Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 02.12.2024 – 3 K 1110/23
Titel:

Aussschluss von Kindergeldanspruch in Mitgliedstaat

Normenketten:
EStG § 62 Abs. 1, § 65, § 70 Abs. 2
VO (EG) 883/2004 Art. 12, Art. 67, Art. 68
AO § 37 Abs. 2
Leitsatz:
Ist – wie im Streitfall – der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953 Tz. 12 und vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183 m.w.N.; Finanzgericht München, Urteil vom 23.08.2022 12 K 886/21; Hildesheim in: Bordewin/Brandt, EStG § 65 Rn. 107),  (Rn. 39). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kindergeld, Arbeitsvertrag, Entsendung, Rechtsvorschrift, Familienleistung, Unterkunft, Familienkasse, Arbeitslosigkeit, Differenzkindergeld, Aufhebungsentscheidung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 45228

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1
Streitig ist das Kindergeld für die Kinder A und B für den Zeitraum August 2015 bis Februar 2018.
2
Die Klägerin legte mit dem Kindergeldantrag vom 26.08.2015 eine Meldebestätigung der Gemeinde C vom 23.07.2015 vor, wonach sie mit den Kindern und dem Vater der Kinder, D, seit dem 15.07.2015 unter der Anschrift … in C als einziger Wohnung gemeldet ist. Die Klägerin und der Kindsvater gaben mit Schreiben vom 06.09.2015 an, dass sie kein Kindergeld in Italien bezogen haben bzw. beziehen.
3
Der Klägerin wurde daraufhin (mit Bescheid vom 26.10.2015) Kindergeld für beide Kinder ab August 2015 in gesetzlicher Höhe gewährt.
4
Die Klägerin teilte mit Schreiben vom 17.11.2017 mit, dass sie mittlerweile mit den Kindern in E wohne und sie weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig sei. Weiter übersandte sie am 15.12.2017 eine Arbeitgeberbescheinigung, wonach der Kindsvater bei der Firma F in Italien beschäftigt und seit dem 08.07.2012 nach Deutschland entsandt sei.
5
Auf die Aufforderung der Familienkasse u.a. Unterlagen über das Beschäftigungsverhältnis des Kindsvaters (Arbeitsvertrag, Entsendevertrag, Anfrage der Beschäftigung bei deutscher Firma), Bescheinigungen über zustehende italienische Familienleistungen ab August 2015 und Nachweise über den Umfang der Steuerpflicht in Deutschland (unbeschränkt, beschränkt) des zuständigen Finanzamts für 2015, 2016 und 2017 vorzulegen, übersandte die Klägerin den ausgefüllten Vordruck E 411 und das Schreiben des Finanzamts G vom 08.04.2019, wonach mangels eingereichten Einkommensteuererklärungen die steuerliche Beurteilung für die Jahre 2015 bis 2019 nicht vorgenommen werden könne. Weiter legte sie Lohnbescheinigungen der Firma F für den Kindsvater für den Zeitraum von Juli 2015 bis Dezember 2018 vor. Die Lohnbescheinigungen sind in italienischer Sprache und geben als Adresse des Kindsvaters („comune di residenza“) H, Italien an. Ausgewiesen wird in den Lohnbescheinigungen für alle Monate des Klagezeitraums die Auszahlung einer „assegni familiari corr.“ (deutsch: Kinderbeihilfe; 258,33 €) und einer „trasferte estero“ (deutsch: Auslandszulage) für die Monate August bis November 2015 und September 2017.
6
Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 29.01.2020 die Kindergeldfestsetzung für die Kinder A und B von August 2015 bis Februar 2018 auf und forderte zu Unrecht gezahltes Kindergeld in Höhe von insgesamt 11.824 € zurück.
7
Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die zur Feststellung des Kindergeldanspruchs erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht worden seien und deshalb nicht festgestellt werden könne, ob ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Unter anderem sei eine Bescheinigung des Finanzamts über eine Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig oder über den Umfang der Steuerpflicht in Deutschland nicht vorgelegt worden.
8
Die Prozessbevollmächtigten legten im Einspruchsverfahren eine Bescheinigung des Arbeitgebers über eine Zurverfügungstellung eines Hauses an den Kindsvater und dessen Familie in der Zeit von Juli 2015 bis Juli 2016, die Seite 1 des Mietvertrags über eine Wohnung in E ab dem 01.07.2017 und den Arbeitsvertrag des Kindsvaters mit der Firma I, Italien vor. Zum Nachweis einer Entsendung des Kindsvaters fügten sie das Schreiben der Firma F, Italien, vom 29.05.2020 in italienischer Sprache und deutscher Übersetzung bei. Darin erklärt die Firma F, dass D vom 11.05.2015 bis 31.08.2019 bei dieser Firma beschäftigt war und seine Arbeitstätigkeit stets bei der J in Deutschland erbracht hat.
9
Auf den Einspruch änderte die Familienkasse die angefochtene Entscheidung mit Bescheid vom 27.01.2023 dahingehend ab, dass Kindergeld für die beiden o.g. Kinder für den Zeitraum von August 2015 bis Februar 2018 unter Anrechnung italienischer Familienleistungen in Höhe 258,33 € monatlich für beide Kinder mit Differenzbeträgen (insgesamt 3.815,77 €) festgesetzt wurde. Die Familienkasse unterstellte hierbei einen inländischen Wohnsitz der Klägerin. Die Erstattungsforderung wurde entsprechend auf 8.008,23 € gemindert.
10
Den weiter gehenden Einspruch der Klägerin wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 22.08.2023 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde am 23.08.2023 an die Prozessbevollmächtigten versandt.
11
Zur Begründung führte die Familienkasse aus, dass die Klägerin im Klagezeitraum die Voraussetzungen für einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 EStG erfülle.
12
Für die genannten Kinder bestehe jedoch zugleich in einem anderen Staat der Europäischen Union (EU) ein Anspruch auf Kindergeld, nämlich in Italien. Welcher Anspruch vorrangig sei, bestimme sich im Verhältnis zu den EU-Staaten nach den Regelungen der Verordnung – VO – (EG) Nr. 883/2004 und der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung – DVO – (EG) Nr. 987/2009. Diese Verordnungen gingen als überstaatliche Vorschriften der deutschen Rechtsordnung vor und seien in Deutschland unmittelbar geltendes Recht (vgl. Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union).
13
Die Konkurrenz zwischen Kindergeldansprüchen in Deutschland und anderen EU-Staaten werde durch die Art. 67 und 68 der VO ausgelöst. Der Zweck dieser Vorschriften bestünde darin, funktionsidentische Doppelleistungen in verschiedenen Staaten zu vermeiden. Hiernach habe eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen EU-Staat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen EU-Staates, als ob die Familienangehörigen in diesem EU-Staat wohnen würden. Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Staaten zu gewähren, so sei vorrangig der Staat zuständig, in dem eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt werde.
14
Sei hiernach der Anspruch in einem anderen Staat vorrangig, werde der deutsche Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistung ausgesetzt. Es könnten dann allenfalls Unterschiedsbeträge zwischen einem evtl. niedrigeren ausländischen Kindergeld und dem (höheren) deutschen Kindergeld ausgezahlt werden.
15
Im streitigen Zeitraum würden die Kinder mit der Klägerin in Deutschland leben. Diese habe keine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Der Ehemann der Klägerin und Vater der Kinder sei im Streitzeitraum von seinem Arbeitgeber mit Sitz in Italien (einem anderen EU-Mitgliedstaat) vorübergehend im Sinne von Art. 12 Abs. 1 VO nach Deutschland entsandt worden. Er unterliege den italienischen Rechtsvorschriften bzw. dort würden Sozialbeiträge abgeführt. Zudem beziehe er italienische Familienleistungen. Deutsches Kindergeld sei daher nachrangig und nur in Höhe des Unterschiedsbetrages zu den in Italien zustehenden Leistungen zu gewähren. Es bestehe im Streitzeitraum daher lediglich ein Anspruch auf Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrages.
16
Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung sei § 70 Abs. 2 EStG. Hiernach sei die Festsetzung des Kindergeldes aufzuheben, soweit in den Verhältnissen, die für die Zahlung des Kindergeldes erheblich sind, Änderungen eingetreten sind. Die Aufhebung habe mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, also ggf. auch rückwirkend, zu erfolgen. Ein Ermessensspielraum stehe der Familienkasse im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG nicht zu. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 37 Abs. 2 AO.
17
Die Prozessbevollmächtigten haben Klage erhoben.
18
Zur Begründung wird vorgetragen, dass ein Erstattungsanspruch der Beklagten nicht bestehe, da das deutsche Kindergeld nicht nachrangig sei. Der Kindergeldanspruch der Klägerin in Deutschland sei vorrangig und bestehe in voller gesetzlicher Höhe.
19
Die Klägerin habe in dem streitgegenständlichen Zeitraum mit ihren Kindern in Deutschland in C gelebt. Sie seien ordnungsgemäß bei der Gemeinde C gemeldet gewesen. Die Kinder seien hier in Deutschland zur Schule gegangen, die Klägerin habe hier zusammen mit ihrem Ehemann und den Kindern einen gemeinsamen Haushalt geführt. Die Kosten der Unterkunft, also Miete und Energiekosten, seien von der Klägerin und ihrem Ehemann in bar an den Arbeitgeber des Ehemannes gezahlt worden.
20
Der Ehemann der Klägerin habe u.a. auch in dem gesamten streitgegenständlichen Zeitraum durchgängig für seinen italienischen Arbeitgeber bei der J gearbeitet. Er arbeite auch heute – nach einer mehrmonatigen Unterbrechung – wieder für einen italienischen Arbeitgeber bei der J in Deutschland.
21
Anknüpfungspunkt für den Kindergeldanspruch der Klägerin sei vorrangig der Wohnsitz der Familie in Deutschland, nicht die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses des Kindsvaters.
22
Die Prozessbevollmächtigten haben beantragt,
unter Aufhebung des Bescheids vom 27.01.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.08.2023 die Beklagte dazu zu verurteilen, einen neuen Bescheid zu erlassen.
23
Die Familienkasse hat Klageabweisung beantragt.
24
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beklagte auch weiterhin der Auffassung sei, dass das Kindergeld nicht in voller Höhe festgesetzt werden könne.
25
Die vom Ehegatten der Klägerin ausgeübte Erwerbstätigkeit falle nach Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 unter die italienischen Rechtsvorschriften, da dieser von seinem italienischen Arbeitgeber aus Italien nach Deutschland entsandt worden sei. Abweichend von Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004, wonach eine Beschäftigung den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates unterliege, in dem sie ausgeübt werde, unterliege eine Beschäftigung im Rahmen einer Entsendung den Vorschriften des Entsendestaates, was zur Folge habe, dass Sozialabgaben aus der Beschäftigung im Entsendestaat abzuführen seien (Schweikardt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., Art. 12 VO (EG) 883/2004 (Stand: 15.03.2018) Rn. 22 ff.).
26
Im Streitfall liege nach den von der Klägerseite eingereichten Arbeitgeberbescheinigungen eine Entsendung vor. Weiterhin sei aus den vorliegenden den Streitzeitraum betreffenden Lohnabrechnungen auch ersichtlich, dass die Sozialversicherungsbeiträge aus der Beschäftigung, wie bei einer Entsendung durch den Verordnungsgeber vorgesehen, nicht in Deutschland, sondern in Italien abgeführt worden seien.
27
Es bestünden daher keine Zweifel daran, dass die Entsendungsvoraussetzungen im streitbefangenen Zeitraum beim Ehegatten der Klägerin vorgelegen hätten. Da somit keine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Tätigkeit im Streitzeitraum ausgeübt worden sei, sei ein Vorrang Deutschlands nicht feststellbar. Aus den vorliegenden den Streitzeitraum betreffenden Lohnabrechnungen ergebe sich, dass für die Kinder im Streitzeitraum auch tatsächlich italienische Familienleistungen bezogen worden seien.
28
Aus den Akten ergibt sich noch, dass die Familienkasse mit Bescheid vom 25.04.2018 die Kindergeldfestsetzung ab März 2018 aufgehoben hat. Den Einspruch hat sie mit Einspruchsentscheidung vom 23.01.2020 zurückgewiesen. Nach Erhebung der Klage vor dem Finanzgericht Niedersachsen (6 K 31/20) setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 15.11.2022 Kindergeld für beide Kinder in Höhe der Unterschiedsbeträge zu den italienischen Familienleistungen fest. Die Beteiligten erklärten danach den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
29
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis dazu erklärt, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 90 Abs. 2 FGO). Das Gericht hat mit Beschluss vom 12.09.2024 den Rechtsstreit auf L als Einzelrichter übertragen (§ 6 FGO).
30
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie die von der Familienkasse vorgelegte elektronisch geführte Kindergeldakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

31
Die Klage ist unbegründet.
32
Der Bescheid vom 27.01.2023 über die Gewährung von Kindergeld für A und B für den Zeitraum August 2015 bis Februar 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.08.2023 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld ist für den Klagezeitraum auf den Unterschiedsbetrag begrenzt.
33
1. Das Gericht legt das Klagebegehren rechtsschutzgewährend dahin aus, dass beantragt wird, den Bescheid vom 27.01.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.08.2023 dahin zu ändern, dass Kindergeld für A und B für den Zeitraum August 2015 bis Februar 2018 in voller gesetzlicher Höhe gewährt wird.
34
2. Zwar erfüllt die Klägerin die nationalen Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Danach hat Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Klägerin hatte im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt an verschiedenen Adressen Inland. Die Kinder A und B sind als leibliche Kinder der Klägerin nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG berücksichtigungsfähig und hatten im Streitzeitraum ebenfalls einen Wohnsitz im Inland.
35
3. Ein Kindergeldanspruch der Klägerin könnte durch vorrangige Ansprüche für dieselben Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten gemindert oder ausgeschlossen sein.
36
a) Bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG sind im Streitfall die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten, weil der Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Die Grundverordnung und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 – Durchführungsverordnung –) gelten seit dem 01.05.2010 (vgl. Art. 90 Abs. 1, Art. 91 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 96 Abs. 1, Art. 97 der VO Nr. 987/2009). Im Streitfall ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, da die Klägerin und der Kindsvater als italienische Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 von dieser erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld nach Art. 3 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 (BFH-Urteil vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183, Rn. 18).
37
b) Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 bestimmt als Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die Klägerin unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Die Klägerin hat im Streitzeitraum keine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der VO Nr. 883/2004). Außerdem hat sie auch keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 65 der VO Nr. 883/2004 erhalten (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der VO Nr. 883/2004). Die Klägerin erfüllt damit nur die Voraussetzungen des Auffangtatbestandes des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, vor §§ 62-78 EStG Rz. 20 [Feb. 2020]; BFH-Urteil vom 26.07.2017 III R 18/16, BStBl. II 2017, 1237).
38
c) Der Kindsvater würde zwar den deutschen Rechtsvorschriften unterliegen, da er im Streitzeitraum in Deutschland einer Beschäftigung (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) nachging. Allerdings unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, gemäß Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet. Auch wenn eine Entsendung i.S. des Art. 11 Abs. 3 Buchst. a, Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (hier: von Italien nach Deutschland) insgesamt länger andauert als 24 Monate bleibt es bei der Anwendbarkeit des Rechts des sog. Entsendestaates, wenn die Entsendung auf zwei „hintereinander geschalteten Entsendungen“ beruht, deren jeweilige voraussichtliche Dauer 24 Monate nicht überschreiten sollen (Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21.09.2023 12 K 1355/23, juris).
39
d) Ist – wie im Streitfall – der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH-Urteile vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953 Tz. 12 und vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183 m.w.N.; Finanzgericht München, Urteil vom 23.08.2022 12 K 886/21; Hildesheim in: Bordewin/Brandt, EStG § 65 Rn. 107). Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist jedoch nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche i.S. dieser Vorschrift vorliegen (BFH-Urteil vom 18.02.2021 III R 27/19, BStBl. II 2022, 183 m.w.N.; Finanzgericht München, Urteil vom 23.08.2022 12 K 886/21; Hildesheim in: Bordewin/Brandt, EStG § 65 Rn. 116).
40
Wenn die Leistungen von beiden Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind, gilt nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche. Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüberhinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren.
41
4. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gilt somit im Streitfall, dass Ansprüche in Italien vorrangig vor den Ansprüchen der Klägerin in Deutschland sind, da der Kindsvater den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates Italien unterliegt. Dieser wird im Auftrag seines italienischen Entsendeunternehmens F in Deutschland tätig. Sein Lohn/Gehaltsanspruch besteht jedoch gegenüber dem Unternehmen in Italien. Aus den vorgelegten Gehaltsabrechnungen ergibt sich, dass der Arbeitgeber für den Kindsvater Sozialversicherungsbeiträge in Italien zurückbehalten hat. Unschädlich ist, dass der Entsendezeitraum insgesamt mehr als 24 Monate beträgt, da die jeweilige Dauer der einzelnen Entsendungen 24 Monate nicht überschreitet.
42
5. Die Beklagte hat zu Recht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 für den Klagezeitraum lediglich Differenzkindergeld gewährt (BFH-Urteil vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl. II 2018, 717, Rn. 28). Der Differenzbetrag wurde im angefochtenen Bescheid vom 27.01.2023 auch zutreffend berechnet. Dem deutschen Kindergeld entspricht in Italien das „assegni familiari“. Die Höhe des Kindergeldes richtete sich in Italien im Klagezeitraum nach der Zahl der Kinder und war einkommensabhängig. Eine Familie mit 2 Kindern, deren Jahreseinkommen 14.354,66 € nicht überstieg, erhielt beispielsweise eine monatliche Leistung in Höhe von 258,33 € (Bundeszentralamt für Steuern, Schreiben vom 16.01.2017, St II 2-S. 2473-PB/16/00001, BStBl. I 2017, 151).
43
Der Arbeitgeber hat im Streitfall dem Kindsvater ausweislich der für den gesamten Klagezeitraum vorliegenden Lohn/Gehaltsabrechnungen eine „assegni familiari corr.“ (deutsch: Kinderbeihilfe) in Höhe von 258,33 € ausgezahlt. Diesen Betrag hat die Familienkasse bei beiden Kindern je hälftig als Abzugsbetrag beim gesetzlichen Kindergeld angesetzt und den Differenzbetrag festgesetzt. Einwendungen gegen die Berechnung des Differenzbetrages wurden von der Klägerseite im Übrigen nicht vorgebracht. Demgemäß fordert die Beklagte von der Klägerin zu Recht die zu Unrecht gewährten Beträge in Höhe von 8.008,23 € zurück.
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6. Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung ist § 70 Abs. 2 EStG. Hiernach ist die Festsetzung des Kindergeldes aufzuheben, soweit in den Verhältnissen, die für die Zahlung des Kindergeldes erheblich sind, Änderungen eingetreten sind. Die Aufhebung hat mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, also ggf. auch rückwirkend, zu erfolgen. Ein Ermessensspielraum steht der Familienkasse im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG nicht zu.
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7. Die Erstattungspflicht ergibt sich aus § 37 Abs. 2 AO. Hiernach ist eine Steuervergütung zu erstatten, soweit sie ohne rechtlichen Grund gezahlt wurde. Dies ist vorliegend der Fall, weil ein Anspruch nicht bestand und die Kindergeldfestsetzung deshalb insoweit aufgehoben wurde. Der Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO ist Ausdruck des übergeordneten und allgemeinen Grundsatzes, dass derjenige, der vom Staat zu Lasten der Allgemeinheit eine Leistung ohne Rechtsanspruch erhalten hat, diese erstatten muss.
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8. Der Klageabweisung steht auch nicht das EuGH-Urteil vom 25.04.2024 (C-36/23; Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) 2024, 1237) entgegen, da die italienischen Familienleistungen dem Kindsvater mit der Gehaltsauszahlung gewährt wurden und damit eine Familienleistung durch den anderen Mitgliedstaat festgesetzt worden war.
47
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.