Titel:
Untätigkeit bei Entscheidung über Gewährung einer Beschädigtenversorgung
Normenketten:
SGG § 65a Abs.4, § 65d, § 88 Abs. 1, Abs. 4, § 172 Abs. 1, § 173
StrRehaG § 21
Leitsatz:
Das Fehlen eines Zusammenhangsgutachtens infolge einer nicht vorliegenden Krankheitsliste stellt einen zureichenden Grund iSv § 88 Abs. 1 S. SGG dar, um ein Verfahren zur Beschädigtenversorgung des Klägers auszusetzen. (Rn. 14 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untätigkeit der Behörde, Antrag auf Beschädigtenversorgung, Fehlen eines Zusammenhangsgutachtens, Aussetzung des Gerichtsverfahrens, zureichender Grund, Kausalitätsbeurteilung, komplexes Krankheitsbild, Krankheitsliste
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Beschluss vom 10.04.2025 – L 18 VH 1/25 B
Fundstelle:
BeckRS 2024, 46513
Tenor
Die Aussetzung des Verfahrens wird bis zum 18. Juni 2025 angeordnet.
Gründe
1
Gegenstand des Verfahrens ist die vom Kläger angenommene Untätigkeit bei der Entscheidung des Beklagten über den Antrag auf Gewährung der Beschädigtenversorgung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG).
2
Der Kläger beantragte am 23.02.2022 Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung von Gewalttaten. Der Kläger leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer histrionischen Persönlichkeitsstörung und Borderline. Nach Abgabe des Vorgangs an den Beklagten übersandte dieser mit Schreiben vom 12.07.2022 den Formblattantrag auf Versorgung nach dem StrRehaG. Diesen schickte der Kläger am 03.04.2023 zurück.
3
Auf die Sachstandsanfragen vom 14.08.2024 und 03.09.2024 wurde ihm am 11.09.2024 mitgeteilt, dass noch keine Auskunft der Krankenkasse vorliege und dass Anfragen an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie B. und das damals zuständige Jugendamt noch ausstünden.
4
Der Kläger erhebt am 17.09.2024 Untätigkeitsklage zum Sozialgericht München. Es wären keine Umstände ersichtlich, die eine längere Frist als die 6 Monatsfrist des § 88 Abs. 1 SGG rechtfertigen würden.
5
Nach der weiteren Begründung vom 12.11.2024 vertritt der Kläger die Auffassung, dass andere Verfahren priorisiert worden seien.
den Beklagten zu verurteilen, über den Antrag des Klägers vom 23.02.2022 auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach § 21 StrRehaG zu entscheiden.
7
Am 17.11.2024 beantragt der Beklagte,
die Verweisung an das örtlich zuständige Sozialgericht Bayreuth und die Aussetzung des Verfahrens.
8
Es bestünden sachliche Gründe der Nichtentscheidung.
9
Mit Beschluss vom 13.11.2024 wurde das Verfahren an das Sozialgericht Bayreuth verwiesen.
10
Mit Schreiben vom 27.11.2024 teilte der Vorsitzende mit, dass die im Aussetzungsantrag vom 07.11.2024 vorgetragenen Gründe für die bisherige Nichtentscheidung geprüft wurden. Er beabsichtigt das Verfahren für 6 Monate auszusetzen.
11
Der Beklagte meinte am 04.12.2024, dass die genannte Frist von 6 Monaten für angemessen erachtet werden. Die erforderlichen Verfahrensschritte würden forciert abgewickelt.
12
Der Kläger meint, dass kein zureichender Grund dafür ersichtlich sei, dass der beantragte Verwaltungsakt immer noch nicht erlassen worden sei. Die Auskunft der Krankenkasse hätte längst eingeholt werden müssen. Eine Begutachtung des Klägers hätte ebenfalls längst erfolgen können. Es bestehe eine erhebliche Gefahr von Retraumatisierungen allein durch die vorliegende Verfahrensgestaltung mit der mittlerweile enormen Verfahrensdauer.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Prozessakten des Sozialgerichts München und des Sozialgerichts Bayreuth sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
14
Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, wenn ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist.
15
Die Entscheidung über den Antrag des Klägers konnte mangels Zusammenhangsgutachten noch nicht erfolgen; damit liegt ein zureichender Grund vor.
16
Es erscheint abwegig wie der Kläger offenbar meint, ein Gutachten zu beauftragen, ohne die Erkrankungsliste des Klägers vorliegen zu haben. Dies widerspricht auch jeder gerichtlichen Praxis, ins Blaue hinein zu ermitteln.
17
Warum die Verfahrensgestaltung die Gefahr von Retraumatisierungen nach sich zieht, erschließt sich dem Gericht nicht. Der Kläger möchte einen begünstigenden Verwaltungsakt erlangen. Die lange Verfahrensdauer wurde für mehrere Monate durch den Kläger hervorgerufen, der Beklagte hat sich zumindest seit September 2024 bemüht, die notwendige Transparenz der Verfahrensschritte zu erläutern. Eine irgendwie geartete Analogie zur Ermittlungstätigkeit und Rechtsprechung in einer DDR-Diktatur, die beim Kläger möglicherweise ein Ersttrauma ausgelöst hat, ist nicht ersichtlich. Es ist Aufgabe des Bevollmächtigten, das Wesen des sachlichen Grundes der Untätigkeitsklage (§ 88 Abs. 1 Satz 2 SGG) dem Kläger zu erläutern.
18
Die Aussetzungsdauer von sechs Monaten ist auch der Würdigung der Einwände des Klägers angemessen. Im Hinblick auf das komplexe Krankheitsbild des Klägers ist die Ermittlung des Gesundheitszustandes und die Kausalitätsbeurteilung aufwändig.
19
Eine rückwirkende Betrachtung erscheint bei Bemessung der Frist nicht hilfreich. Anhaltspunkte für eine Priorisierung anderer Verfahren sind für den Vorsitzenden nicht ersichtlich. Der Beklagte hat eine Forcierung des Verfahrens zugesichert.