Titel:
Asyl (Herkunftsland, Somalia), Rücknahme von Flüchtlingsschutz, der aufgrund eines Rechtsanwendungsfehlers des Bundesamts zuerkannt wurde, Abschiebungsverbot (einzelfallbezogen bejaht), Gemeinsame Rückkehrprognose
Normenketten:
VwVfG § 48
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG Art. 60 Abs. 5
Schlagworte:
Asyl (Herkunftsland, Somalia), Rücknahme von Flüchtlingsschutz, der aufgrund eines Rechtsanwendungsfehlers des Bundesamts zuerkannt wurde, Abschiebungsverbot (einzelfallbezogen bejaht), Gemeinsame Rückkehrprognose
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4558
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Dezember 2020 wird in Nr. 3 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalias vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der ihm im Jahre 2016 aufgrund eines Rechtsanwendungsfehlers des Bundesamts zuerkannten Flüchtlingseigenschaft und begehrt hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes bzw. die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Somalias.
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Der Kläger, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, reiste im Mai 2016 ins Bundesgebiet ein und stellte am 3. August 2016 einen Asylantrag. Nach Anhörung wurde ihm mit bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Dezember 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wobei im Bescheid – entgegen der Angaben des Klägers – von einer äthiopischen Staatsangehörigkeit ausgegangen wurde.
3
Im Rahmen der Regelüberprüfung fiel dem Bundesamt ausweislich entsprechender Vermerke vom 2. Juni 2020 erstmals auf, dass der Bescheid vom 12. Dezember 2016 rechtswidrig sei, da die Entscheidung auf der Annahme einer falschen Staatsangehörigkeit beruhe. Es lägen keinerlei Hinweise dafür vor, dass die von dem Kläger gemachten Angaben hinsichtlich seiner Herkunft und Staatzugehörigkeit (Somali) unzutreffend sein könnten. Der Kläger sei in Äthiopien geboren und aufgewachsen; er habe sich nie in Somalia aufgehalten. Durch Abstammung von seinem Vater sei er somalischer Staatsangehöriger. Der somalische Staatsangehörige sei als Äthiopier behandelt und ihm Flüchtlingsschutz hinsichtlich Äthiopiens zuerkannt worden. Der Verwaltungsakt sei somit auf eine falsche Tatsachenfeststellung gestützt worden, was dessen Rechtswidrigkeit bedinge. Mit Verfügung vom 19. Juni 2020 leitete das Bundesamt daraufhin ein Rücknahmeverfahren ein.
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Mit Schreiben vom 24. Juli 2020 wurde der Kläger zu der beabsichtigten Rücknahme angehört. Daraufhin zeigte die Bevollmächtigte des Klägers unter dem 31. August 2020 das Mandat an und bat um Fristverlängerung nach Akteneinsicht. Eine Stellungnahme erfolgte in der Folge jedoch nicht.
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Mit Bescheid vom 16. Dezember 2020 nahm das Bundesamt die mit Bescheid vom 12. Dezember 2016 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zurück (Ziff. 1), versagte die Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Ziff. 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziff. 3). In den Gründen des Bescheids wurde dabei klargestellt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nur mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen des Bescheids Bezug genommen. Der Bescheid wurde am 30. Dezember 2020 zur Post gegeben.
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Der Kläger ließ durch seine Bevollmächtigte am 13. Januar 2021 Anfechtungsklage erheben. Er beantragt in der mündlichen Verhandlung zuletzt,
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1. den Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2020 aufzuheben,
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2. hilfsweise, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus in Bezug auf Somalia zu gewähren,
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3. weiter hilfsweise, dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Somalia zu gewähren.
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Eine schriftsätzliche Begründung der Klage erfolgte nicht.
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Die Beklagte beantragt,
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte den Rechtsstreit trotz Ausbleibens der Beklagtenseite verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage hat nur teilweise Erfolg.
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2. Die Klage ist insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet ist, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalias vorliegen. Die Beklagte war daher unter Aufhebung der Ziff. 3 des Bescheids entsprechend zu verpflichten. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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2.1 Die mit Wirkung ex nunc ausgesprochene Rücknahme der dem Kläger zuerkannten Flüchtlingseigenschaft auf Grundlage des § 48 VwVfG erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.1.1 Die Anwendbarkeit des § 48 VwVfG ist zunächst weder durch die – vorliegend unstrittig nicht einschlägigen – spezialgesetzlichen Regelungen des § 73 AsylG noch durch europarechtliche Vorgaben gesperrt (vgl. OVG Saarlouis, B.v. 17.10.2022 – 2 A 212/22 – juris Rn. 9 f; VG Sigmaringen, U.v. 12.7.2021 – A 13 K 1295/19 – juris Rn. 24 ff und 35 ff; BVerwG, U.v. 19.9.2000 – 9 C 12/00 – juris Rn. 20 ff; Fleuß in BeckOK AuslR, AsylG, § 73, Rn. 167 f; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 73, Rn. 21). Das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 19.9.2000, a.a.O. – juris Rn. 22) hatte als von § 48 VwVfG erfasste Fallgruppe dabei gerade auch Konstellationen im Blick, in denen die Anerkennung aus nicht dem Asylsuchenden zuzurechnenden Gründen – etwa wegen einer falschen Einschätzung der Gefährdungslage oder rechtsirriger Annahme der Anerkennungsvoraussetzungen seitens des Bundesamts – von Anfang an rechtswidrig war. Die Rücknahme des mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen spezielle Status des Flüchtlings ist allerdings nur zulässig, soweit das Unionsrecht in Verbindung mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) eine „Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft“ erlaubt (Art. 14 RL 2011/95. Insbesondere die Formulierung „nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist“ in Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95 impliziert dabei, dass die Qualifikationsrichtlinie die Korrektur bereits ursprünglich falscher Zuerkennungsentscheidungen – auch unabhängig von einem Fehlverhalten der Betroffenen – zulässt. Diesen Vorgaben wird der streitgegenständliche Bescheid gerecht. Der Kläger hatte unter Zugrundelegung seines Vortrags vorliegend zu keinem Zeitpunkt Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (s. nachfolgend Ziff. 2.1.3).
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2.1.2 Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf dabei nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden, wobei die Einschränkungen des Absatzes 2 auf die Rücknahme eines zuerkannten Flüchtlingsschutzes keine Anwendung finden, weil es sich hierbei nicht um einen Verwaltungsakt handelt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist (vgl. zur Asylanerkennung und Aufenthaltserlaubnis etwa: Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2022, § 48, Rn. 175; zur Aufenthaltsberechtigung: VGH BaWü, B.v. 11.1.2006 – 13 S 2345/05 – juris Rn. 37; VG Leipzig B. v. 2.11.2016 – 3 L 386/16, BeckRS 2016, 123246, Rn. 27).
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Dies hat zur Folge, dass eine Rücknahme des Bescheids auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn der Kläger ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand des Bescheids gesetzt hat. Es handelt sich vielmehr um einen Rahmen des Ermessens zu berücksichtigenden Aspekt (vgl. etwa BVerwG, B.v. 7.11.2000 – 8 B 137.00 – juris Rn. 9; allgemein zum Vertrauensschutz bei sonstigen begünstigenden Verwaltungsakten: Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 48, Rn. 177 ff.), wobei dem Aspekt des Vertrauensschutzes seitens des Gesetzgebers auch durch die gesetzliche Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG Rechnung getragen wird; letzteres betont gerade in Zusammenhang mit der Rücknahme einer Flüchtlingsanerkennung etwa das Oberverwaltungsgericht Saarlouis (B.v. 17.10.2022 – 2 A 212/22 – juris Rn. 11). Generell ist für die Vergangenheit das Vertrauen des Betroffenen häufig schutzwürdiger, während ein Vertrauensschutz auf künftigen Fortbestand einer Rechtslage nur unter besonderen Voraussetzungen anzuerkennen ist (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 48, Rn. 138). Dem trägt der vorliegende ex nunc Ausspruch Rechnung.
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2.1.3 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 VwVfG sind vorliegend erfüllt, da dem Kläger mit Bescheid vom 12. Dezember 2016 in objektiv rechtswidriger Weise Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG zuerkannt wurde.
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Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 1 A Nr. 2 GFK nur bei Verfolgung im Staat der Staatsangehörigkeit oder – bei de jure Staatenlosen – im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2009 – 10 C 50/07 – juris; U.v. 8.2.2005 – 1 C 29.03 – juris). Da es sich bei dem Kläger aufgrund der Abstammung von seinem Vater nach übereinstimmender Auffassung aller Beteiligten um einen somalischen Staatsangehörigen handelt, ist insoweit als Herkunftsland auf Somalia abzustellen. Dort hat sich der Kläger jedoch nie aufgehalten und wurde somit auch nicht verfolgt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Klägers im Dezember 2016 damit objektiv nicht vor. Unter Zugrundlegung des klägerischen Vortrags drohte (und droht) dem Kläger in Somalia keine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG; die von ihm geltend gemachte Verfolgungsfurcht bezieht sich vielmehr allein auf Äthiopien.
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Diese Rechtslage wurde seitens des damaligen Sachbearbeiters des Bundesamts offenbar verkannt. Ausweislich des in den Akten enthaltenen Vermerks vom 12. Dezember 2016 wurde dort allein gewürdigt, dass die von dem Kläger vorgetragene Bedrohung durch die äthiopische Armee glaubhaft sei. Dem Kläger wurde vor diesem Hintergrund mit Bescheid vom 12. Dezember 2016 Flüchtlingsschutz in Bezug auf Äthiopien gewährt, ohne sich mit der von Klägerseite stets vorgetragenen somalischen Staatsangehörigkeit auch nur ansatzweise zu befassen. Die im Bescheid vom 12. Dezember 2016 enthaltene Angabe einer äthiopischen Staatsangehörigkeit des Klägers erfolgte dann wohl in der technischen Umsetzung der getroffenen Entscheidung mittels eines entsprechenden Textbausteins. Es liegt mithin eine rechtsirrige Annahme der Anerkennungsvoraussetzungen seitens des Bundesamts und damit eine Sachverhaltskonstellation vor, bei der das Bundesverwaltungsgericht in der o.g. Entscheidung vom 19. September 2000 den Anwendungsbereich des § 48 VwVfG als eröffnet erachtet hat.
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2.1.4 Das Bundesamt hat das ihm in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zugewiesene Rücknahmeermessen ausweislich der Ausführungen des Bescheids (S. 4) ermessensfehlerfrei (§ 114 Satz 1 VwGO) ausgeübt.
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Im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens hat das Bundesamt zwischen dem öffentlichen Interesse an der materiellen Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen und dem individuellen Interesse am Bestand der rechtskräftigen Entscheidung (Vertrauensschutz) abzuwägen. In Auseinandersetzung mit dem zu beurteilenden Einzelfall hat die Behörde insbesondere die Zumutbarkeit der durch die beabsichtigte Rücknahme für den Betroffenen und ggf. für Dritte eintretenden Situation sowie seit Erlass des Verwaltungsakts unter Umständen eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtslage zu würdigen und die widerstreitenden Interessen mit Blick auf die Auswirkungen der Rücknahme in dem konkret zur Entscheidung anstehenden Einzelfall gegeneinander abzuwägen (vgl. VG Sigmaringen, U.v. 12.7.2021 – A 13 K 1295/19 – juris Rn. 42).
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Dem ist das Bundesamt in dem angegriffenen Bescheid in nicht zu beanstandender Weise gerecht geworden. Es hat im Rahmen einer Interessenabwägung gewürdigt, dass sich der Kläger bereits seit Anfang Mai 2016 im Bundesgebiet aufgehalten hat und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG ist. Eine Aufenthaltsverfestigung aufgrund besonderer Integrationsleistungen des Klägers hat das Bundesamt den Einträgen im AZR nicht entnehmen können und auch im Rahmen des Anhörungsverfahrens wurde hierzu von Seiten des Klägers nichts vorgetragen. Das Bundesamt nahm daher in nicht zu beanstandender Weise an, dass das Bleibeinteresse des Klägers nach Aktenlage nicht höher zu bewerten ist als das öffentliche Interesse an einem rechtmäßigen Verwaltungshandeln, welches auch maßgeblich für die öffentliche Akzeptanz asylrechtlicher Entscheidungen sei.
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Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ergibt sich nichts anderes. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung zwar geltend gemacht, im Mai 2017 im Bundesgebiet eine Familie gegründet zu haben und Vater eines im April 2018 geborenen Jungen zu sein, welcher – wie die somalische Mutter des Kindes – im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt (§ 25 Abs. 2, 2. Alt. AufenthG) ist. Das familiäre Zusammenleben wird durch die streitgegenständliche Rücknahmeentscheidung jedoch nicht tangiert. Insbesondere steht eine Aufenthaltsbeendigung des Klägers nicht im Raum, da der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat (nachfolgend Ziff. 3). Ausländerrechtliche Konsequenz der streitgegenständlichen Rücknahmeentscheidung ist insoweit lediglich, dass der Kläger künftig keinen Aufenthaltstitel auf Grundlage des § 25 Abs. 2 AufenthG mehr erhält, sondern nach der Soll-Vorschrift des § 25 Abs. 3 AufenthG, wobei Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Falls, die der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage dieser Norm entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich sind. Auch die Berücksichtigung der für die im Bundesgebiet lebende Familie des Klägers eintretenden Situation steht der Rücknahmeentscheidung damit nicht entgegen.
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Soweit die Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung weiter geltend machte, dass keine grobe Fahrlässigkeit des Klägers bestehe und sein Vertrauen daher schutzwürdig sei, enthielt zwar das Anhörungsschreiben vom 24. Juli 2020 Ausführungen dazu, dass der Kläger die erforderliche Sorgfalt verletzt habe, weil er bestehenden Unklarheiten oder Zweifeln an der Richtigkeit des Bescheids vom 12. Dezember 2016 nicht nachgegangen sei. Dem streitgegenständlichen Bescheid selbst lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass zu Lasten des Klägers ein irgendgearteter Sorgfaltsverstoß in die Entscheidung eingestellt worden wäre. Im Gegenteil wird auf S. 4 des Bescheids, ausdrücklich gewürdigt, dass den Kläger kein Verschulden oder Mitverschulden an der rechtswidrigen Entscheidung treffe, weshalb ausnahmsweise eine Rücknahme nur für die Zukunft verfügt werde. Etwaige Abwägungsmängel im Rahmen der Anhörung wurden damit auch ohne entsprechenden Vortrag der Klägerseite noch vor Bescheidserlass erkannt und ausgeräumt, sodass sich der Bescheid als ermessensgerecht erweist. Generell steht ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers in den künftigen Fortbestand der Flüchtlingsanerkennung der Rücknahme des Bescheids ex nunc nicht entgegen (s. bereits Rn. 20). In Bezug auf die Gewährung von Flüchtlingsschutz bleibt auch zu berücksichtigen, dass der Flüchtlingsstatus von vornherein nicht zeitlich unbegrenzt gilt, sondern nur so lange gewährt wird, wie dessen tatbestandliche Voraussetzungen vorliegen (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Anerkannte Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für 3 Jahre (§ 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), die in der Folge verlängert werden kann. Auch wenn die – zum Zeitpunkt des Erlasses sowohl des Ausgangs- als auch des Rücknahmebescheids geltenden – Gesetzesvorgaben zur Regelüberprüfung der asylrechtlichen Begünstigung nach Ablauf von drei Jahren (§ 73 Abs. 2a AsylG a.F.) zum Januar 2023 abgeschafft wurden, bleibt das Bundesamt gem. § 73 b Abs. 1 AsylG weiterhin gesetzlich verpflichtet, den Widerruf oder die Rücknahme zu prüfen, sobald es Kenntnis von Umständen oder Tatsachen erhält, die einen Widerruf oder eine Rücknahme rechtfertigen könnten.
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Nach alledem begegnet die ex nunc ausgesprochene Rücknahmeentscheidung auch unter Ermessensgesichtspunkten keinen durchgreifenden Bedenken.
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2.1.5 Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG wurde deutlich gewahrt. Die Vorschrift ist dabei auch auf Fälle anwendbar, in denen die Behörde – wie vorliegend – bei voller Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat und nachträglich erkennt, dass sie den beim Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt hat (vgl. BVerwG – Gr. Sen, B.v. 19.12.1984, 1/84, 2/84 – NJW 1985, 819). Dahinstehen kann, ob die Entscheidungsfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst in Lauf gesetzt wird, das Bundesamt sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erhebliche, ggf. auch zugunsten des Betroffenen sprechenden Tatsachen erkannt und im Wege einer Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme „ausermittelt“ hat (kritisch: OVG Saarlouis, B.v. 17.10.2022 – 2 A 212/22 – juris Rn. 14). Denn die Jahresfrist ist vorliegend deutlich gewahrt, nachdem dem Bundesamt die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 12. Dezember 2016 ausweislich des in den Akten enthaltenen Prüfvermerks erstmals am 2. Juni 2020 aufgefallen ist.
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Die Anfechtungsklage gegen die Rücknahmeentscheidung der Ziff. 1 des Bescheids vom 12. Dezember 2016 bleibt damit ohne Erfolg.
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2.2 Der Kläger hat keinen Anspruch auf die hilfsweise geltend gemachte Gewährung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Das Bundesamt hat in Ziff. 2 des angegriffenen Bescheids die Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Bezug auf das Herkunftsland Somalia zutreffend verneint.
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Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
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2.2.1 Dass dem Kläger in Somalia die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Ferner hat der Kläger weder im Rahmen des behördlichen noch im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens vorgetragen, dass ihm bei einer Rückkehr nach Somalia von staatlichen bzw. nichtstaatlichen Stellen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht.
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2.2.2 Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
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Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr ins Herkunftsland (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 17). Maßgeblich ist dabei das Herkunftsland Somalia, dessen Staatsangehörigkeit der Kläger besitzt (s.o.). Zwar hat der Kläger nach seinen Angaben nie in Somalia gelebt, nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung leben jedoch Geschwister des Klägers weiterhin in Mogadischu. Damit ist vorliegend auf Mogadischu als Rückkehrort abzustellen, zumal sich somalische Staatsangehörige ohne sonstige Bezüge zu Somalia selbst ohne Verwandschafts- oder Clanbeziehungen am ehesten in Mogadischu niederlassen würden.
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Zwar geht das Gericht weiterhin davon aus, dass im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt in Mogadischu ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 15. Mai 2023 (im Folgenden: Lagebericht) hat Somalia den Zustand des „failed state“ überwunden, es bleibt aber ein sehr fragiler Staat. In vielen Gebieten der Gliedstaaten Süd-/ Zentralsomalias und in der Hauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Mogadischu im Rahmen dieses Konflikts allerdings keiner ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt.
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Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung führt. Vielmehr ist zu prüfen, ob von einem bewaffneten Konflikt in der Zielregion für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr ausgeht, die sich in der Person des Klägers so verdichtet, dass sie für diesen eine erhebliche individuelle Gefahr darstellt. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann dabei auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen, wie etwa berufsbedingter Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 − 10 C 13/10; U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – jew. juris). Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände kann eine Individualisierung ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 19 und U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 21). Für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls, bei der neben einer annährungsweisen quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos insbesondere auch Faktoren wie die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Betroffenen bei einer Rückkehr und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt, zu berücksichtigen sind (vgl. dazu insgesamt: EuGH, U.v. 10.6.2021 – Rs. C-901/19 – juris Rn. 33 ff.; BVerwG, B.v. 13.12.2021 – 1 B 85.21 – juris Rn. 4).
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Gemessen daran ergibt sich für normale Zivilisten in Mogadischu bei wertender Gesamtbetrachtung nach den verfügbaren Erkenntnismitteln (vgl. insbesondere: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Somalia, Stand 17. März 2023 – im Folgenden: BFA-Länderinformation) nicht, dass sie aufgrund der bloßen Anwesenheit in der Stadt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden.
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Demnach stellt sich die Sicherheitslage in Somalia und insbesondere in Mogadischu wie folgt dar:
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Somalia gilt zwar nicht mehr als „failed state“, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Nach Schätzungen sind im somalischen Bürgerkrieg zwischen 2007 und 2011 über 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen sind, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Nach wie vor herrscht in weiten Teilen Süd- und Zentralsomalias Bürgerkrieg. Die aktuelle Lage in Süd- und Zentralsomalia (außerhalb von Mogadischu) ist nach wie vor unübersichtlich und uneinheitlich – von einer wesentlichen und ausreichend dauerhaften Verbesserung der Sicherheitslage kann trotz einer gewissen Stabilisierung nicht ausgegangen werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Relativ sichere Zufluchtsgebiete sind schwierig zu bestimmen und von Ausweichgrund sowie den persönlichen Umständen abhängig. Das Clansystem hat weiterhin eine hohe Bedeutung und auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es zu Diskriminierungen aufgrund der Clanzugehörigkeit. Rückkehrer sind auf eine Unterstützung durch Clanmitglieder bzw. Mitglieder der Kernfamilie angewiesen, andernfalls besteht die Gefahr, dass Rückkehrer unter prekären Verhältnissen in Lagern für Binnenvertriebene unterkommen müssen. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) weiterhin gegen die radikalislamistische Al Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al Shabaab oder anderer Milizen. Al Shabaab führt weiterhin Angriffe auf Stellungen der AMISOM und der somalischen Armee sowie auf zivile Ziele durch. Zivilisten kommen im Kreuzfeuer, durch Sprengsätze oder Handgranaten ums Leben oder werden verwundet. Die Al Shabaab wurde zwar aus vielen Städten vertrieben, es ist aber nicht möglich zu definieren, wie weit der Einfluss oder die Kontrolle von AMISOM und somalischer Armee von einer Stadt hinausreicht. Der Übergang zum Gebiet der Miliz ist fließend und unübersichtlich. Im Umfeld (Vororte, Randbezirke) der meisten Städte unter Kontrolle von AMISOM und Regierung in Süd-/ Zentralsomalia verfügt Al Shabaab über eine verdeckte Präsenz, in den meisten Städten selbst über Schläfer. Manche Städte unter Kontrolle von AMISOM und Regierung können als „Inseln“ im Gebiet der Al Shabaab beschrieben werden. Jedenfalls verfügt Al Shabaab über ausreichend Kapazitäten, um auch in Städten unter Kontrolle von AMISOM und Regierung Anschläge zu verüben. Es gibt in allen Regionen in Süd-/ Zentralsomalia Gebiete, wo Al Shabaab Präsenz und Einfluss hat und die lokale Bevölkerung insbesondere zu Steuerzahlungen zwingt. Grundsätzlich finden in fast allen Regionen Somalias südlich von Puntland regelmäßig örtlich begrenzte Kampfhandlungen zwischen AMISOM bzw. somalischen Sicherheitskräften und Al Shabaab statt.
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Während die Hälfte der Hauptstadt Mogadischu noch vor zehn Jahren durch die Al Shabaab kontrolliert wurde, steht die Stadt heute unter Kontrolle von Regierung und AMISOM. Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass Al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen. Generell hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahren verbessert. Die Regierung unternimmt einiges, um die Sicherheit in der Stadt zu erhöhen. Al Shabaab kann weniger Material und Operateure nach Mogadischu schleusen. Allerdings werden Sicherheitsmaßnahmen nicht permanent aufrechterhalten; werden sie vernachlässigt, steigt auch die Zahl der Anschläge durch Al Shabaab. Die in Mogadischu gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte reicht weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Zugleich bietet die Stadt für Al Shabaab aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Es kommt täglich zu Zwischenfällen in Zusammenhang mit der Miliz. Mogadischu bleibt ein Hotspot terroristischer Gewalt, wobei nicht alle Teile der Stadt gleich unsicher sind. Im Visier von Al Shabaab stehen v.a. Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierte Orte sind dagegen kein Ziel von Al Shabaab. Die Miliz ist im gesamten Stadtgebiet verdeckt präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich. Al Shabaab kann weiterhin das Stadtgebiet infiltrieren und ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet auch größere Anschläge zu verüben und verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Hauptziele von Al Shabaab sind die Regierung und die internationale Gemeinde. Dabei hat sich die Miliz in erster Linie auf die Durchführung von Sprengstoffanschlägen und gezielten Attentaten verlegt, wobei sie sowohl gegen harte (militärische) als auch weiche Ziele (z.B. Restaurants, Hotels und Märkte) vorgeht. Üblicherweise verfolgt Al Shabaab zielgerichtet jene Personen, derer sie habhaft werden will. Unklar ist, für welche Ziele die Miliz bereit ist, ihre Kapazitäten tatsächlich einzusetzen. Einem erhöhten Risiko sind v.a. solche Personen ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von der Miliz als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden (zu den einzelnen Risikogruppen vgl. BFA-Länderinformation, S. 200 ff.). „Normale“ Zivilisten greift Al Shabaab nicht spezifisch an. Für die Zivilbevölkerung besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein und so zum „Kollateralschaden“ von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. Die Menschen wissen dabei um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Ungeachtet der Konflikte mit Al Shabaab ist jedoch auch die allgemeine Gewaltkriminalität in Mogadischu hoch, zudem kommt es zu Rachemorden im Zuge von Clankonflikten. Insgesamt bleibt die Sicherheitslage in Mogadischu volatil.
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Eine quantitative Bewertung der Gefahrendichte erscheint mangels belastbarer aktueller Zahlen zu den Einwohnerzahlen einerseits und der Opferzahlen in Hinblick auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko andererseits kaum verlässlich möglich (vgl. bereits BayVGH, U.v. 12.2.2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 42 ff; U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663 – juris Rn. 34; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 40 ff; VGH BaWü, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 48.). Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer weiterhin unklar und heterogen. Für Gesamtsomalia wird die Gefahrendichte im Rahmen einer Hochrechnung bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 17 Mio. seitens des BFA zuletzt auf 1:12117 geschätzt (vgl. BFA-Länderinformation, S. 36); zur Situation speziell in Benadir/ Mogadischu vgl. BFA-Länderinformation S. 53.
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Dessen ungeachtet stellt sich die Situation in Mogadischu bei wertender Gesamtbetrachtung nicht so dar, dass jede Zivilperson aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19; BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292; U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663; VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19; U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A, SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – jew. juris m.w.N). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Gesamtzahl der zivilen Opfer zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhten Gefährdungspotentialen betroffen haben dürfte. Bedingt durch die von Al Shabaab verfolgte Strategie der asymmetrischen Kriegsführung und der strategischen Auswahl der Anschlagsziele waren und sind bestimmte Berufsgruppen wie Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. generell mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Politiker, Deserteure mutmaßliche Spione und Kollaborateure in besonderer Weise betroffen. Auch wenn die Al Shabaab einige Menschen in Somalia als „legitime Ziele“ erachtet, gilt dies für die meisten Zivilisten nicht (vgl. hierzu etwa die Entschuldigung und Beileidsbekundung der Miliz gegenüber zivilen Opfern eines verheerenden Sprengstoffanschlags in Mogadischu Ende 2019, www. tageschau.de/ausland/anschlag-somalia-al-shabaab-101.html). Hierin sieht das Gericht einen wesentlichen Punkt (so auch: VGH BaWü, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 52). Zwar besteht für Zivilisten immer das Risiko, „zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein, Opfer nimmt die Al Shabaab insoweit in Kauf. Einfache Zivilisten können ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags zu werden, zwar nicht vollständig ausschließen, zumindest aber minimieren, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von Al Shabaab bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören vor allem Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und AMISOM. Generell ist ein „normaler Zivilist“ (ohne Verbindung zur Regierung, zu Sicherheitskräften, zu Behörden, zu NGOs oder internationalen Organisationen) damit keinem Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt.
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Zusammengefasst ergibt sich bei wertender Gesamtbetrachtung damit, dass in Mogadischu weiterhin eine ausgesprochen fragile Sicherheitslage herrscht, wobei die Gefährdungssituation der Stadtteile differiert. Insbesondere der Umstand, dass Al Shabaab Angriffe nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richtet, unterscheidet die Methoden der Miliz aber von jenen anderer Terrorgruppen. Auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel ist das Niveau willkürlicher Gewalt nicht so hoch, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre. Bei dem Kläger liegen keine individuell gefahrerhöhenden Umstände vor, die dazu führen würden, dass er bei einer Rückkehr nach Mogadischu im Vergleich zur dort lebenden Zivilbevölkerung einem erhöhten Risiko ausgesetzt wäre, Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts zu werden. Allein die schlechte wirtschaftliche oder humanitäre Situation in einem Land genügt weder für die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG noch auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (vgl. jew. in Bezug auf Somalia: BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 30.11.2023 – OVG 4 B 8/22 – juris).
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3. Die Klage hat jedoch Erfolg, soweit der Kläger hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf sein Herkunftsland Somalia begehrt.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Für eine Verletzung des Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23; U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 10). Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Bedingungen im Herkunftsland allein können nur in „äußersten Ausnahmefällen“ (EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785 ff., Rn. 60 a.E.) Art. 3 EMRK verletzen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 25; U.v. 20.5.2020, a.a.O., Rn. 10 a.E.). In Bezug auf Somalia geht der EGMR in nunmehr gefestigter Rechtsprechung – und in Abkehr zu seiner früheren Rechtsprechung – nicht (mehr) davon aus, dass die allgemeine Lage dort so ernst wäre, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt (EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785; BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – juris Rn. 32; VGH BaWü, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 33 ff. jew. m.w.N.). Demnach sind die vorhersehbaren Folgen der Rückführung im Einzelfall zu beurteilen und zu prüfen, ob die Abschiebung ins Heimatland Art. 3 EMRK unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Betroffenen verletzen würde (vgl. EGMR, U.v. 10.9.2015, a.a.O. – Rn. 60 und 68 a.E.).
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Vor dem Hintergrund der schwierigen humanitären Gesamtsituation in Somalia ist vorliegend aufgrund der individuellen Umstände des Klägers nicht anzunehmen, dass im Falle einer Rückkehr nach Somalia eine Existenzsicherung des Klägers und seiner Familie auf Mindestniveau ausreichend verlässlich gewährleistet ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht für die Gefahrenprognose auch dann in der Regel davon auszugehen, dass Eltern und ihre minderjährigen Kinder gemeinsam zurückkehren, wenn einzelne Familienmitglieder bereits einen Schutzstatus bzw. Abschiebungsschutz genießen (BVerwG, U.v. 4.Juli 2019 – 1 C 49/18 – juris). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, im Mai 2017 eine Familie gegründet zu haben und ergänzend hierzu eine Vaterschaftsanerkennung für seinen am 11. April 2018 im Bundesgebiet geborenen Sohn vorgelegt. Das familiäre Zusammenleben wird dabei auch durch die aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlichen, übereinstimmenden Wohnanschriften bestätigt.
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Der Kläger selbst ist nach seinen – auch von Seiten des Bundesamts als glaubhaft eingeschätzten – Angaben in Äthiopien geboren und aufgewachsen. Er hat sich damit nie in Somalia aufgehalten und ist mit den dortigen Lebensverhältnissen nicht vertraut, was eine Integration des Klägers auch auf dem Arbeitsmarkt zumindest erschweren dürfte. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben, weiterhin Kontakt zu seinen in Mogadischu lebenden Geschwistern zu haben. Auch diese sind nach seinen glaubhaften Angaben jedoch bereits auf Unterstützungsleistungen durch NGO’s angewiesen, sodass von dieser Seite keine tragfähige Unterstützung des Klägers und seiner Familie zu erwarten ist. Selbst unter Berücksichtigung potentieller Erwerbsmöglichkeiten des Klägers und ggf. der Kindsmutter kann angesichts der derzeit weiterhin schwierigen Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia einschließlich der Hauptstadt Mogadischu nicht davon ausgegangen werden, dass die Familie den Alltag in Mogadischu ohne nennenswerte Unterstützung durch ein tragfähiges Netzwerk familiärer und/ oder clanbasierter Verbindungen ausreichend bestehen können wird. Die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für die Familie des Klägers erscheint damit vorliegend nicht in ausreichender Weise gesichert. Dies gilt unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse des Kindes insbesondere für das Finden einer adäquaten Unterkunft, die Gewährleistung der Grundsicherung und der sonstigen elementaren Lebensbedürfnisse wie die Versorgung mit Nahrung, Wasser und Kleidung sowie den Zugang zu einer Gesundheitsgrundversorgung.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.