Inhalt

OLG München, Beschluss v. 28.11.2024 – 19 U 3139/20
Titel:

Rechtsgespräch kein Befangenheitsgrund

Normenkette:
ZPO § 42 Abs. 2, § 44 Abs. 3, § 139 Abs. 1
Leitsatz:
Ein Rechtsgespräch ist keine unzulässige endgültige Festlegung auf eine bestimmte Rechtsauffassung, ohne dass es stets eines ausdrücklichen verbalen Vorbehalts bedarf, weil jede Äußerung des Senats nur eine vorläufige ist, die unter der selbstverständlichen Einschränkung abschließender Beratung und Meinungsbildung vor der Entscheidung steht. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ablehnung, Befangenheit, dienstliche Stellungnahme, Nachschieben von Gründen, Hinweis, Rechtsgespräch, politische Treuepflicht
Fundstelle:
BeckRS 2024, 46389

Tenor

Das Ablehnungsgesuch der Klägerin vom 11.11.2024 gegen den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht A. wird zurückgewiesen.

Gründe

1
Das Befangenheitsgesuch ist unbegründet.
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Ein Grund, der geeignet wäre, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 ZPO), ist nicht gegeben.
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Eine Besorgnis der Befangenheit liegt nur dann vor, wenn aus der Sicht der ablehnenden Partei nachvollziehbar ein vernünftiger und daher einigermaßen objektiver Grund besteht, der sie von ihrem Standpunkt aus vernünftigerweise befürchten lassen kann, der Richter werde nicht unparteiisch sachlich entscheiden (stRspr., z.B. BGH, Beschluss v. 25.06.2024, Az. RiZ (R) 2/24, Rz. 4; Beschluss v. 16.05.2019, Az. NotSt (Brfg) 4/18, Rz. 8; Urteil v. 15.12.1994, Az. I ZR 121/92, juris Rz. 31; Urteil v. 18.04.1980, Az. RiZ (R) 1/80, juris Rz. 11; vgl. auch Stackmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 42 Rz. 4; Göertz in: Anders/Gehle, ZPO, 83. Aufl., § 42 Rz. 15). Allein die subjektive Besorgnis, für die bei Würdigung der Tatsachen vernünftigerweise kein Grund ersichtlich ist, reicht dagegen zur Ablehnung nicht aus (s. bspw. BVerwG, Beschluss v. 11.12.2012, Az. 8 B 58/12, juris Rz. 19; OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 19.02.2018, Az. 8 W 8/18, Rz. 24; OLG München, Beschluss v. 03.01.2008, Az. 34 SchH 3/07, juris Rz. 12).
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1. Soweit die Klägerin meint, die Reaktion des Vorsitzenden Richters auf die folgende Äußerung des Klägervertreters Rechtsanwalt C. sei unangemessen gewesen und begründe die Besorgnis, dass er seine Aufgaben nicht mit der nötigen Objektivität vornehme, so geht dies fehl.
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a) Das Geschehen geben die Klägerin in ihrem Ablehnungsgesuch und der abgelehnte Richter in seiner dienstlichen Stellungnahme übereinstimmend an.
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Rechtsanwalt C. äußerte in der Sitzung vom 11.11.2024:
„Was die Beklagtenvertreter und Wirtschaftsflüchtlinge gemeinsam haben? Man kann ihnen absolut nichts vorwerfen, denn sie nutzen lediglich ein marodes System aus.“
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Der Vorsitzende Richter äußerte daraufhin gegenüber Rechtsanwalt C., er solle seine AfD-Polemik aus diesem Gerichtssaal herauslassen.
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b) An diesem Vorgehen des Vorsitzenden Richters gibt es vom Standpunkt einer vernünftigen Partei aus nichts beanstanden.
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aa) Der von Rechtsanwalt C. verwandte Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ ist ein regelmäßig abwertend gebrauchtes politisches Schlagwort, das im Kontext von Debatten um Asyl und Asylrecht verwendet wird und Asylbewerber bezeichnet, die aus rein ökonomischen Motiven zuwandern. Er gehört seit den 1970er Jahren zu den wichtigsten sprachlichen Mitteln, um Flüchtlingen die Notwendigkeit zur Flucht abzusprechen und ihnen einen Missbrauch des Asylrechts vorzuwerfen (vgl. hierzu bspw. nur Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Entwicklung und Alternativen, 2. Aufl., S. 105 ff.; Stötzel/Wengeler, Kontroverse Begriffe: Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, S. 733 ff., insb. S. 738; Nohlen/Grotz, Kleines Lexikon der Politik. 5. Aufl., S. 24 f.).
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bb) Damit bediente sich Rechtsanwalt C. einer Rhetorik, welche auch von der vom Bundesamt für Verfassungsschutz zu Recht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 13.05.2024, Az. 5 A 1218/22) als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) beispielsweise in ihrem aktuellen „Europawahl Programm 2024“ (dort S. 15) verwendet wird, wenn dort „eine konsequente Zurückweisung von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen an den Schengen-Außengrenzen“ gefordert wird.
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cc) Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss v. 22.05.1975, Az. 2 BvL 13/73, insb. juris Rz. 42) ist es ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums i.S.v. Art. 33 Abs. 5 GG, dass Berufsbeamten und auch Berufsrichtern (BVerfG, Beschluss v. 06.05.2008, 2 BvR 337/08, juris Rz. 16 ff.; s. auch Beschluss v. 30.08.1983, Az. 2 BvR 1334/82, juris Rz. 6) eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und seiner Verfassung obliegt. Die Treuepflicht gebietet, den Staat und seine geltende Verfassungsordnung, auch soweit sie im Wege einer Verfassungsänderung veränderbar ist, zu bejahen und dies nicht bloß verbal, sondern insbesondere in der beruflichen Tätigkeit dadurch, dass der Beamte und der Richter die bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften beachten und erfüllen und ihr Amt aus dem Geist dieser Vorschriften herausführen. Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten und Richtern insbesondere, dass sie sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanzieren, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten und Richtern wird erwartet, dass sie diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennen und anerkennen, für den einzutreten sich lohnt. Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, dass die Beamten und Richter Partei für ihn ergreifen.
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dd) Eingedenk dessen war der Vorsitzende Richter nicht nur berechtigt, sondern aus den vorgeschilderten verfassungsrechtlichen Gründen darüber hinaus verpflichtet – sei es auch mit erhobener Stimme – einzuschreiten, wenn Rechtsanwalt C. in einer öffentlichen Senatsverhandlung eine Flüchtlinge abwertende und diesen einen Missbrauch des Grundrechts des Art. 16a GG pauschal und ohne belastbare Grundlage unterstellende stellende Rhetorik verwendet, die auch von einer mutmaßlich rechtsextremen Partei im politischen Diskurs verwendet wird.
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Es ist auch keinerlei objektiver inhaltlicher Bezug der Aussage von Rechtsanwalt C. zum hiesigen Verfahren erkennbar – einer Schadenersatzklage im Zusammenhang mit dem sog. Diesel-Skandal. Ersichtlich bezweckte die Gleichstellung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ mit den Beklagtenvertretern und die Aussage, beide würden „lediglich ein marodes System aus(nutzen)“, offenbar nur die Diffamierung und/oder Provokation der Prozessbevollmächtigen der Beklagten.
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2. Wenn sich die Klägerin gegen Äußerungen des Vorsitzenden Richters wendet, mit denen er eine vorläufige und summarische Einschätzung der Sach- und Rechtslage durch den Senat im Rahmen von Bemühungen um eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits kundtut, so ist auch dies nicht geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen.
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Die korrekte und distanzierte, inhaltlich sachgerechte und vertretbare Ausübung der Aufklärungs- und Hinweispflichten einschließlich der Vergleichsbemühung (§§ 139, 273, 278 Abs. 1 und 2 ZPO) stellen keinen Befangenheitsgrund dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ZPO-Reform die richterlichen Hinweis-, Aufklärungs- und Fürsorgepflichten nochmals deutlich betont hat. Nach § 139 Abs. 1 S. 1 ZPO hat der Vorsitzende die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern. § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO verpflichtet ihn, dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Er hat gemäß § 139 Abs. 1 S. 3 ZPO durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abzuschichten und nach § 139 Abs. 2 ZPO auf Gesichtspunkte hinzuweisen, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat oder die der Senat anders beurteilt als die Parteien.
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Diese Erörterungs- und Aufklärungspflicht kann nur dann erfüllt und ein sinnvolles Rechtsgespräch nur dann geführt werden, wenn der Vorsitzende seine Wertungen der tatsächlichen Feststellungen und die damit verbundene Rechtsauffassung vorbehaltlich der weiteren Erörterungen mit den Beteiligten kundtut und auch Hinweise zum voraussichtlichen Verfahrensausgang für den Fall gibt, dass nichts neues Entscheidungserhebliches erkennbar wird (OVG Berlin, Beschluss v. 21.02.1996, Az. 2 L 9/95, L 10/95, L 11/95, BeckRS 1996, 123099). Das hierfür nötige und erwünschte freimütige Rechtsgespräch darf nicht durch die Gefahr der Richterablehnung behindert werden (Stackmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 42 Rz. 57). Ein solches Vorgehen wird vielmehr in der Regel von vernünftigen Verfahrensbeteiligten begrüßt, weil es ihnen Gelegenheit gibt, vor der Entscheidung nochmals und gezielter auf die entscheidungserheblichen Punkte einzugehen (BVerwG, Beschluss v. 06.02.1979, Az. 4 CB 8/79, juris Rz. 6).
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Eine unzulässige endgültige Festlegung auf eine bestimmte Rechtsauffassung kann darin grundsätzlich nicht gesehen werden, ohne dass es stets eines ausdrücklichen verbalen Vorbehalts bedarf (OLG München, Beschluss v. 19.05.2003, Az. 13 U 2149/03, BeckRS 2003, 30318739), weil jede Äußerung des Senats nur eine vorläufige ist, die unter der selbstverständlichen Einschränkung abschließender Beratung und Meinungsbildung vor der Entscheidung steht.
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Eine derartige Erörterung kann eine Besorgnis der Befangenheit ausnahmsweise nur dann rechtfertigen, wenn zugleich Gründe glaubhaft gemacht werden, aus denen auf eine unsachliche Einstellung oder ein willkürliches Verhalten des Richters gegenüber einer Partei hinsichtlich des Ausgangs des Verfahrens geschlossen werden kann (OVG Berlin, Beschluss v. 21.02.1996, Az. 2 L 9/95, L 10/95, L 11/95, BeckRS 1996, 123099). Die beanstandeten Äußerungen gäben der Klägerin dann Anlass zur Besorgnis der Befangenheit, wenn in ihnen zum Ausdruck käme, der Vorsitzende Richter werde, ohne die Verhandlung zu schließen, weiterem Vorbringen zu den geltend gemachten Ansprüchen kein Gehör geben und auch davon absehen, darüber nach Verhandlungsschluss zu beraten (OLG Karlsruhe, Beschluss v. 25.03.1986, Az. 15 W 13/86 [OLGZ 1987, 248]).
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Hieran fehlt es jedoch. Die Klägerin verkennt, dass das Ablehnungsgesuch kein geeignetes und zulässiges Mittel ist, gegen eine vermeintlich fehlerhafte Tatsachenwürdigung oder gegen angeblich unrichtige Rechtsauffassungen oder Verfahrensfehler eines Richters vorzugehen; zur Überprüfung und möglichen Korrektur bei derartigen Beanstandungen ist der Instanzenzug in der Hauptsache gegeben (BFH, Beschluss v. 04.07.1985, Az. V B 3/85, juris Rz. 25).
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3. Wenn die Klägerin im Schriftsatz vom 25.11.2024 nachschiebt, das die Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden Richters sich auch daraus ergeben soll, dass er in seiner dienstlichen Stellungnahme in einem anderen Prozess vor dem Senat – im Übrigen keineswegs ein „Parallelverfahren“ – bei einer dort abgegebenen dienstlichen Stellungnahme die Namen der Prozessbevollmächtigten verwechselt habe, so ist dieses Vorbringen nicht einmal im Ansatz geeignet, ein Ablehnungsgesuch zu rechtfertigen. Die Erholung einer dienstlichen Stellungnahme insoweit ist folglich nicht veranlasst.
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Zunächst kann das Nachschieben von Gründen für ein Ablehnungsgesuch nur berücksichtigt werden, wenn es eine bereits vorhandene Begründung ergänzt (OLG Frankfurt a.M., Beschluss v. 30.08.2018, Az. 6 W 79/18, juris Rz. 2) – was hier nicht der Fall ist.
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Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass im Grundsatz auch Verfahrensverstöße in einem anderen Verfahren unter Beteiligung desselben Richters Bedenken an seiner Unvoreingenommenheit aufkommen lassen können (OLG Köln, Beschluss v. 09.09.1985, Az. 17 W 209/85 [NJW-RR 1986, 419]). Weshalb indes alleine die behauptete Namensverwechslung der Rechtsanwälte – die klägerische Behauptung als wahr unterstellt – Zweifel an der Objektivität des Vorsitzenden Richters begründen sollen, erschließt sich nicht.
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4. Der von der Klägerin im Schriftsatz vom 25.11.2024 nachgeschobene Ablehnungsgrund, der Vorsitzende Richter sei in seiner dienstlichen Stellungnahme nicht auf einen „Widerspruch des Geschäftsführers der Klägerin“ eingegangen, der sich auf die mit den Leasingraten erzielten Gewinne bezogen habe, ist substanzlos. Die dienstliche Stellungnahme verhält sich in Ziffer 4 genau zu diesem Gesichtspunkt.
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5. Dass die Ausführungen zur Richtigkeit des klägerischen Sachvorbringens in der dienstlichen Stellungnahme nicht „erschöpfend“ seien, ergibt sich aus der Natur der Sache.
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Eine solche dient gemäß § 44 Abs. 3 ZPO dazu, dass der abgelehnte Richter sich über den Ablehnungsgrund dienstlich äußert, nicht einer Partei ein umfassendes Rechtsgutachten zu erstatten – was generell nicht die Aufgabe der Gerichte ist (BAG, Urteil v. 23.04.1997, Az. 5 AZR 727/95, juris Rz. 14; Urteil v. 21.09.1993, Az. 9 AZR 580/90, juris Rz. 18; Urteil v. 08.12.1992, Az. 9 AZR 113/92, juris Rz. 11; Becker-Eberhard in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 256 Rz. 22).