebungsbebauung dargestellt ist, sind auch in dem Kinokomplex sieben Geschosse zu finden.
54
2.1.3. Das Vorhaben erweist sich gegenüber dem Grundstück der Klägerin ferner auch nicht als rücksichtslos.
55
Das Gebot der Rücksichtnahme richtet sich hinsichtlich der erteilten Befreiung wegen Abrückens von der umlaufenden Baulinie durch die oberen Geschosse des Gebäudes nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots, § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Dahinstehen kann, ob es sich im Anwendungsbereich des § 34 BauGB aus dem Begriff des „Einfügens“ des § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO ableitet, da im Ergebnis dieselbe Prüfung stattzufinden hat (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4).
56
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – NVwZ 2005, 328, juris Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – BVerwGE 145, 145, juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass auch aus dem Rücksichtnahmegebot kein Recht des Nachbarn abzuleiten ist, dass in seiner Nachbarschaft nur objektiv rechtmäßige Bauvorhaben entstehen (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 11; B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 26). Das Rücksichtnahmegebot legt dem Bauherrn zudem auch keine Pflicht auf, generell die für den Nachbarn am wenigsten beeinträchtigende Alternative für seine Bauabsicht zu wählen (BVerwG, B.v. 26.6.1997 – 4 B 97/97 – NVwZ-RR 1998, 357, juris Rn. 6). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt den Nachbarn schließlich auch nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 a.a.O, Rn. 17; B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12; B.v. 7.2.2012 – 15 CE 11.2865 – juris Rn. 14; B.v. 30.9.2015 – 9 CS 15.1115 – juris Rn. 14; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 7).
57
Dieses berücksichtigend wird der im Rahmen des Rücksichtnahmegebots notwendige Interessenausgleich zwischen hinzutretender und vorhandener Bebauung durch das Vorhaben vorliegend gewahrt. Insbesondere geht von ihm weder eine einmauernde, erdrückende Wirkung gegenüber der Klägerin aus (siehe nachstehend 2.1.3.1.) noch kommt es zu einer der Klägerin nicht mehr zumutbaren Beeinträchtigung der Belichtungssituation (siehe nachfolgend 2.1.3.2.).
58
2.1.3.1. Zunächst vermag die Kammer eine erdrückende Wirkung des streitigen Vorhabens nicht festzustellen.
59
Ein Vorhaben übt grundsätzlich dann „erdrückende“ bzw. „einmauernde“ Wirkung gegenüber dem Nachbarn aus, wenn es in Höhe und Volumen ein Übermaß besitzt und auch nicht annähernd den vorhandenen Gebäuden gleichartig (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 5 m.w.N.) ist. Für die Annahme einer solchen Wirkung besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn der Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – Rn. 5; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9; B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris Rn. 14; B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gebäude im dicht bebauten städtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3; B.v. 11.5.2010 a.a.O. Rn. 5; U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 22; B.v. 5.12.2012 a.a.O. Rn. 9).
60
Legt man zugrunde, unter welchen Umständen von der Rechtsprechung eine einmauernde oder erdrückende Wirkung angenommen wurde (vgl. bspw. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – DÖV 1981, 672, juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – DVBl 1986, 1271, juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem zweigeschossigen Wohnanwesen), so ist ein solcher Extremfall hier nicht erkennbar. Zwar übersteigt die Höhe des genehmigten Vorhabens diejenige des Gebäudes der Klägerin (fünf Geschosse zuzüglich zurückgesetztes Terrassengeschoss; Höhe nach dem in der Klagebegründung enthaltenen Schnitt: 17,62 m im Bereich des Flachdachs, 21,02 m an der Oberkante des höchsten Punktes des „Flügeldachs“). Ein erheblicher Höhenunterschied i.S. einer erdrückenden Wirkung liegt hierin jedoch nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass die oberen Geschosse auch in Richtung der Klägerin von der Gebäudeaußenkante zurückspringt, was die Beeinträchtigung schmälert.
61
2.1.3.2. Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zu ihren Lasten kann die Klägerin auch nicht mit Erfolg aus der vorhabenbedingten Verschattung ihres Anwesens herleiten.
62
Es besteht grundsätzlich kein Anspruch aus Bauplanungsrecht, von jeder Beeinträchtigung der Belichtung, Belüftung und Besonnung verschont zu bleiben. Mögliche Verringerungen des Lichteinfalls bzw. eine weiter zunehmende Verschattung sind vielmehr in aller Regel im Rahmen der Veränderung der baulichen Situation in bebauten Ortslagen und insbesondere – wie hier – in dicht bebauten innerstädtischen Bereichen bis zu einer im Einzelfall zu bestimmenden Unzumutbarkeitsgrenze in der Regel nicht rücksichtslos und daher grundsätzlich hinzunehmen (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 13.9.2022 – 15 CS 22.1851 – juris Rn, 21; B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 28; B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 15). Das Gebot der Rücksichtnahme fordert nicht, dass alle Fenster eines Hauses beziehungsweise das gesamte Grundstück das ganze Jahr über zu jeder Tageszeit optimal besonnt oder belichtet werden (vgl. OVG NW, B.v. 15.12.2023 – 10 B 645/23 – juris Rn. 74; U.v. 30.1.2023 – 10 A 2094/20 – BauR 2023, 1082, juris Rn. 71 m.w.N.). Es gewährleistet keine unveränderte Beibehaltung einer insoweit zuvor gegebenen Situation (OVG Berlin-Bbg, B.v. 22.2.2021 – OVG 10 S. 69 – juris Rn. 22 m.w.N.).
63
Dass die Unzumutbarkeitsgrenze bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung aufgrund einer besonderen Belastungswirkung im konkreten Fall überschritten sein könnte, ist im Rahmen der vorgegebenen städtebaulichen Situation nicht erkennbar.
64
Zwar ist in der Rechtsprechung im Hinblick auf die Lichtverhältnisse anerkannt, dass die Einhaltung eines Lichteinfallswinkels von 45° in Höhe der Fensterbrüstung von Fenstern von Aufenthaltsräumen grundsätzlich eine ausreichende Belichtung sicherstellt (vgl. BayVGH, B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris Rn. 14 unter Bezugnahme auf BayVGH, B.v. 9.6.2011 – 2 ZB 10.2289 – juris Rn. 5; U.v. 20.9.2011 – 2 B 11.761 – juris Rn. 26). Daraus ist jedoch im Umkehrschluss nicht zu folgern, dass es für den Nachbarn grundsätzlich unzumutbar ist, wenn ein dahingehender Lichteinfallswinkel nicht eingehalten wird. Der 45°- Lichteinfallswinkel stellt keine absolute, in jedem Fall einzuhaltende Mindestgrenze dar, sondern soll (nur) „möglichst“ eingehalten werden (VG München, U.v. 14.6.2021 – M 8 K 19.2266 – juris Rn. 38; B.v. 18.5.2020 – M 8 SN 20.1696, n.v.; U.v. 30.6.2014 – M 8 K 13.1102 – juris Rn. 49; U.v. 19.5.2014 – M 8 K 13.1110 – juris Rn. 58 m.w.N.). Das Rücksichtnahmegebot gewährleistet nämlich keine bestimmte Dauer oder „Qualität‘ der natürlichen Belichtung oder die unveränderte Beibehaltung einer insoweit zuvor gegebenen Situation (OVG Hamburg, B.v. 26.9.2007 – 2 Bs 188/07 – juris). Eine die Genehmigungsfähigkeit ausschließende Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots ist mithin erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben für die Nachbarbebauung eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. zur Unzumutbarkeit: BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Entscheidend sind insofern jeweils die Umstände des Einzelfalls. Zur Bestimmung dessen, was Rücksichtnahmebegünstigten und Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, sind die nähere Umgebung als (städte-)baulicher Rahmen, in den das Vorhaben- und Nachbargrundstück eingebettet sind, sowie die jeweilige besondere bauliche Situation der betroffenen Grundstücke in den Blick zu nehmen.
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Bau- und Nachbargrundstück liegen im dicht bebauten innerstädtischen Bereich. Die maßgebliche Umgebung ist geprägt durch massive, mehrgeschossige und grenzständige Bebauung, die zwangsläufig die wechselseitige Verschattung von Gebäuden, insbesondere der unteren Geschosse, bedingt. Auch die Klägerin hat ihr Gebäude bis unmittelbar an ihre westliche Grundstücksgrenze und die dort verlaufende Baugrenze herangeführt. Durch die auf der Grundstücksgrenze des Baugrundstücks verlaufenden Baulinien sind gegenseitige Verschattungseffekte zwischen den Gebäuden vorgezeichnet. Die Einhaltung eines 45°-Lichteinfallswinkels kann dementsprechend aufgrund der Höhenentwicklung und der geringen Gebäudeabstände zueinander in der maßgeblichen Umgebungsbebauung – zumindest in den unteren Geschossen – ersichtlich weitestgehend nicht gewährleistet werden. Aufgrund von Lage, Ausgestaltung und Höhenentwicklung der Bestandsbebauung und der Vorgaben des Baulinienplanes führt im hier vorgegebenen städtebaulichen Kontext zwangsläufig jede Bebauung des Baugrundstücks zu einer Reduzierung der Belichtung des Nachbargebäudes, die im Übrigen auch bei der bisherigen, wenngleich niedrigeren Bestandsbebauung des Baugrundstücks gegeben war. Durch den genehmigten Neubau auf dem Baugrundstück entsteht keine unzumutbare Verschattung bzw. keine unzumutbare Verschlechterung der Belichtungs- und Besonnungsverhältnisse, welche – gemessen an dieser vorgegebenen städtebaulichen Situation – von der Nachbarbebauung nicht mehr hinzunehmen wäre.
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Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich Bau- und Nachbargrundstück in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Kerngebiet befinden. Dort liegt die Schwelle, ab der Einschränkungen der Belichtung regelmäßig als unzumutbar anzusehen sind, vergleichsweise hoch (OVG LSA, B.v. 1.10.2012 – 2 M 114/12 – NVwZ-RR 2013, 93, juris Ls 2, Rn. 16; OVG Hamburg, B.v. 14.7.1998 – 2 Bs 78/98 – juris Os 2, Rn. 26). In rechtlicher Hinsicht ist insoweit in den Blick zu nehmen, dass diese Gebiete nach dem Willen des Gesetz- und Verordnungsgebers wesentlich enger und dichter bebaut werden dürfen als Wohngebiete, woraus gleichermaßen folgt, dass dort auch das Schutzniveau gegen Belichtungs- und Besonnungsnachteile im Verhältnis zu Wohngebieten deutlich abgesenkt ist (vgl. so zu Gewerbegebieten: VGH BW, B.v. 24.5.2012 – 3 S 629/12 – NVwZ-RR 2012, 636, juris Rn. 12).
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Dies zugrunde gelegt, ist die mit dem Vorhaben einhergehende Verschattung von der Klägerin im Lichte des Rücksichtnahmegebots noch hinzunehmen. Sie kann im Kerngebiet nicht verlangen, dauerhaft direkt besonnte Arbeitsräume zu erhalten. Ausreichend ist, dass angesichts der Entfernungsverhältnisse auch in Schattenperioden die Betriebsräume noch ausreichend belichtet werden dürften. Die Klägerin legt weder dar noch ist ersichtlich, dass ihre gewerblichen Arbeitsräume aus besonderen Gründen auf eine besonders hochwertige Belichtung dringend angewiesen sind. Insgesamt gehen die Verschattungsnachteile des Vorhabens nicht über das in Kerngebieten zugemutete Maß hinaus. Die Belichtung der Büroräumlichkeiten der Klägerin erfolgt von Westen, Süden und Norden her. Der geplante Baukörper liegt westlich des Nachbargebäudes, so dass die Belichtung von Süden und Norden unverändert bleibt. Eine zusätzliche Verschattung auf der Westseite kommt erst in den Nachmittagsstunden in Betracht. Durch den Rückversatz des Terrassengeschosses von der östlichen Gebäudeaußenkante und dem dazwischenliegenden Grundstück FlNr. 6945/1 ist nach Ansicht der Kammer nicht anzunehmen, dass die Veränderung der Belichtungssituation einen Grad erreicht, der zu ungesunden Arbeitsverhältnissen führen würde. Mithin verbleibt es auch bei Beachtung der besonderen städtebaulichen Situation und der Begebenheiten auf den betroffenen Grundstücken bei dem Grundsatz, dass in einem von geschlossener oder halboffener Bebauung geprägten innerstädtischen Bereich mit einer höheren Verschattung durch ein neu errichtetes bzw. aufzustockendes Wohngebäude regelmäßig zu rechnen und diese hinzunehmen ist (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 20.11.2020 – 10 S 66/20, NVwZ-RR 2021, 335, juris Rn. 10; B.v. 30.3.2020 – 10 S 30/19 – juris Rn. 5).
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3. Auch im Übrigen verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung der Änderungsgenehmigung – insbesondere im Hinblick auf das von der Klagepartei gerügte drittschützende Abstandsflächenrecht (Art. 6 BayBO) – keine Rechte der Klägerin.
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Dabei kann dahinstehen, ob es der Klägerin unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung und dem in der gesamten Rechtsordnung geltenden Grundsatz von Treu und Glauben bereits verwehrt ist, einen etwaigen Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften geltend zu machen (entsprechend § 242 BGB; vgl. hierzu: vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 26; B.v. 14.10.2014 – 4 B 51.14 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37). Soweit die dem Grundstück der Klägerin zugewandte östliche Außenwand des Gebäudes entlang der auf der Grundstücksgrenze verlaufenden Baulinie errichtet wird, ist eine Abstandsfläche gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht erforderlich (vgl. nachstehend 3.1.). Die für die von der Grundstücksgrenze (und damit der Baulinie) zurückspringenden Geschosse erteilte Abweichung verletzt ebenfalls keine drittschützenden Rechte der Klägerin (siehe nachfolgend 3.2.).
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3.1. Soweit die östliche Gebäudeaußenwand auf der entlang der östlichen Grundstücksgrenze verlaufenden Baulinie errichtet wird, ist vor dieser Außenwand eine Abstandsfläche gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht erforderlich.
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO müssen die Abstandsflächen auf dem Grundstück selbst liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO); sie dürfen auch auf öffentliche Verkehrs-, Grün- und Wasserflächen liegen, jedoch nur bis zu deren Mitte.
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Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Die Regelung bringt den sog. Vorrang des Planungsrechtlich gegenüber dem Bauordnungsrecht zum Ausdruck (BVerwG, B.v. 7.7.1994 – 4 B 131.94 – juris Rn. 6).
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift liegen vor.
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3.1.1. Im vorliegenden Fall muss aufgrund der entlang der Grundstücksgrenzen verlaufenden Baulinie planungsrechtlich an die Grenze gebaut werden (vgl. zur Vorrangigkeit einer an der straßenseitigen Grundstücksgrenze verlaufenden Baulinie: BayVGH, B.v. 12.4.1994 – 2 CS 94.28 – juris Rn. 13; B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – BayVBl 2009, 751, juris Rn. 27; vgl. zum planungsrechtlich gebotenen Grenzanbau allgemein: Laser in: Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 6 Rn. 19; Schönfeld in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 30. Edition 1.10.2023, Art. 6 Rn. 42 ff.; Kraus in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 155. EL August 2024, Art. 6 Rn. 46 ff.).
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3.1.2. Dies reicht aus, um den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO mit dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang des Planungsrechts als erfüllt anzusehen. Eine Zulässigkeit des Vorhabens unter allen bauplanungsrechtlichen Gesichtspunkten ist hingegen nicht erforderlich.
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Zwar wird zum Teil unter Bezugnahme auf Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 15.4.1992 – 14 B 90.856 – BauR 1992, 605, juris Ls. 2, Rn. 17, siehe aber auch: Laser in: Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 6 Rn. 192022, Art. 6 Rn. 19), der die Entscheidung als „missverständlich“ bezeichnet) zur Vorgängerregelung (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO i.d.F. 2. Juli 1982) angenommen, das Gebäude müsse im abstandsrelevanten Bereich insgesamt planungsrechtlich zulässig sein (Waldmann in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, August 2024, Art. 6 Rn. 60; Schönfeld in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 30. Edition 1.10.2023, Art. 6 Rn. 48; BayVGH, U.v. 22.9.2011 – 2 B 11.762 – juris Rn. 34, zur Vorgängernorm Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO 1998).
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Zu Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, wie er durch das Gesetz vom 24. Juli 2007 (GVBl S. 499) im Rahmen der Novelle der Bayerischen Bauordnung 2008 geschaffen wurde, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof diese Frage in seiner Rechtsprechung bisher explizit offengelassen (vgl. BayVGH, B.v. 10.12. 2008 – 1 CS 08.2770 – juris Rn. 33; B.v. 5.7.2017 – 2 B 17.824 – juris Rn. 56).
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Nach der Gegenmeinung, der sich die erkennende Kammer anschließt, setzt Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht voraus, dass das jeweilige Vorhaben insgesamt planungsrechtlich zulässig ist (so zu dem wortgleichen § 6 Abs. 1 Satz 3 SächsBO: SächsOVG, B.v. 23.12.2019 – 1 BO 287/19 – NVwZ-RR 2020, 527, juris Ls. 3, Rn. 15; zur Vorgängernorm Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO bereits: VG München, U.v. 7.4.2008 – M 8 K 07.3202 – juris Rn. 38 f.; vgl. im Übrigen auch: Laser in: Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 6 Rn. 19), sondern bezieht sich nur auf die planungsrechtliche Zulässigkeit des Grenzanbaus, die sich entweder aus der Bauweise oder der überbaubaren Grundstücksfläche ergeben kann.
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Ein solches Verständnis des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO legt bereits dessen Wortlaut nahe, der gerade nicht darauf abstellt, dass das grenzständig zu errichtende Gebäude (in jeder Hinsicht) bauplanungsrechtlich zulässig ist bzw. sein muss, sondern dass der Grenzanbau bauplanungsrechtlich verpflichtend vorgegeben oder jedenfalls gestattet ist (vgl.: Laser in: Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 6 Rn. 19; Kraus in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 155. EL August 2024, Art. 6 Rn. 71). Auch die Gesetzesbegründung zu Art.6 Abs. 1 Satz 3 BayBO 2008 (LT-Drs. 15/7161, S. 41) verweist (lediglich) darauf, dass planungsrechtliche Vorschriften, nach denen an die Grenze gebaut werden muss oder darf, in der Regel Vorschriften über die Bauweise sein werden, sich im Einzelfall aber auch aus Regelungen über die überbaubare Grundstücksfläche, nämlich die Festsetzung von Baulinien ergeben können.
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Die Auffassung, dass über die Brücke des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO die Zulässigkeit des Vorhabens hinsichtlich aller bauplanungsrechtlicher Vorgaben zu prüfen sei, führte aus Sicht der Kammer schließlich dazu, dass der nur in eingeschränktem Umfang eröffnete planungsrechtliche Nachbarschutz mittelbar auf alle Regelungen über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach §§ 29 ff. BauGB erstreckt würde, so dass ein klagender Dritter im Rahmen des § 34 BauGB etwa auch eine Beeinträchtigung des Ortsbilds i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB rügen könnte (SächsOVG, B.v. 23.12.2019 – 1 B 287/19 – juris Rn. 15). Dies ist mit der Rechtsprechung zum Drittschutz nur schwer in Einklang zu bringen (VG München, U.v. 7.4.2008 – M 8 K 07.3202 – juris Rn. 39).
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Unbeschadet dessen, ist das streitgegenständliche Vorhaben aber auch insgesamt bauplanungsrechtlich zulässig und fügt sich insbesondere, wie vorstehend ausgeführt, nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
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3.2. Die wegen des Abrückens der Terrassengeschosse von der entlang der Grundstücksgrenze verlaufenden vorderen Baulinie erforderliche Abweichung nach Art. 63 BayBO von Abstandsflächenvorschriften, die mit Bescheid vom … Mai 2022 erteilt wurde und nach dem Bescheid vom … April 2024 weiter gilt, ist nicht zu beanstanden
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Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO kann (bzw. nach der seit 1. August 2023 geltenden Fassung „soll“) die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.
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3.2.1. Zunächst kann offenbleiben, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO nach Einfügung von Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt (vgl. zur neuesten Rechtsprechung des BayVGH zum Erfordernis der Atypik: B.v. 2.5.2023 – 2 ZB 22.2484 – BeckRS 2023, 10147, ablehnend; U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – juris Ls und Rn. 26; B.v. 19.9.2023 – 15 CS 23.1208 – juris Rn. 22, jeweils bejahend), denn eine solche liegt hier jedenfalls vor.
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Die Lage der betroffenen Grundstücke in einem seit langer Zeit dicht bebauten großstädtischen Innenstadtquartier, in dem – wie hier – allenfalls wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstückgrenzen einhalten, vermittelt eine besondere Atypik, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn rechtfertigt (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 36). Überdies entsteht die Pflicht, eine Abstandsfläche einzuhalten, hier erst durch das für den Nachbarn günstigere Abrücken der Terrassengeschosse von der festgesetzten vorderen Baulinie. Sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen, kann im dicht bebauten innerstädtischen Bereich auch eine Abweichung zugelassen werden, um das Abrücken von einer Baulinie zugunsten des Nachbarn zu ermöglichen (vgl. VG München, U.v. 6.3.2023 – M 8 K 21.811 – juris Rn. 33 m.w.N.; U.v. 27.11.2023 – M 8 K 22.2857 – juris Rn. 51).
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3.2.2. Die Abweichung ist auch unter Berücksichtigung des Zwecks des Abstandsflächenrechts und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen – Art. 6 BayBO bezweckt insbesondere im nachbarlichen Verhältnis die Gewährleistung ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung, nach umstrittener Ansicht auch den Erhalt des sozialen Wohnfriedens (vgl. zum Streitstand: BayVGH, U.v. 31.7.2020 – 15 B 19.832 – juris Rn. 33) – mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Sie ist für die Klägerin insbesondere nicht mit unzumutbaren, rücksichtslosen Auswirkungen verbunden (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – NVwZ-RR 2023, 977, juris Rn. 32). Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz – wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme – eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 20).
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Dies berücksichtigend, sind die Interessen der Bauherrin vorliegend gegenüber den Interessen der Klägerin vorrangig. Durch den Rückversatz der Terrassengeschosse entstehen keine unzumutbaren Einbußen an Belichtung, Besonnung und Belüftung zu Lasten der Klägerin (vgl. oben). Die Einhaltung des 45°-Lichteinfallswinkels stellt, wie bereits dargelegt, bei der Beurteilung keine absolute, in jedem Fall einzuhaltende Mindestgrenze dar (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 8; B.v. 17.9.2007 – 1 CS 07.1704 – juris Rn. 25). Das gilt umso mehr in – wie hier – Kerngebieten, in denen nach dem Willen des Gesetzgebers schon vor der BayBO 2021 eine dichtere Bebauung mit Abständen kleiner 1 H (seit BayBO 2021 0,4 H, zuvor seit BayBO 1974 0,5 H) möglich war (vgl. auch: Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 155. EL August 2024, Art. 6 Rn. 321 zur Abstandsflächenverkürzung durch Bebauungsplan und der Bedeutung des 45°-Winkels in Kern- und Industriegebieten). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs können Abweichungen gem. Art. 63 i.V.m. Art. 6 BayBO in dicht besiedelten Innenstadtlagen darüber hinaus sogar dann gerechtfertigt sein, wenn nicht an allen Fenstern zu Wohnräumen des Nachbaranwesens ein Lichteinfallswinkel von 45° verbleibt (BayVGH, B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 24 f.; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 8; B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 42; B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 40). Die zusätzliche Verkürzung der für ein Kerngebiet vorgesehenen Abstandsflächentiefe führt im vorliegenden Fall auch nicht zu einer unzumutbaren Einbuße für die Klägerin. Die Abweichung betrifft (lediglich) den Teil der Abstandsfläche, der über die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO) hinaus auf der öffentlichen Verkehrsfläche – und nicht auf dem Nachbargrundstück – zu liegen kommt. Eine Belichtung ist über die Nord- und Südseite unverändert möglich. Eine zusätzliche Verschattung auf der Westseite kommt erst in den Nachmittagsstunden in Betracht.
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3.2.3. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich (§ 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat sich im Rahmen der Prüfung der Abweichung mit der Situation auch der betroffenen Nachbarn in sachgerechter Weise unter Berücksichtigung des Zwecks des Abstandsflächenrechts auseinandergesetzt. Die nachbarlichen Belange wurden insbesondere angesichts der Lage der Grundstücke im dicht bebauten innerstädtischen Quartier, welches durch eine dichte Bebauung und damit einhergehende verkürzte Abstandsflächenfrage geprägt ist, zutreffend ermittelt und gewürdigt.
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Dem Bescheid kann auch entnommen werden, dass die Beklagte ihr Ermessen – trotz des Passus „die Abweichung ist zu erteilen“ – grundsätzlich erkannt hat. Die gewählte Formulierung belegt keinen Ermessensausfall, sondern gibt lediglich – die weitere Begründung einleitend – das Ergebnis der Ermessenserwägungen wieder. Die wesentlichen Punkte werden im Folgenden in ausreichender Weise herausgearbeitet und abgewogen. Insbesondere stellt die Beklagte in nicht zu beanstandender Weise darauf ab, dass die Abstandsflächenüberschreitungen noch deutlich innerhalb der öffentlichen Verkehrsfläche lägen und eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung weiterhin gewährleistet sei. Die nachbarlichen Belange wurden insbesondere angesichts der Lage der Grundstücke im innerstädtischen Quartier, welches durch eine dichte Bebauung geprägt ist, zutreffend ermittelt, gewürdigt und den Interessen der Bauherrin gegenübergestellt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese Sachanträge gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.