Inhalt

VG München, Urteil v. 28.10.2024 – M 6 K 24.30686
Titel:

Unzulässiger Asylantrag einer afghanischen Staatsangehörigen nach vorheriger Schutzgewähr in Lettland

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34, § 35
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Der bloße Umstand, dass in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Sozialhilfeleistungen oder die Lebensverhältnisse ungünstiger sind als in der Bundesrepublik, kann für sich gesehen der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ebenso wie der fehlende Rückgriff auf familiäre Solidarität keine Ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not darstellen (BVerwG BeckRS 2020, 14913). Auch Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh nicht aus (EuGH BeckRS 2019, 28304 - Hamed, Omar). (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. In der Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zumutbar sind dabei auch Arbeiten oder Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise ausgeübt werden können; dies gilt selbst dann, wenn diese Tätigkeiten im Bereich der sog. Schatten- oder Nischenwirtschaft angesiedelt sind (BVerwG BeckRS 2022, 8398). (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Im Hinblick auf die Sekundärmigration aus Lettland ist grundsätzlich davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte dort menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse im Wesentlichen zu decken. Dementsprechend müssen die jeweiligen Schutzberechtigten grundsätzlich in der Lage sein, sich den Bedingungen in Lettland zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen (VG Bayreuth BeckRS 2023, 44991). (Rn. 32) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Eine allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat, etwa bei gravierenden und lang andauernden Wirtschaftskrisen, begründet regelmäßig Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG, die jedoch nicht zu einem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen können, weil ihnen die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes ausgesetzt ist. Diesen Gefahren kann grundsätzlich nur durch eine politische Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG Rechnung getragen werden. (Rn. 60) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Für die Frage, ob familiäre Bindungen iSv § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen, ist eine Abwägung der für die Abschiebungsandrohung sprechenden Belange mit dem tatsächlichen und normativen Gewicht der familiären Belange im konkreten Einzelfall erforderlich. Im Rahmen dieser Würdigung können die Grundsätze und Wertungsgesichtspunkte der ausländerrechtlichen Rechtsprechung herangezogen werden, die im Zusammenhang mit der Prüfung aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen entwickelt wurden. (Rn. 69) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Herkunftsland: Afghanistan, Unzulässigkeitsentscheidung wegen vorheriger Zuerkennung internationalen Schutzes in Lettland, Psychische Erkrankungen (unglaubhaft), Ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (verneint), afghanische Staatsangehörige, Zuerkennung internationalen Schutzes, Lettland, unzulässiger Asylantrag, nationale Abschiebungsverbote, psychische Erkrankung, Sozialhilfeleistungen, Integrationsprogramme, Sekundärmigration, Schattenwirtschaft, Lebensverhältnisse, Abschiebungsandrohung, familiäre Belange
Fundstelle:
BeckRS 2024, 46265

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin ist Staatsangehörige Afghanistans, Zugehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischen Glaubens. Sie reiste am … Januar 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … Februar 2023 einen Asylantrag.
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Die Klägerin hat bereits in Lettland einen Asylantrag gestellt. Dieser wurde positiv verbeschieden und der Klägerin internationaler Schutz gewährt.
3
Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … März 2023 führte die Klägerin im Wesentlichen aus, die Versorgung in Lettland sei nicht ausreichend gewesen, insbesondere habe kein freier Zugang zu Ärzten bestanden. Der Besuch von Schule und Sprachkursen sei nur schwer möglich gewesen. Sie und ihre Familie seien zudem aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert worden. Weitere Familie sei in Deutschland. Sie wolle hierbleiben, studieren und ein gutes Leben haben. Sie habe Probleme mit den Augen und einmal Probleme mit den Nieren in Lettland gehabt, einen Arzttermin hätte sie aber erst in zwei Wochen bekommen.
4
Mit Bescheid vom … Februar 2024, zugestellt am … Februar 2024, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2) und drohte der Klägerin mit einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids die Abschiebung nach Lettland oder einen anderen aufnahmebereiten oder aufnahmeverpflichteten Staat an, wobei eine Abschiebung nach Afghanistan ausgeschlossen wurde. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf aufschiebende Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antrag sei unzulässig. Die Klägerin könne auf Grund des in Lettland gewährten internationalen Schutzes keine weitere Schutzgewährung verlangen. Ihr Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG) als unzulässig abzulehnen, eine materielle Prüfung erfolge in diesem Falle nicht. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Lettland führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorläge. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Der Klägerin drohe keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß §§ 34, 35 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen, wobei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 – Rs. C-484/22) nicht entgegenstehe. Im Falle der Klägerin lägen keine überwiegend schutzwürdigen familiären Belange vor, die wegen der möglicherweise aus der Asylentscheidung folgenden (räumlichen) Trennung von Teilen der Kernfamilie einer künftigen Abschiebung entgegenstünden.
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Hiergegen erhob die Klägerin am 23. Februar 2024 vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte zuletzt,
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den Bescheid vom … Februar 2024 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten Abschiebungsverbote hinsichtlich Lettlands festzustellen.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom … März 2024 im Wesentlichen vorgetragen, dass die Klägerin an psychischen Erkrankungen leide. Eine Behandlung in Lettland sei nicht möglich. Die Familie der Klägerin befände sich in Deutschland. Beigefügt war ein psychiatrisches Attest vom … August 2023 sowie ein ärztlicher Brief vom … September 2023 von Frau S. H.
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Die Beklagte beantragte,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Schriftsatz vom 30. April 2024 übersandte die Bevollmächtigte der Klägerin eine „qualifizierte fachärztlich-psychiatrische gutachterliche Stellungnahme vom … Februar 2024“.
13
Mit Schriftsatz vom 13. Mai 2024 trat die Beklagte der gutachterlichen Stellungnahme vom … Februar 2024 entgegen.
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Mit Schriftsatz vom 20. August 2024 vertiefte die Bevollmächtigte der Klägerin ihr Vorbringen.
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Mit Beschluss vom 28. August 2024 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 3. September 2024 übersandte die Bevollmächtigte der Klägerin eine „aktualisierte qualifizierte fachärztlich-psychiatrische gutachterliche Stellungnahme vom … August 2024“.
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Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2024 führte die Bevollmächtigte der Klägerin zu den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln aus. Das lettische Gesundheitssystem sei im Bereich der psychischen Erkrankungen schlecht ausgebaut.
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Am 25. Oktober 2024 fand die mündliche Verhandlung statt. In dieser wurde auch die von der Klagepartei zur Verhandlung mitgebrachte, behandelnde Ärztin der Klägerin als Zeugin vernommen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte, auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig. Der Asylantrag der Klägerin ist aufgrund des bereits in Lettland zuerkannten internationalen Schutzes zu Recht als unzulässig abgelehnt worden. Die Klägerin hat ferner keinen (hilfsweisen) Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung sowie das auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot sind ebenfalls rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug und macht sich diese zur Begründung der vorliegenden Entscheidung zu eigen (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend wird ausgeführt:
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1. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist rechtmäßig.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz) gewährt hat. Diese (geschriebenen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfüllt die Klägerin, da Lettland diesen internationalen Schutz in Form des Flüchtlingsstatus gewährt hat, wie das die lettischen Behörden mit Schreiben vom ... April 2023 mitgeteilt haben. Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin der am ... Januar 2022 zuerkannte internationale Schutz zwischenzeitlich wieder aberkannt wurde, liegen nicht vor. Der Klägerin wurde vielmehr ein permanenter Aufenthaltstitel sowie ein Reisedokument für Flüchtlinge bis ... Januar 2027 bzw. … Januar 2027 ausgestellt.
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2. Die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist vorliegend auch nicht aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausgeschlossen.
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Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die einen Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta (GRCh) bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aussetzen würden (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed) – juris, Rn. 43).
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2.1. Im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems gilt dabei zunächst der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bzw. die Vermutung, dass die Behandlung der Betroffenen im Einklang mit den Erfordernissen der Genfer Flüchtlingskonvention, der GRCh und der EMRK steht (EuGH, U.v. 19.3. 2019 – C-297/17 (Ibrahim) – juris, Rn. 83; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo) – juris, Rn. 80). Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko („real risk“) besteht, dass Personen bei einer Überstellung dorthin in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris, Rn. 82 f.).
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Eine solche auf Grund der Lebensumstände drohende konventionswidrige Behandlung ist jedoch nur anzunehmen, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris, Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17- juris, Rn. 91 ff.). Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in solch einer schwerwiegenden Situation befindet, dass dies einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (BVerwG, B.v. 7.3.2022 – 1 B 21/22 – NVwZ 2022, 1473; U.v. 21.4.2020 – 1 C 4719 – juris, Rn. 37; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris, Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris, Rn. 91 ff.). In Bezug auf vulnerable Personen kann die Schwelle der Erheblichkeit dabei schneller erreicht sein, als in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen, hinsichtlich derer die Feststellung, sie seien vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig und befänden sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not, im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich gesteigerten Anforderungen an die Entkräftung der Vermutung der Vereinbarkeit der Behandlung solcher Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der GRCh und der EMRK unterliegt (vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 9.22 – juris, Rn. 13; U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris, Rn. 20 und 23; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris, Rn. 93).
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Der bloße Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse ungünstiger sind als in der Bundesrepublik, kann für sich gesehen angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ebenso wie der fehlende Rückgriff auf familiäre Solidarität keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not darstellen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris, Rn. 93 ff., BVerwG, U.v. 21.4.2020 – 1 C 4/19 – juris, Rn. 38). Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nicht aus (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540 und C-541/17 – juris, Rn. 39; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris, Rn. 93 f. und 96 f).
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Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen (BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 9.22 – juris, Rn. 14).
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zudem geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfsorganisationen) jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zumutbar sind dabei auch Arbeiten und Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Tourismussaison, ausgeübt werden können. Dies gilt selbst dann, wenn diese Tätigkeiten im Bereich der sog. Schatten- oder Nischenwirtschaft angesiedelt sind (BVerwG, B.v. 28.3.2022- 1 B 9.22 – juris Rn. 14; U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris, Rn. 23).
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Bei der Gefahrenprognose ist auf den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abzustellen (ständige Rspr., vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 9.22 – juris, Rn. 12 a.E.; U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris, Rn. 15; U.v. 17.6.2020 – 1 C 35.19 – juris, Rn. 27). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden.
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2.2. Die Rechtsprechung gelangt dabei für die Sekundärmigration aus Lettland im Grundsatz zu dem Schluss, dass davon auszugehen ist, dass anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte dort menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse im Wesentlichen zu decken. Dementsprechend müssen die jeweiligen Schutzberechtigten grundsätzlich in der Lage sein, sich den Bedingungen in Lettland zu stellen und durch eine (hohe) Eigeninitiative selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen (vgl. VG Bayreuth, U.v. 21.12.2023 – B 7 K 23.30104 – juris Rn. 29 ff.; VG Magdeburg, U.v. 16.6.2020 – 8 A 49/20 – juris Rn. 33 ff.; VG Cottbus, U.v. 12.5.2020 – 5 K 2635/17.A – juris Rn. 24 ff.)
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2.3. Für die Klägerin gelangt der erkennende Einzelrichter in Anbetracht der aktuellen Bedingungen in Lettland sowie deren persönlichen Umstände zu dem Ergebnis, dass ihr im Falle einer Rückkehr nach Lettland eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh iVm. Art. 3 EMRK nicht beachtlich wahrscheinlich droht.
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2.4. Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der aktuellen Erkenntnislage in Lettland dabei wie folgt dar:
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Anerkannte Flüchtlinge erhalten in Lettland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die alle fünf Jahre erneuert werden muss, subsidiär Schutzberechtigte eine auf ein Jahr befristete (dann aber verlängerbare) Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr (PMLP 14.10.2020; vgl. UNHCR o.D.). Anerkannte Flüchtlinge haben nach dem Erhalt des Schutzstatus ein Recht auf Familienzusammenführung. Im Falle einer befristeten Schutzform ist dies erst nach einem zweijährigen Aufenthalt in Lettland möglich.
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Personen mit dem Status eines Flüchtlings oder eine Person mit subsidiärem Schutzstatus, die nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, haben Anspruch auf Sozialhilfe. Anerkannte Flüchtlinge und andere schutzberechtigte Gruppen haben Anspruch auf eine einmalige finanzielle Unterstützung in Höhe von 278 Euro (für einen Minderjährigen 194 Euro); bei verheirateten Paaren erhält der eine Ehepartner 278 Euro, der andere 194 Euro. Schutzberechtige haben zudem Anspruch auf eine monatliche Zahlung von 139 Euro (für einen Minderjährigen 97 Euro). Ist man verheiratet, erhält ein Ehepartner 139 und der andere 97 Euro. Die monatliche Zahlung ist für Schutzberechtigte mit Flüchtlingsstatus auf zehn Monate, für subsidiär Schutzberechtigte auf sieben Monate befristet.
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Asylwerber, Flüchtlinge und Personen unter subsidiärem Schutz haben Anspruch auf die Dienste von Sozialarbeitern und Sozialbetreuern, die ihnen beratend und helfend zur Seite stehen, ihnen bei der Integration in die lettische Gesellschaft und beim Einleben in Lettland helfen, sie bei Anmeldungen z. B. bei der staatlichen Arbeitsagentur und einem Allgemeinmediziner unterstützen, und ihnen bei der Eröffnung eines Bankkontos, bei der Wohnungssuche und bei der Anmeldung des Wohnsitzes helfend zur Seite stehen. Die Dienste eines Sozialarbeiters stehen Asylwerbern drei Monate lang ab dem Zeitpunkt Ihrer Ankunft in Lettland oder bis zur Zuerkennung des Status eines Flüchtlings oder einer Person mit subsidiärem Schutz zur Verfügung. Nach Erlangung des Status eines Schutzberechtigten steht der Dienst für weitere zwölf Monate zur Verfügung. Der Dienst des Sozialarbeiters endet, wenn die betreute Person während der Dauer des Dienstes Lettland verlässt.
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Schutzberechtigte oder Personen mit subsidiärem Schutzstatus haben Anspruch auf ein Mindestmaß an staatlich bezahlter Gesundheitsfürsorge. Subsidiärer Schutz [Anm.: Genauso wie der Flüchtlingsstatus] ermöglichen den Schutzberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeitsmarkt (BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Lettland Gesamtaktualisierung am 5.4.2024, Seite 10 f.).
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Im Jahr 2023 lag das durchschnittliche Bruttogehalt bei 1.537 EUR pro Monat und das durchschnittliche Nettogehalt – 1.119 EUR pro Monat. In Lettland gibt es einen nationalen Mindestlohn, der seit dem 1. Januar 2024 nicht weniger als 700 EUR pro Monat betragen darf (bei einer Regelarbeitszeit von 40 Stunden pro Woche). Der Mindeststundenlohn wird entsprechend der im konkreten Monat geleisteten Arbeitsstunden berechnet. Das Lohnniveau unterscheidet sich je nach Region: In R. … und Umgebung werden die höchsten Löhne gezahlt, im östlichen Teil Lettlands, in der Region L. …, hingegen die niedrigsten. Dem Arbeitgeber obliegt die Entrichtung der Pflichtbeiträge zur staatlichen Sozialversicherung der von ihm beschäftigten Arbeitnehmer (vgl. https://eures.europa.eu/living-and-working/living-and-working-conditions-europe/living-and-working-conditions-latvia_de#arbeitsbedingungen).
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Dem stehen teilweise geringere Lebenshaltungskosten als in Deutschland gegenüber. Der monatliche Aufwand für Miete und Betriebskosten beträgt 30-40% des durchschnittlichen Arbeitslohns. Im Durchschnitt unterscheiden sich die Konsumpreise in Lettland nicht wesentlich von den Preisen in anderen europäischen Ländern, jedoch sind die Preise für einzelne Produktgruppen, z. B. lokales Gemüse, Sprit, Zigaretten u. a. vergleichsweise niedriger. Der russische Überfall auf die Ukraine hat einen Preisanstieg nicht nur in Lettland, sondern in der ganzen Welt verursacht. Durchschnittspreise für Lebensmittel ohne Angebote in Verkaufsstellen zu Beginn des Jahres 2024: Schweinefleisch – 5,99 EUR/kg, Würstchen, Wurst – 5,50-14,50 EUR/kg, Geflügel – 7,50 EUR/kg, Käse – 11,80 EUR/kg, Milch – 1,25 EUR/Liter, Brot – 1,90 bis 3,10 EUR/kg, Kartoffeln – 0,75 EUR/kg, Bier in Verkaufsstellen – 3,60 EUR/1 Liter. Ein Mittagessen im Restaurant kostet im Durchschnitt 20 bis 40 EUR. 1 Liter Kraftstoff mit 95 Oktan kostet im Durchschnitt 1,72 EUR; 1 Liter Dieselkraftstoff kostet 1,68 EUR. Eine Tasse Kaffee im Café bzw. Restaurant – 2,50 EUR. Kinoticket – 5-9 EUR. Eintrittskarte für Schwimmbad, 1 Besuch – 10,00 EUR (https://eures.europa.eu/living-and-working/living-and-working-conditions-europe/living-and-working-conditions-latvia_de#lebensbedingungen).
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Sollte kein Einkommen aus einer Berufstätigkeit zu erzielen sein oder das Einkommen zur Sicherung der Existenzgrundlage nicht ausreichen, können international Schutzberechtigte erforderlichenfalls staatliche Hilfen in Anspruch nehmen, um ihre Grundbedürfnisse abzudecken (https://employment-social-affairs.ec.europa.eu/policies-and-activities/moving-working-europe/eu-social-security-coordination/your-rights-country-country/latvia_de; BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Lettland Gesamtaktualisierung am 5.4.2024, Seite 10 f.).
42
In Lettland als schutzberechtigt anerkannte Personen haben das Recht auf medizinische Versorgung (https://www.cilvektiesibugids.lv/en/themes/health/right-to-health/right-to-health-and-specific-groups/right-to-health-and-migrants). Bei psychischen Erkrankungen besteht diese aus drei Stufen, der hausärztlichen, der fachärztlichen und stationär klinischen Versorgung (vgl. näher https://www.cilvektiesibugids.lv/en/themes/health/mental-health-care).
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2.5. Vor dem Hintergrund dieser Aufnahmebedingungen sowie der persönlichen Umstände der Klägerin ist nicht ersichtlich, dass es dieser beachtlich wahrscheinlich nicht möglich wäre, ihre existentiellen Lebensbedürfnisse in Lettland zu befriedigen. Dies gilt im konkreten Fall der Klägerin selbst dann, wenn man diese aufgrund der zur Überzeugung des Gerichts nicht nachgewiesenen bzw. gar nicht vorliegenden psychischen Erkrankung zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählen würde.
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2.5.1. Zwar dürfte die Klägerin bei einer Rückkehr nach den vorstehenden Informationen keinen weiteren Mentor mehr zur Seite gestellt bekommen, doch ist davon auszugehen, dass es ihr bei entsprechender Eigeninitiative trotz der auch von der Klagepartei angeführten tatsächlichen Schwierigkeiten gelingen kann, dort eine Arbeit in Voll- oder Teilzeit zu finden und ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften oder hinreichende Leistungen zu erhalten. Hinderungsgründe, Arbeit in Lettland zu finden oder weitergehende Leistungen zu erhalten, können dadurch minimiert werden, dass von staatlichen, nichtstaatlichen sowie privaten Integrations- und Sprachförderungsangeboten Gebrauch gemacht wird. Auch das Erlernen der Sprache mittels Büchern oder einem Smartphone kann der Klägerin zugemutet werden. Nach einer umfassenden Gesamtwürdigung und bei Berücksichtigung der von der Klagepartei angeführten Erkrankungen und Umstände der Klägerin wird es dieser möglich sein, eine ausreichende medizinische Versorgung und eine – wenn auch bescheidene – Grundversorgung sicher zu stellen; dies jedenfalls nach der Überwindung gewisser Anfangsschwierigkeiten.
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2.5.2. Die vorgebrachten Erkrankungen der Klägerin sind aus Sicht des Gerichts weder hinreichend nachgewiesen, noch könnten solche nicht ausreichend in Lettland behandelt werden.
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Es kann dabei dahinstehen, ob die vorgelegten ärztlichen Unterlagen den von der Rechtsprechung geforderten Mindestanforderungen genügen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Die Atteste und Darstellung der Erkrankung widersprechen sich und den Feststellungen aus der mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 2024, sodass hierauf eine Vulnerabilität nicht gestützt werden kann.
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Das psychiatrische Attest vom ... August 2023 sowie der ärztliche Brief vom … September 2023 lassen nachvollziehbare Angaben, zur Methodik und worauf sich die Diagnose stützt, vermissen. Ebenso Angaben, ob die von der Klägerin geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden sowie über die Schwere der Krankheit und deren Behandlungsbedürftigkeit.
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In der Bewertung der „qualifizierten fachärztlich-psychiatrische gutachterliche Stellungnahme vom … Februar 2024“ schließt sich das Gericht der Stellungnahme der Beklagte vom … Mai 2024 an und verweist auf diese. Der Verlauf der Diagnosestellung ist nicht nachvollziehbar. Zudem ist diese zeitlich überholt. Mit der Aktualisierung der Stellungnahme vom … August 2024 wurde dahingehend die Diagnose geändert und nunmehr eine „akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie“ diagnostiziert. Die Änderung der Diagnose ist – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Ärztin in der mündlichen Verhandlung – nicht nachvollziehbar. Genauso der Medikations- und Therapieverlauf. Vielmehr widerspricht sich dieser und ist mit den Feststellungen aus der mündlichen Verhandlung nicht vereinbar.
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Während einerseits gravierende Diagnosen aufgestellt werden und „das Risiko des Eintritts der geschilderten Gefahren [einer Abschiebung] als höchstgradig einzuschätzen“ sei sowie statuiert wird, dass „eine Transportbegleitung oder sedierende Medikation oder fachgerechte Behandlung in Lettland nicht möglich“ sei, kann die Klägerin gleichzeitig in der mündlichen Verhandlung das vorgeblich lebenswichtige Medikament nicht einmal im Ansatz benennen. Vielmehr gibt diese an, lediglich Tropfen zu nehmen. Frühere Medikationen könne sie ebenfalls nicht benennen. Die behandelnde Ärztin hingegen gibt – auch als Zeugin in der mündlichen Verhandlung – an, dass die Klägerin aktuell mit Tabletten (die Klägerin nehme eine halbe Tablette Aripiprazol) behandelt werde. Die aktuelle Verschreibung sei vom Mai 2024. Erst im späteren Verlauf und auf direkte Nachfrage werden von der Zeugin Behandlungen bzw. Behandlungsversuche mit u.A. Tropfen genannt.
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Die Klägerin gab in der mündlichen Verhandlung an, die Medikation beeinflusse ihre Wahnvorstellungen, die sie nur nachts habe, nicht. Warum das Absetzen der Medikation nach Aussage der Ärztin für die Klägerin fatale Folgen haben sollte, obwohl diese offenbar keinerlei Wirkung auf die – nach Aussage der Zeugin – auch tagsüber bestehenden Wahnvorstellungen hat, ist widersprüchlich und ebenso nicht nachvollziehbar. Ebenfalls ist nicht ergründbar, warum eine Verschreibung nicht erneut für einen Zeitraum von knapp einem halben Jahr, wie seit der letzten Verschreibung im Mai 2024, möglich sein sollte.
51
Dem Gericht drängt sich der Eindruck auf, dass das Verhalten der Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung nicht einmal ihre Medikation benennen konnte, in erster Linie asyltaktisch geprägt ist und alleine dem Zweck dient in Deutschland einen Aufenthalt für sich (und ihre Familie) zu erhalten. Genau hierauf zielt offenbar auch die Vorlage der beiden Atteste, die explizit als „qualifizierte fachärztliche gutachterliche Stellungnahmen“ tituliert sind, ab, zumal diese Ausführungen zur medizinischen Versorgung in Lettland enthalten, wobei gleichzeitig die Zeugin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, keine Kenntnisse über das dortige Gesundheitssystem zu haben.
52
Der Vortrag der Klägerin wirkt unabhängig von der Steigerung der Diagnosen und Widersprüchlichkeit der Darstellungen insgesamt stark überhöht und konstruiert. Anders als in der mündlichen Verhandlung wurde gegenüber dem Bundesamt eine psychische Erkrankung in Lettland nicht erwähnt. Des Weiteren sind die Angaben zum (ersten) Auftreten der Wahnvorstellungen in Deutschland detailarm und nicht nachvollziehbar. Warum die Klägerin vor dem Hintergrund der geschilderten Schlafprobleme und Tagesmüdigkeit, in der Nacht auch noch Kaffee und Red Bull trinkt, ist nicht verständlich.
53
Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnen Gesamteindruck der Klägerin wäre diese ferner – selbständig tragend – jedenfalls, auch trotz der vorgetragenen psychischen Probleme, in Lettland behandelbar und arbeitsfähig.
54
Entgegen der Ansicht der Klagepartei und der behandelnden Ärztin ist bereits nicht ersichtlich, warum eine Behandlung und Medikation wie sie derzeit erfolge nicht auch vergleichbar in Lettland vorgenommen werden könnte. Lettland verfügt zwar mit 13,06 Psychiatern und 31,52 Psychologen pro 100.000 Einwohner über etwas weniger als Deutschland mit 14,22 Psychiatern bzw. 55,08 Psychologen pro 100.000 Einwohner dafür aber über ein Vielfaches an Pflegepersonal (28,43 zu 1,20) und Sozialarbeitern (173,86 zu 67,05) in diesem Bereich (vgl. Mental Health Atlas 2020, Member State Profil Latvia bzw. Germany). Den speziellen Bedürfnissen der Klägerin könnte beachtlich wahrscheinlich auch in Lettland ausreichend Rechnung getragen werden. Über die Grundversorgung hinausgehende Einbußen im Umfang der Gesundheitsleistungen sind dabei sicherlich nicht wünschenswert, angesichts des anzulegenden Maßstabs einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK aber von der Klägerin hinzunehmen. Es bestehen insbesondere keine ernsthaften Gründe für die Annahme, dass die Klägerin auch bei reduzierten Gesundheitsleistungen der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich ihr Gesundheitszustand wegen des Fehlens angemessener Behandlung oder weil sie dazu keinen Zugang hätte, erheblich, schnell und irreversibel verschlechtern würde mit der Folge intensiven Leids oder einer Herabsetzung ihrer Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10). Eine Gesundheitsfürsorge wie in Deutschland kann demgegenüber nicht verlangt werden.
55
Die Klägerin möchte sich in Deutschland ein Leben aufbauen. Warum dies in Lettland nicht möglich sein sollte, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Konkrete und belastbare Informationen, an welche Stellen sich die Klägerin erfolglos gewendet hat, liegen nicht vor. Es spricht vieles dafür, dass – trotz vorgeblich besserer Gesundheit – Integrationsbemühungen in Lettland nicht ausreichend ergriffen wurden und die in Lettland erforderliche Eigeninitiative nicht oder zu wenig gezeigt wurde. Die Klägerin hat mehrfach angegeben, (nur) in Deutschland leben zu wollen. Auch dies spricht gegen ernsthafte Bemühungen, in Lettland Fuß zu fassen und sich aus Eigeninitiative eine Existenzgrundlage aufzubauen.
56
3. Nach alledem liegen auch die hilfsweise begehrten Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Eine Verelendung der Klägerin ist aus genannten Gründen nicht zu erwarten.
57
4. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.
58
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden soll, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren im Sinne dieser Bestimmung können sich auch aus den allgemeinen Lebensbedingungen im Abschiebungszielland ergeben.
59
Die Bestimmung erfasst insbesondere auch Fallgestaltungen, bei denen krankheitsbedingte Umstände eine Abschiebung unzumutbar erscheinen lassen. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bestimmt dazu, dass eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vorliegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (zu den den Ausländer betreffenden Nachweispflichten in diesem Zusammenhang vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG).
60
Weiter ist zu beachten, dass eine allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat, etwa bei gravierenden lang andauernden Wirtschaftskrisen, regelmäßig Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG begründen wird und damit nicht zu einem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen kann, weil ihnen die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch typischerweise in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist. Diesen Gefahren kann grundsätzlich nur durch eine politische Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn im Einzelfall die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen Gefahrenlage zu werden. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wird in einem solchen Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen durchbrochen mit der Folge, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen ist (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – NVwZ 2013, 1167, Rn. 38; Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 44 f.).
61
Wie sich aus vorstehenden Ausführungen ergibt, überschneiden sich die Regelungsbereiche des Art. 3 EMRK und des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG teilweise, wenngleich die anzuwenden Maßstäbe nicht deckungsgleich sind. Bezüglich etwaiger aus den allgemeinen Lebensverhältnissen im Abschiebezielstaat abzuleitender Abschiebungsverbote ist bei der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dann ein strengerer Maßstab als bei der Prüfung des Art. 3 EMRK anzuwenden, wenn es sich, was üblicherweise der Fall sein wird, um Allgemeingefahren handelt (Maßstab: Extremgefahr). Bei krankheitsbedingten Gefahrenlagen (bei denen es sich im Übrigen typischerweise um individuelle Gefahrenlagen handelt) ist der Maßstab des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dagegen zwar etwas weniger streng als jener, der bei Prüfung des Art. 3 EMRK anzulegen wäre, gleichwohl ist auch hier der anzulegende Maßstab vorliegend nicht erfüllt.
62
Nach obenstehenden Ausführungen ist eine Erkrankung bereits nicht hinreichend nachgewiesen. Zudem ist weder das Vorliegen einer Extremgefahr in Bezug auf die allgemeinen Lebensverhältnisse zu bejahen, noch wäre – selbst bei Annahme der vorgebrachten Erkrankung – beachtlich wahrscheinlich davon auszugehen, dass es sich hierbei um lebensbedrohliche oder schwerwiegenden Erkrankungen handeln würde, die sich durch eine Abschiebung im Zielland absehbar wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG), weil die dortigen Behandlungsmöglichkeiten unzureichend bzw. nicht erreichbar sind, bzw. dass aufgrund einer Abschiebung mit einer schnellen und irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands mit der Folge intensiven Leids oder einer Herabsetzung ihrer Lebenserwartung zu rechnen wäre (vgl. hierzu auch die obigen Ausführungen).
63
5. Die in Ziffer 3 des Bescheides enthaltene Abschiebungsandrohung genügt ferner den Anforderungen von §§ 35, 36 AsylG und ist insoweit auch nicht unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben.
64
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 – Rs. C-484/22). Im Fall der Klägerin liegen keine überwiegenden schutzwürdigen familiären Belange – aufgrund der möglicherweise aus der Asylentscheidung folgenden (räumlichen) Trennung von Teilen der Kernfamilie – vor, die einer künftigen Abschiebung entgegenstünden.
65
Hierbei ist zunächst schon zweifelhaft, inwieweit bei Sekundärmigration aus einem EU-Mitgliedsstaat die Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG hinsichtlich einer nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. § 35 AsylG erlassenen Abschiebungsandrohung Anwendung findet. (vgl. VG Cottbus, U. v. 22.8.2024 – 5 K 30/21.A –, juris Rn 48 ff.; VG Bremen, U. v. 26.4.2024 – 2 K 1603/23 –, juris Rn. 54)
66
Selbst wenn man mit dem Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (U.v. 21. März 2024 – 24 B 23.30860 –, juris Rn. 54) von einer Anwendbarkeit ausgeht, fällt die zu treffende Abwägung zu Lasten der Klägerin aus.
67
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG kann das Bundesamt eine Abschiebungsandrohung erlassen, wenn der Abschiebung unter anderem weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen des Ausländers entgegenstehen. Maßgebend für die Prüfung des Kindeswohls und der familiären Bindungen ist der Schutzbereich der Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 7 Grundrechte-Charta (GRCh) – nicht nur Art. 6 I Grundgesetz (GG) (vgl. a. Waldvogel, NJOZ 2024, 545 (548)). Dementsprechend kann sich hier die Betrachtung nicht isoliert auf die ausländerrechtliche Rechtsprechung zu Art. 6 GG beschränken, wonach erwachsene Kinder und Eltern in aller Regel nicht in besonderer Weise auf gegenseitigen Beistand angewiesen sind (vgl. dazu u.a. VGH München Beschluss vom 5.8.2021 – 19 ZB 21.1143, BeckRS 2021, 22535 Rn. 16, BayVGH, B.v. 17.5.2017 – 19 CS 17.37 – juris Rn. 7 m.w.N.; BayVGH, B.v. 29.6.2015 – 19 ZB 15.558 – juris Rn. 20). In den Blick zu nehmen hat das Bundesamt die sogenannte Kernfamilie des Asylsuchenden, die nicht nur die eheliche Lebensgemeinschaft samt minderjähriger Kinder umfasst, sondern ebenso unter Umständen auch volljährige Kinder, die ledig sind und noch mit ihren Eltern zusammenwohnen (bei 18-Jährigem: EGMR, U.v. 23.6.2008 – 1638/03 – juris Rn. 62; sogar bei 21-Jährigem: EGMR, U.v. 28.6.2007 – 31753/02 – juris; EGMR, U.v. 15.5.2012 – 16567/10 – juris; sogar bei noch älteren Kindern: EGMR U.v. 13.11.12 – 57633/10 – juris). Zusätzliche Elemente der Abhängigkeit sind beim Vorliegen der Kernfamilie dann nicht erforderlich. Notwendig für das Vorliegen einer Kernfamilie auch bei ledigen und mit ihren Eltern zusammenwohnenden volljährigen Kindern ist in jedem Fall eine tatsächliche, nicht nur eine rechtliche Verbundenheit („Beistandsgemeinschaft“) (vgl. a. Waldvogel, NJOZ 2024, 545 (548)). Dabei sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend.
68
Familiäre Bindungen im Sinne dieser Vorschrift können – wie bei Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK – auch Beziehungen unter Erwachsenen ohne Kinder sein (vgl. EGMR, U.v. 24.6.2010 − Schalk u. Kopf/Österreich – Nr. 30141/04 – NJW 2011, 1421/1425 Rn. 94; EGMR, U.v. 3.4.2012 – van der Heijden/Niederlande – Nr. 42857/05 – NJW 2014, 39/40 Rn. 50). Auf eine Eheschließung kommt es dabei ebenfalls nicht an. Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK stellen vielmehr auf ein tatsächlich bestehendes Familienleben ab und unterscheiden nicht zwischen einer ehelichen und nichtehelichen Familie. Entscheidend ist, dass die Partner konstante enge persönliche Beziehung haben (vgl. EGMR (GK), U.v. 24.1.2017 – Paradiso u. Campanelli/Italien – Nr. 25358/12 – NJW 2017, 941 Rn. 140; EGMR, U.v.12.7.2001 – K.u.T./Finnland, Nr. 25702/94 – NJW 2003, 809 f.; EGMR, U.v. 13.6.1979 – Marckx/Belgien – Nr. 6833/74 – BeckRS 1979, 108523). Der Begriff der Familie ist damit in erster Linie lebensbestimmt und nicht rechtsbestimmt (Hofmann in BeckOK AuslR, Stand 1.7.2022, EMRK Art. 8 Rn. 16). Gleiches gilt für die Schutzwirkungen des Art. 6 GG, auch hier ist die tatsächliche Verbundenheit der Familienmitglieder entscheidend (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris Rn. 22 f.), wobei der grundgesetzliche Familienbegriff nach wohl überwiegendem Verständnis kinderlose Paarbeziehungen nicht erfasst (vgl. Heiderhoff in von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 76; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 8, jeweils m.w.N.).
69
Liegt nach diesem Maßstab eine Familie vor und bestehen familiäre Bindungen im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG n.F., die von einer Abschiebungsandrohung betroffen werden, so sind für die Frage, ob sie der Androhung entgegenstehen, die Bindungen – wie es Art. 5 Rückführungsrichtlinie formuliert – in gebührender Weise zu berücksichtigen. Notwendig ist insoweit eine Abwägung der für die Abschiebungsandrohung sprechenden Belange mit dem tatsächlichen und normativen Gewicht der familiären Belange im konkreten Einzelfall. Im Rahmen dieser Würdigung können die Grundsätze und Wertungsgesichtspunkte der ausländerrechtlichen Rechtsprechung herangezogen werden, die im Zusammenhang mit der Prüfung aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen, entwickelt wurden. Die Fallgestaltungen und die grundrechtlichen Wertungen sind insoweit grundsätzlich vergleichbar. Normativ ist insoweit insbesondere Art. 7 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG entscheidend.
70
Zwar gewähren diese grundrechtlichen Garantien dem Ausländer keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet, sie verpflichten aber dennoch die Behörden und Gerichte, bei entsprechenden Entscheidung die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333.21 – juris Rn. 45; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, U.v. 8.12.2022 – 1 C 8.21 – juris Rn. 20 m.w.N.). Soweit Kinder Teil der familiären Bindung sind, ist zudem Art. 24 GRCh zu beachten. Ausdrücklich misst Art. 24 Abs. 3 GRCh regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten von Kindern zu ihren Elternteilen – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).
71
Bei der vorzunehmenden Abwägung ist zu beurteilen, ob die festgestellten Beeinträchtigungen der familiären Bindungen in einem angemessenen Verhältnis zu den asyl- und einwanderungspolitischen Belangen, Sicherheits- oder sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen, denen durch die Abschiebungsandrohung Rechnung getragen werden soll, und sie deshalb zurückstehen können. So sind beispielsweise die Interessen eines betroffenen Ehepartners zu würdigen (vgl. BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23/73 – juris Rn. 69) oder zu beurteilen, ob erwartbare Trennungsphasen einem Kind oder dem Elternteil zugemutet werden können (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46). Von Relevanz ist auch, ob, wann und in welchem Umfang es den anderen Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, den Adressaten der Abschiebungsandrohung ins Ausland zu begleiten. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je weniger der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je weiter die Möglichkeiten der Familie reichen, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort fortzuführen (vgl. zum Ganzen etwa VGH BW, B.v. 4.7.2023 – 11 S 448/23 – juris Rn. 12; BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 17).
72
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden.
73
Es ist bereits schon fraglich, ob die weiteren Familienmitglieder der Klägerin noch als deren Kernfamilie zu betrachten sind. Die Klägerin ist fast 22 Jahre alt und ledig.
74
Die Familie der Klägerin hat in Lettland ebenfalls internationalen Schutz erhalten. Diese kann – unabhängig von deren vollziehbaren Ausreisepflicht nach Lettland und ohne einer Verfolgung ausgesetzt zu sein – jederzeit nach Lettland, um dort die Klägerin nicht nur besuchen, sondern auch ein Leben mit ihr zu führen.
75
Angesichts des in Deutschland nicht weiter verfestigten Aufenthalts der Familie, dem Fehlen weiterer zu berücksichtigender familiärer Bindungen sowie der Möglichkeit einer gemeinsamen Lebensführung in Lettland überwiegen bei Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls hier die asyl- und einwanderungspolitischen Belange sowie Sicherheits- oder sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland klar die familiären Belange der Klägerin.
76
6. Schließlich bestehen keine Bedenken gegen die mit dem Bescheid auch verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbote. Gründe, die eine Verkürzung der Einreise- und Aufenthaltsverbote nahelegen könnten, hat die Klägerin nicht dargelegt.
77
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
78
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.