Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 27.11.2024 – 3 K 45/24
Titel:

A1-Bescheinigung und Sozialversicherung

Normenketten:
VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 68
EStG § 62 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b, § 64 Abs. 2 S. 2, § 65
FGO § 74
AEUV Art. 267 Abs. 2, Abs. 3
Leitsatz:
Der Umstand, dass ein Kindsvater während seiner Entsendungstätigkeit weiterhin den rumänischen Rechtsvorschriften unterstellt ist, entfaltet keine europarechtliche Sperrwirkung hinsichtlich des deutschen Kindergeldanspruchs (BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953, Rz 16),   (Rn. 49). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Familienleistung, Lohnsteuerbescheinigung, Mitgliedstaat, Arbeitnehmer, Prioritätsregelung, Beschwerde, A1-Bescheinigung, Sozialversicherung, Kindergeld, Differenzkindergeldanspruch
Fundstelle:
BeckRS 2024, 45231

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1
Streitig ist das Kindergeld für B für März 2019 bis Februar 2021.
2
Die Klägerin ist die Mutter des Kindes B und lebte im Klagezeitraum zusammen mit dem Kind in Rumänien; mit dem Kindsvater ist sie verheiratet. B befand sich im Streitzeitraum in Schulausbildung.
3
Die Prozessbevollmächtigten beantragten für die Klägerin mit Antrag auf Kindergeld vom 15.03.2019 und 19.02.2021 Kindergeld u.a. für B. Sie führten aus, dass sie für das Kind in Rumänien Kindergeld erhalte. Weiter gaben sie an, dass der Vater des Kindes, C, von Februar 2019 bis Februar 2021 von seinem Arbeitgeber in Rumänien nach Deutschland entsandt worden sei, Lohnunterlagen aus Deutschland jedoch nicht vorlägen, da der Lohn in Rumänien ausgezahlt sowie versteuert und auch die Sozialversicherungsbeiträge in Rumänien abgeführt würden.
4
Hierzu legten sie die A1-Bescheinigung vom 15.03.2019 vor, wonach der Kindsvater vom 20.02.2019 bis 19.02.2021 von der D in Rumänien, an die E in Deutschland entsandt und dort beschäftigt sei und die rumänischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien. Weiter wurde eine Arbeitgeberbescheinigung der D, Rumänien vom 21.05.2021 vorgelegt, in der angegeben ist, dass C vom 20.02.2019 bis 19.02.2021 in einen ausländischen Betrieb in Deutschland entsandt wurde und ein Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit nicht besteht bzw. bestand, weil er in Rumänien angestellt war.
5
Die in Rumänien für Familienleistungen zuständige Behörde teilte mit Schriftsatz vom 07.08.2023 mit, dass für B im Zeitraum März 2019 bis Februar 2021 Leistungen ausbezahlt wurden (02 bis 03/2019: 84 RON; 04 bis 12/2019: 150 RON; 01 bis 07/2020: 156 RON; 08 bis 12/2020: 185 RON; 01 bis 02/2021: 214 RON). Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf deren Auskunft verwiesen.
6
Die Familienkasse lehnte mit Bescheid vom 04.10.2023 den Antrag auf Kindergeld für das Kind B für den Zeitraum März 2019 bis Februar 2021 ab.
7
Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Klägerin mit dem Kind ihren Wohnsitz im Klagezeitraum in Rumänien gehabt hätte. Aufgrund Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei Rumänien vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig. Da in Rumänien für das Kind B ein Anspruch auf Kindergeld bestehe, könne deutsches Kindergeld nicht gewährt werden.
8
Mit dem Einspruch wurde für die Klägerin im Wesentlichen vorgetragen, dass der Kindsvater vor Beginn der Entsendung nicht in Rumänien sozialversichert gewesen sei und auf den Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für den Zeitraum vom 01.01. bis zum 19.02.2019 und auf die in Deutschland abgeführte Lohnsteuer verwiesen.
9
Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 14.12.2023 als unbegründet zurück.
10
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass grundsätzlich ein Anspruch auf deutsches Kindergeld für ein Kind mit Wohnort in Rumänien bestehe. Gleichzeitig stünden aber auch ausländische Familienleistungen in Rumänien zu. Diese Anspruchskonkurrenz sei anhand der Koordinierungsregelungen der Europäischen Union zu lösen.
11
Hiernach sei maßgeblich, ob in den betreffenden Staaten eine Erwerbstätigkeit ausgeübt bzw. eine Rente bezogen oder der Anspruch auf Familienleistungen allein durch den Wohnort ausgelöst werde (Art. 67, 68 der Verordnung – VO – (EG) Nr. 883/2004, Beschluss F1 der Verwaltungskommission der Europäischen Union vom 12.06.2009).
12
Nach den vorliegenden Unterlagen unterliege die Klägerin weder durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit noch durch den Bezug einer Rente den deutschen Rechtsvorschriften. Der Kindsvater falle als entsandter Arbeitnehmer weiterhin unter die rumänischen Rechtsvorschriften. Deswegen bestehe Anspruch auf Familienleistungen nur in dem Wohnsitzstaat des Kindes (Art. 68 Abs. 1, Buchstabe b, Ziffer iii; Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004).
13
Die Prozessbevollmächtigten haben für die Klägerin Klage erhoben.
14
Die Klägerin habe einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in Verbindung mit § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Hingegen finde Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 keine Anwendung. Diese Vorschrift regele zwar, dass ein Arbeitnehmer, der in einen Mitgliedstaat entsendet wurde, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaates (hier Rumänien) unterliege, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreite. Die Verordnung würde jedoch voraussetzen, dass der in einen anderen Mitgliedstaat entsandte Arbeitnehmer unmittelbar vor Beginn seiner Beschäftigung bereits dem Sozialversicherungssystem des Mitgliedstaats angeschlossen sei, in dem sein Arbeitgeber niedergelassen ist. Soweit ein Arbeitnehmer im Monat (unmittelbar) vor der Beschäftigung dem Sozialversicherungssystem des Entsendestaates (hier Rumänien) nicht unterlegen habe, unterliege er den Vorschriften des Beschäftigungsstaates – mithin also Deutschland. Dies ergebe sich aus dem von der Europäischen Kommission herausgegeben Praktischen Leitfaden zu den Rechtsvorschriften, die für Erwerbstätige in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz gelten (Teil I, Ziffer 5 Fallbespiel c).
15
Die Beklagte habe auch eine eigene Prüfkompetenz und -pflicht, ob die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 erfüllt sind, da sie den Kindergeldanspruch anhand der Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b, Ziffer iii und Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 prüfe. Sie sei verpflichtet, Zweifeln an den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Entsendung nachzugehen. Sie habe den Kindergeldanspruch anhand der bestehenden Rechtslage und der tatsächlichen Umstände und nicht anhand irgendwelcher Annahmen einer anderen Behörde zu prüfen. Zwar erfolge die Ausstellung der A1-Bescheinigung grundsätzlich auch im Rahmen der Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 (vgl. § 106 Abs. 1 SGB IV). Die ausstellende Behörde könne aber von falschen Tatsachen ausgehen. Daran dürfe sich die Beklagte nicht gebunden sehen, da sie nicht „sehenden Auges“ eine falsche Entscheidung hinnehmen dürfe. Dies zeige sich an der vergleichbaren Situation bei Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG: Die Beklagte sei bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b EStG nicht an eine fälschlich vom Finanzamt angenommene unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 EStG gebunden, wenn eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG hätte erfolgen müssen. Die Beklagte nehme hier auch eine eigene Prüfpflicht hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen des § 62 EStG wahr und das, obwohl eine Behörde aus dem eigenen Rechtskreis (Steuern) eine falsche Entscheidung getroffen habe.
16
Weiter habe die Beklagte die Kommentierung der Europäischen Kommission zu berücksichtigen, da deren Auslegung der VO (EG) Nr. 883/2004 für die Beklagte Bindungswirkung habe. Die Kommission lege eindeutig fest, dass Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 keine Anwendung finde, wenn ein Arbeitnehmer vor der Entsendung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Entsendestaat der Sozialversicherungspflicht unterliege.
17
Der Kindsvater, Herr C, sei vom 26.11.2018 bis zum 19.02.2019 in Deutschland beim Arbeitgeber E beschäftigt gewesen. In dieser Zeit habe er den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften in Deutschland unterlegen. Die Beschäftigung sei dann ab März 2019 aufgrund einer Entsendung erfolgt. In den Beschäftigungszeiten von November 2018 bis Februar 2019 habe für den Kindsvater in Deutschland und ab März 2019 in Rumänien eine Sozialversicherungspflicht bestanden. Die Entsendung sei erst zum 01.03.2019 genehmigt worden und habe bis zum 19.02.2021 gedauert.
18
Die Prozessbevollmächtigten beantragen, unter Aufhebung des Kindergeldbescheids vom 04.10.2023, in Form der Einspruchsentscheidung vom 14.12.2023, der Klägerin Kindergeld für das Kind B für März 2019 bis Februar 2021 in gesetzlicher Höhe abzüglich der rumänischen Familienleistung zu gewähren.
19
Für den Fall des Unterliegens wird ein Vorabentscheidungsverfahren wegen des europarechtlichen Bezugs angeregt und die Zulassung der Revision beantragt, da die Rechtsfrage eine große Anzahl von Fällen betreffe.
20
Es wird die Vorlage an den EuGH mit folgenden Fragen beantragt,
Ist Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 im Hinblick auf die Kommentierung im Praktischen Leitfaden „Die Rechtsvorschriften, die für Erwerbstätige in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz gelten,“ Teil I, Ziffer 5, herausgegeben durch die Europäische Kommission, dahingehend auszulegen, dass es der Annahme einer Entsendung entgegensteht, wenn ein Arbeitnehmer vor dem Beginn der Beschäftigung mindestens einen Monat lang der Sozialversicherungspflicht im Beschäftigungsstaat unterlag? Ist Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 dahingehend auszulegen, dass die im Beschäftigungsstaat für einen sozialrechtlichen Anspruch im Sinne dieser Verordnung zuständige Behörde das Bestehen einer Sozialversicherungspflicht im Beschäftigungsstaat prüfen muss?
21
Die Familienkasse beantragt
Klageabweisung.
22
Für den Fall des Unterliegens wird die Zulassung der Revision beantragt.
23
Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor:
24
Nach Auffassung der Beklagten liege die Feststellungslast hinsichtlich der Sozialversicherungspflicht des Kindsvaters bei der Klägerin. Es sei auch nicht Aufgabe der Finanzgerichtsbarkeit über die Sozialversicherungspflicht des Kindsvaters zu entscheiden. Diese Entscheidung obliege den zuständigen Sozialversicherungsträgern. Sofern die Klägerin davon ausgehe, dass der Kindsvater im Streitzeitraum der Sozialversicherungspflicht in Deutschland unterlegen und daher eine Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt habe, möge sie entsprechende Nachweise vom zuständigen Sozialversicherungsträger vorlegen. Nach derzeitiger Aktenlage gehe die Beklagte jedoch aufgrund der vorliegenden A1-Entsendebescheinigung vom 15.03.2019 von einer Sozialversicherungspflicht in Rumänien aus.
25
Diese „A1-Bescheinigungen“ würden den zuständigen Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats -hier: Deutschlandinsoweit binden, als sie bescheinigten, dass der betreffende Arbeitnehmer – hier: der Ehemann der Klägerin – im Bereich der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Leistungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem der in Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 aufgezählten Zweige und Systeme stehen, den Rechtsvorschriften des Ausstellermitgliedstaats – hier: Rumänien – unterliege (vgl. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21.09.2023, 12 K 1355/23, Rn. 24).
26
Die Beklagte dürfe sich daher auf die vorliegenden Angaben in der „A1-Bescheinigung“ verlassen und müsse diese zwingend ihrer Prüfung zugrunde legen. Entgegen der Auffassung der Klägerseite stehe ihr insoweit kein eigenes Prüfungsrecht zu. Sofern die Klägerin der Auffassung sei, dass die Dokumente („A1-Bescheinigung“) nicht korrekt wären bzw. dass der Ehemann der Klägerin nicht den rumänischen Rechtsvorschriften unterliege, sei es an der Klägerin, dies mit dem entsprechenden Sozialversicherungsträger zu klären. Die Beklagte könne sich nicht über die in der „A1-Bescheinigung“ getroffene Entscheidung des zuständigen Sozialversicherungsträgers hinwegsetzen und die entsandte Person in ein anderes Sozialversicherungssystem eingliedern.
27
Das Gericht hat die Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 05.06.2024 aufgefordert, entsprechende Nachweise vom zuständigen Sozialversicherungsträger über eine Sozialversicherungspflicht in Deutschland vorzulegen, soweit die Prozessbevollmächtigten davon ausgehen, dass der Kindsvater im Streitzeitraum der Sozialversicherungspflicht in Deutschland unterlegen und daher eine Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt habe.
28
Die Prozessbevollmächtigten haben darauf mitgeteilt, dass für den Klagezeitraum keine Lohnsteuerbescheinigungen vorgelegt werden könnten. Der Arbeitgeber des Klägers (richtig wohl: Kindsvaters) stelle bei Entsendung keine Lohnsteuerbescheinigungen aus. Der Arbeitgeber habe die Beschäftigungszeiten lediglich über die Arbeitsbescheinigung vermerkt, dass keine Sozialversicherung in Deutschland abgeführt worden sei. Entsprechend lägen auch keine Nachweise über in Deutschland abgeführte Sozialversicherung im streitgegenständlichen Zeitraum vor.
29
Aus der Kindergeldakte ergibt sich noch, dass die Familienkasse mit Bescheid vom 27.11.2023 zugunsten der Klägerin für deren ältere Tochter F Kindergeld von März 2019 bis Juli 2020 (Ende des Studiums) festgesetzt hat.
30
Zur Begründung ist im Bescheid ausgeführt, dass laut den vorliegenden Unterlagen für das Kind in Rumänien aus nationalen Gründen kein Anspruch auf Familienleistungen bestehe. Daher werde deutsches Kindergeld in voller Höhe gewährt.
31
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis dazu erklärt, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 90 Abs. 2 FGO). Eine anderslautende Erklärung der Prozessbevollmächtigten vom 07.03.2024 wurde mit Schriftsatz vom 13.06.2024 geändert.
32
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und die dem Gericht vorliegende, elektronisch geführte Kindergeldakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

33
Die Klage ist unbegründet.
34
Der Ablehnungsbescheid vom 04.10.2023 in Form der Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 14.12.2023 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
35
1. Der Senat sieht keine Veranlassung, das Verfahren gemäß § 74 FGO i.V.m. Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – auszusetzen zwecks Vorlage an den EuGH im Hinblick auf die von den Prozessbevollmächtigten gestellten Fragen.
36
a) Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen, wenn eine Frage zur Auslegung der Verträge der Europäischen Union gestellt wird und das Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. BVerfG-Beschluss vom 02.12.2014 2 BvR 655/14, WM 2015, 122, Rn. 14).
37
b) Eine Vorlageverpflichtung besteht nur für einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden können. Den Prozessbevollmächtigten steht im Streitfall jedoch die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision offen. Eine Vorlage an den EuGH ist zudem im Hinblick auf die Überzeugung des Senats, dass die vorliegend maßgebliche deutsche Rechtslage europarechtskonform ist, nicht geboten. Die Auslegung des von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Dezember 2013 herausgegebenen Praktischen Leitfadens ist für die Entscheidung des Gerichts unerheblich (vgl. Zif. 4). Einen Verstoß des im Streitjahr geltenden Art. 12 der VO (EG) Nr. 883/2004 gegen die europarechtlich garantierten Grundfreiheiten, eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder einen anderen Verstoß gegen Europarecht vermag das Gericht nicht zu erkennen.
38
2. Die Klägerin hat zwar selbst nicht die nationalen Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erfüllt, diese werden ihr aber über den Kindsvater zugerechnet. Danach hat Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
39
a) Bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG sind im Streitfall die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten, weil der Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Die Grundverordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 – Durchführungsverordnung –) gelten seit dem 01.05.2010 (vgl. Art. 90 Abs. 1, Art. 91 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 96 Abs. 1, Art. 97 der VO Nr. 987/2009). Im Streitfall ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, da die Klägerin und der Kindsvater als rumänische Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 von dieser erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld nach Art. 3 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 (BFH-Urteil vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183, Rn. 18).
40
b) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 02.02.2022 III R 7/20, BFH/NV 2022, 739; vom 04.02.2016 III R 17/13, BStBl. II 2016, 612, Rz. 18, m.w.N). So ist nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22.10.2015 (Trapkowski C-378/14, ECLI:EU:C:2015:720, Rz. 41) Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.
41
c) Der Kindsvater hatte im Streitzeitraum wohl seinen Wohnsitz, zumindest aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt, in Deutschland. Dies ist unter den Beteiligten auch nicht streitig.
42
3. Allerdings ist der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 im Streitzeitraum vollständig ausgeschlossen.
43
a) Ist – wie im Streitfall – der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953 Tz. 12 und vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183 m.w.N.; Finanzgericht München, Urteil vom 23.08.2022 12 K 886/21; Hildesheim in: Bordewin/Brandt, EStG § 65 Rn. 107).
44
b) Personen, für die die VO Nr. 883/2004 gilt, unterliegen gemäß Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats. Da der Kläger seine Erwerbstätigkeit in Deutschland ausführt, unterliegt er somit grundsätzlich den deutschen Rechtsvorschriften.
45
c) Allerdings unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, gemäß Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Der Kindsvater wurde vom 20.02.2019 bis zum 19.02.2021 und damit nicht mehr als 24 Monate von seinem rumänischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt. Die Sozialversicherungspflicht bestand nach der Anlage A1 und der Arbeitgeberbescheinigung der D, Rumänien vom 21.05.2021 in Rumänien. Ein Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit bestand in diesem Zeitraum nach der Bescheinigung vom 21.05.2021 nicht. Die vorliegende A1-Bescheinigung ist zwar in rumänischer Sprache abgefasst, das verwendete Formblatt A1 ist jedoch EUweit gleichlautend und liegt dem Gericht in deutscher Sprache vor. Eine Übersetzung ist daher nicht veranlasst.
46
d) Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 muss ein Unterschiedsbetrag – hier: deutsches Differenzkindergeld – nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird. Die VO Nr. 883/2004 ist vorliegend anwendbar (unter 2). Zudem wird der Anspruch der Klägerin auf deutsches Kindergeld ausschließlich durch ihren Wohnort und den der Tochter in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Deutschland – hier: Rumänien – ausgelöst. Der deutsche Kindergeldanspruch des Kindsvaters wurde ausschließlich durch seinen Wohnort bzw. gewöhnlichen Aufenthalt ausgelöst. Während seiner Entsendungstätigkeit unterlag der Kindsvater weiterhin den rumänischen Rechtsvorschriften, so dass dessen Familienleistungsansprüche in Rumänien durch diese Beschäftigung ausgelöst und gegenüber dem infolgedessen in Deutschland (ausschließlich) durch den Wohnort ausgelösten Kindergeldanspruch vorrangig sind (Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004).
47
4. Weder dem Art. 12 noch dem Art. 68 der VO Nr. 883/2004 lässt sich entnehmen, dass die betreffende Person unmittelbar vor dem Entsendezeitraum dem Sozialversicherungssystem des Entsendestaates unterlegen haben muss. Art. 14 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 987/2009 ist im Streitfall nicht einschlägig, da weder die Klägerseite vorgetragen hat noch Hinweise dafür vorliegen, dass der Kindsvater im Hinblick auf die Entsendung eingestellt wurde. Die Prozessbevollmächtigten verweisen darauf, dass sich aus dem Praktischen Leitfaden zu den Rechtsvorschriften, die für Erwerbstätige in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz gelten, etwas anderes ergibt. Dieser Leitfaden ist jedoch für die Entscheidung des Senats unerheblich. Das Gericht ist an Recht und Gesetz gebunden, jedoch nicht an eine Arbeitshilfe der Verwaltung. Der Leitfaden wurde von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Dezember 2013 herausgegeben. Es handelt sich hierbei um ein Arbeitsinstrument, das Verwaltungs- und Auslegungsfragen regeln soll. Dieser Leitfaden kann nach dem auf Seite 2 enthaltenen Hinweis jedoch nicht als offizielle Auffassung der Kommission angesehen werden.
48
5. Die Bescheinigung A1, dass der Kindsvater für die Zeit seiner Entsendung in Rumänien sozialversichert ist, binden den zuständigen Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats – hier: Deutschland – insoweit, als sie bescheinigen, dass der betreffende Arbeitnehmer im Bereich der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Leistungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem der in Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 aufgezählten Zweige und Systeme stehen, den Rechtsvorschriften des Ausstellermitgliedstaats – hier: Rumänien – unterliegt (Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21.09.2023 12 K 1355/23, juris). Folglich bindet die A1-Bescheinigung den Senat dahingehend, dass der Kindsvater – in Bezug auf Familienleistungen i.S. des Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004 – weiterhin den rumänischen Rechtsvorschriften unterliegt. Im Übrigen hat die Klägerseite auch auf Nachfrage des Gerichts keine Umstände für eine im Klagezeitraum bestehende Sozialversicherungspflicht in Deutschland benannt, sondern mit Schriftsatz 13.06.2024 nochmals die Arbeitgeberbescheinigung der D, Rumänien, vom 21.05.2021 vorgelegt, in der angegeben ist, dass der Kindsvater vom 20.02.2019 bis 19.02.2021 in einen ausländischen Betrieb in Deutschland entsandt wurde und ein Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit nicht besteht bzw. bestand, weil er in Rumänien angestellt war.
49
6. Schließlich wohnt die Tochter der Klägerin in Rumänien – mithin in einem anderen EU-Mitgliedstaat –, so dass sämtliche Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 erfüllt sind. Zwar entfaltet der Umstand, dass der Kindsvater während seiner Entsendungstätigkeit weiterhin den rumänischen Rechtsvorschriften unterstellt ist, keine europarechtliche Sperrwirkung hinsichtlich des deutschen Kindergeldanspruchs (BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953, Rz 16; vom 25.07.2019 III R 34/18, BStBl. II 2021, 20 Rz. 22; vom 16.05.2013 III R 8/11, BStBl. II 2013, 1040, Rz. 13, jeweils m.w.N.). Da in Rumänien für die Tochter B – anders als bei der Tochter F – aber ein Familienleistungsanspruch der Klägerin bestand und auch tatsächlich ausgezahlt wurde (vgl. EuGH-Urteil vom 25.04.2024 C-36/23, DStR 2024, 1237), ist auch ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland ausgeschlossen, da der Kindergeldanspruch der Klägerin in Deutschland ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wurde und das Kind im anderen Mitgliedstaat – hier: Rumänienwohnt (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004, bestätigt durch BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953, Rz 16; vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl. II 2018, 717, Rz 28 f.).
50
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Entscheidung der gefestigten Rechtsprechung folgt und keiner der Tatbestände des § 115 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 FGO im Streitfall gegeben ist.