Titel:
Ausstrahlung eines Werbespots für Online-Casinos
Normenkette:
JMStV § 6 Abs. 2, Abs. 4, § 20 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Das in § 6 Abs. 2 Hs. 1 JMStV formulierte allgemeine Beeinträchtigungsverbot bezieht sich auf Werbung, die Kinder und Jugendliche durch ihren Inhalt oder ihre Form körperlich oder seelisch beeinträchtigt, nicht aber auf eine Schädigung durch die beworbenen Waren und Dienstleistungen selbst. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die in § 6 Abs. 2 Hs. 2 Nr. 1–4 JMStV genannten Fallgruppen stehen selbstständig neben dem allgemeinen Verbot der körperlichen und seelischen Beeinträchtigung. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Weder für die Frage, ob Werbung einen direkten Kaufappell an Kinder oder Jugendliche iSv § 6 Abs. 2 Hs. 2 Nr. 1 JMStV enthält, noch, ob deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausgenutzt wird, kommt es darauf an, ob das beworbene Produkt von Kindern oder Jugendlichen legal erworben oder genutzt werden kann. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
4. § 6 Abs. 2 Hs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 JMStV stehen nicht in einem Exklusivitätsverhältnis und sind daher parallel anwendbar. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Online-Casino, Werbung, Werbespot, Rundfunk, Jugendliche, Kinder, Kinder- und Jugendschutz, Waren, Dienstleistungen, körperliche Beeeinträchtigung, seelische Beeinträchtigung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.08.2022 – M 17 K 19.861
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4499
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 21. Januar 2019, mit dem die Beklagte einen Verstoß der Klägerin gegen Jugendmedienschutzbestimmungen wegen der Ausstrahlung eines Werbespots des Online-Casinos „w…de“ festgestellt und missbilligt hat.
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Die Klägerin ist private Veranstalterin des bundesweiten Fernsehprogramms ... Sie strahlte am Sonntag, 6. Mai 2018, 12:26 Uhr den der Beanstandung zu Grunde liegenden Werbespot für ein online Glücksspielangebot aus.
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Mit Bescheid vom 21. Januar 2019 stellte die Beklagte fest und missbilligte, dass der streitgegenständliche Werbespot entgegen § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV und § 6 Abs. 4 JMStV ausgestrahlt wurde.
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Die von der Klägerin gegen diesen Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 25. August 2022 ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die im streitgegenständlichen Werbespot verwendete Formulierung „Heute anmelden und Startbonus sichern. Zahle zehn Euro ein und spiele mit 50“ stelle einen direkten Kaufappell an Kinder oder Jugendliche dar. Die Werbung sei bei einer Gesamtbetrachtung aus objektiver Sicht von Kindern und Jugendlichen so gestaltet, dass sie sich an diese richte und deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausnutze. Damit sei ein Fall des § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV gegeben. Zudem bejahte das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen von § 6 Abs. 4 JMStV.
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Rechtsschutzziel weiter. Die Beklagte tritt dem entgegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakten verwiesen.
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Die gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO sind nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Art und Weise dargelegt bzw. liegen nicht vor.
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1. Die Klägerin zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auf.
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Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind anzunehmen, wenn in der Antragsbegründung ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. etwa BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – NJW 2009, 3642) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838/839). Schlüssige Gegenargumente in diesem Sinne liegen dann vor, wenn der Rechtsmittelführer substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis unrichtig ist (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546/548). Welche Anforderungen an Umfang und Dichte der Darlegung zu stellen sind, hängt wesentlich von der Intensität ab, mit der die Entscheidung begründet worden ist (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 64 m.w.N.).
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Durch das Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich in Frage gestellt und es werden keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die weiterer Klärung in einem Berufungsverfahren bedürften.
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Die dem angegriffenen Urteil zu Grunde liegende medienrechtliche Beanstandung beruht auf § 20 Abs. 1, Abs. 2 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) in der Fassung des Neunzehnten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge i.V.m. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 BayMG. Danach trifft die Beklagte bei Verstößen gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter.
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a) Die Klägerin meint zunächst, der entscheidende dogmatische Grundfehler des Verwaltungsgerichts liege darin, dass dieses nicht geprüft habe, ob § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV auf den konkreten Fall anwendbar sei. Es habe zu Unrecht unterstellt, dass die Norm auch Gefahren umfasse, die von den beworbenen Waren und Dienstleistungen ausgingen. Das Verwaltungsgericht berücksichtige nicht, dass die Norm nur Werbung untersagen wolle, die durch ihren Inhalt oder ihre Form Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung beeinträchtigt; auf eine Schädigung durch die beworbenen Waren und Dienstleistungen könne es nicht ankommen. Das Verwaltungsgericht begründe das Verbot aus § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV nicht mit der Art der Werbung, sondern ausschließlich mit den damit (angeblich) einhergehenden Risiken des beworbenen Produkts (Glücksspiel).
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Mit diesem Vorbringen dringt die Klägerin nicht durch.
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Gemäß § 6 Abs. 2 Halbs. 1 JMStV darf Werbung Kinder und Jugendliche weder körperlich noch seelisch beeinträchtigen. Darüber hinaus regelt § 6 Abs. 2 Halbs. 2 JMStV in einer abschließenden enumerativen Aufzählung weitere spezielle Werbeverbote (vgl. Schwartmann in Bornemann/Erdemir, § 6 JMStV, 2. Aufl. 2021, Rn. 19, 21; Altenhain in Roßnagel, Beck’scher Kommentar zum Recht der Telemediendienste, 1. Aufl. 2013, § 6 JMStV Rn. 24). Das in § 6 Abs. 2 Halbs. 1 JMStV formulierte allgemeine Beeinträchtigungsverbot bezieht sich – darauf weist die Klägerin zu Recht hin – auf Werbung, die Kinder und Jugendliche durch ihren Inhalt oder ihre Form körperlich oder seelisch beeinträchtigt, nicht aber auf eine Schädigung durch die beworbenen Waren und Dienstleistungen selbst. Die Klägerin lässt bei ihrer Argumentation jedoch außer Acht, dass der dem angegriffenen Urteil zugrundeliegende Bescheid gerade keinen Verstoß gegen das allgemeine Beeinträchtigungsverbot des § 6 Abs. 2 Halbs. 1 JMStV, sondern (unter anderem) einen Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV feststellt. Die in Absatz 2 Halbsatz 2 des § 6 JMStV genannten Fallgruppen Nr. 1 bis 4 stehen selbständig neben dem allgemeinen Verbot der körperlichen und seelischen Beeinträchtigung (vgl. Erdemir in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 6 JMStV Rn. 11). Insoweit vermag die Klägerin weder mit ihrem diesbezüglichen Vorbringen noch mit der von ihr zitierten Kommentarliteratur, die sich in den jeweiligen Zitaten ausschließlich auf Halbsatz 1 der Norm bezieht, ernstliche Zweifel an der erstinstanzlichen Entscheidung zu wecken.
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Zudem folgt der Senat nicht der von der Klägerin aufgestellten Behauptung, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidung nicht die Art der Werbung, sondern nur die Risiken des beworbenen Produkts in den Blick genommen. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV herausgearbeitet und sich dabei stets und dezidiert mit der Gestaltung des streitgegenständlichen Werbespots auseinandergesetzt.
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b) Den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, der streitgegenständliche Werbespot erfülle die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV und enthalte einen direkten Aufruf zum Kauf (UA Rn. 41 ff.), der sich an Kinder oder Jugendliche richte (UA Rn. 44 ff.) und deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausnutze (UA Rn. 50 ff.), tritt die Klägerin in ihrer Zulassungsbegründung inhaltlich zwar entgegen. Da sie jedoch die Richtigkeit dieser Feststellungen ausdrücklich „dahinstehen“ lässt, bedarf es hierzu keiner weiteren Ausführungen. Soweit die Klägerin meint, der Anwendbarkeit von § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV sowie dem Vorliegen einzelner Tatbestandsvoraussetzungen stehe bereits entgegen, dass Kinder und Jugendliche das beworbene Produkt (rechtlich) nicht erwerben bzw. nicht daran teilnehmen könnten, zeigt sie keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
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Gemäß § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV darf Werbung keine direkten Aufrufe zum Kaufen oder Mieten von Waren oder Dienstleistungen an Kinder oder Jugendliche enthalten, die deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausnutzen. Entgegen der klägerischen Auffassung kommt es dabei weder für die Frage, ob Werbung einen direkten Kaufappell an Kinder oder Jugendliche enthält, noch, ob deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausgenutzt wird, darauf an, ob das beworbene Produkt von Kindern oder Jugendlichen legal erworben oder genutzt werden kann. Dies ergibt sich aus dem Zweck sowie aus dem Wortlaut der Norm, der gerade keinen unmittelbaren Verkaufs- oder Vermietungserfolg verlangt. § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV enthält ein Werbegestaltungsverbot (vgl. Liesching, BeckOK Jugendschutzrecht, Stand 1.8.2023, § 6 JMStV Rn. 1), das auf Werbung zielt, die die reifemäßige Unterlegenheit von Minderjährigen mittels direkter Werbeappelle ausnutzt und knüpft ausschließlich an die Art und Weise von Werbung an. Insbesondere Kinder, aber auch Jugendliche sind aufgrund ihrer mangelnden Lebenserfahrung und geistigen Reife typischerweise noch nicht oder nicht ausreichend in der Lage, Werbebotschaften differenziert zu beurteilen. Sie müssen daher vor besonders offensiven Anpreisungen geschützt werden (vgl. Schwartmann in Bornemann/Erdemir, § 6 JMStV Rn. 23). Ziel des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags ist es, effektiven und umfassenden Jugendschutz zu gewährleisten (vgl. Schwartmann in Bornemann/Erdemir, JMStV, § 6 Rn. 3). Um dies zu erreichen, muss der Schutz vor unangemessener Werbung unabhängig davon bestehen, ob der Erwerb des beworbenen Produkts für Kinder oder Jugendliche (legal) möglich ist.
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Auch mit dem insoweit erneut vorgebrachten Einwand, ohne unmittelbare Kauf- oder Mietmöglichkeit fehle es an der körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung, ein allein kinder- oder jugendaffiner Werbespot rufe keine Beeinträchtigung hervor, dringt die Klägerin nicht durch. Sie verkennt, dass eine körperliche oder seelische Beeinträchtigung, wie sie § 6 Abs. 2 Halbs. 1 JMStV voraussetzt, gerade nicht kumulativ zu den Tatbestandsvoraussetzungen in § 6 Abs. 2 Halbs. 2 JMStV hinzutreten muss (vgl. Schwartmann in Bornemann/Erdemir, JMStV, § 6 Rn. 19; Erdemir in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 6 JMStV Rn. 11).
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Auch aus den europarechtlichen Grundlagen in Art. 16 Buchst. a der RL 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (Fernsehrichtlinie) und in Art. 9 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über audiovisuelle Mediendienste (2010/13/EU) vom 10. März 2010 in der Fassung der RL 2018/1808/EU vom 14. November 2018 (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste – AVMD-RL), die § 6 JMStV in nationales Recht umsetzt, ergibt sich nichts anderes. Dass dem europäischen Normgeber an einem hohen Jugendschutzniveau auch gerade hinsichtlich der Werbung für Glücksspiele gelegen ist, ergibt sich insbesondere aus Erwägungsgrund 30 der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste. Demnach „ist wichtig, das Minderjährige vor der Einwirkung audiovisueller kommerzieller Kommunikation zur Bewerbung von Glücksspielen wirksam geschützt werden.“ Ersichtlich geht es dem Normgeber um den Schutz vor Gefahren, die unmittelbar von Werbung ausgehen, und zwar unabhängig davon, ob das beworbene Produkt als Ziel dieser Werbung erworben werden kann.
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Auch das – im Übrigen durch nichts belegte – Vorbringen der Klägerin, die streitgegenständliche Werbung sei von Kindern oder Jugendlichen gar nicht gesehen worden, ist daher nicht geeignet, die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zum Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV in Zweifel zu ziehen.
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c) Mit ihrem weiteren Einwand, ein Verstoß gegen § 6 Abs. 4 JMStV könne bereits deshalb nicht vorliegen, weil zum einen § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV und § 6 Abs. 4 JMStV nicht parallel angewandt werden könnten, da es sich bei § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV um eine im Verhältnis zu § 6 Abs. 4 JMStV speziellere Norm handele und zum anderen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 4 JMStV nicht vorlägen, weil es insbesondere an einer Interessensschädigung fehle, zeigt die Klägerin ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der angegriffenen Entscheidung auf.
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aa) Die Auffassung der Klägerin, eine Heranziehung von § 6 Abs. 4 JMStV sei ausgeschlossen, soweit die beanstandete Werbung bereits einen Verstoß gegen die „speziellere“ Regelung des § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV darstelle, überzeugt nicht. § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 und § 6 Abs. 4 JMStV stehen nicht in einem Exklusivitätsverhältnis und sind daher parallel anwendbar.
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(1) Ob Normen parallel oder nur alternativ angewendet werden können, entscheidet sich nach dem normativen Gehalt der betroffenen Regelungen. Diese Frage ist unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Wertungen zu entscheiden. Erfasst eine Norm den normativen Gehalt einer anderen Norm vollständig, so tritt diese als unanwendbar zurück. Will eine Norm einen Sachverhalt abschließend regeln, so macht sie andere, tatbestandlich ebenfalls erfüllte Normen unanwendbar. Enthalten Normen indes unterschiedliche, für die Beurteilung des jeweiligen Prüfgegenstands relevante Gesichtspunkte, ohne dass der Gesetzgeber ein Vorrangverhältnis angeordnet hätte, so bleiben sie nebeneinander anwendbar (vgl. Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 172). Ein Spezialitätsverhältnis, das eine parallele Anwendung von Normen ausschließt, liegt vor, wenn eine Norm alle Merkmale einer anderen und darüber hinaus mindestens ein zusätzliches enthält. Die konkurrierenden Normen müssen den gleichen Gegenstand haben oder das gleiche Problem betreffen, dieses aber unterschiedlich regeln. Eine Spezialität liegt nicht vor, wenn in mehreren Tatbeständen die gleiche Rechtsfolge angeordnet wird, von denen der eine weiter, der andere enger formuliert ist, so dass sich zwar eine Überschneidung ergibt, ohne dass aber der engere Tatbestand eine Teilmenge des weiteren darstellen würde. Die konkretere Norm ist dann zwar stets vor der allgemeineren zu prüfen, verdrängt diese aber nicht. Ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm bleibt möglich und ist bei Verneinung des Tatbestands der konkreteren Norm auch nötig. Insofern besteht kein Anwendungsvorrang, wohl aber eine Anwendungsvorgängigkeit der konkreteren Norm (vgl. Reimann, Juristische Methodenlehre, Rn. 201).
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(2) Hieran gemessen sind § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV und § 6 Abs. 4 JMStV nebeneinander anwendbar. Insbesondere handelt es sich bei § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV nicht um eine die Anwendbarkeit von Absatz 4 ausschließende Spezialnorm.
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Gemäß § 6 Abs. 4 JMStV darf Werbung, die sich auch an Kinder oder Jugendliche richtet, oder bei der Kinder oder Jugendliche als Darsteller eingesetzt werden, nicht den Interessen von Kindern oder Jugendlichen schaden oder deren Unerfahrenheit ausnutzen. Diese Regelung erlangt im Systemgefüge des § 6 JMStV besondere Bedeutung, weil sie – im Unterschied zu § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 und 2 JMStV – auch Werbung erfasst, die sich in erster Linie an erwachsene Konsumenten richtet. Für § 6 Abs. 4 JMStV genügt es, dass sich die Werbung „auch“ an Kinder oder Jugendliche richtet (vgl. Erdemir in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 6 JMStV Rn. 16), wohingegen sich § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV ausdrücklich auf kinderaffin gestaltete Werbung bezieht, die sich im Wege direkter Kaufappelle unmittelbar an Kinder und Jugendliche richtet.
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Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 4 JMStV handelt es sich nach dem Willen des Gesetzgebers bei dieser Norm um eine „Generalklausel“, mit der sichergestellt werden soll, „dass über die Absätze 1 bis 3 des § 6 JMStV hinaus auch sonstige Entwicklungsbeeinträchtigungen im Rundfunk und bei Telemedien nicht erfolgen dürfen“ (vgl. LT-Drs. 14/10246 S. 18). Bei wertender Betrachtung wird aus dem Wortlaut der Norm und deren Begründung das vom Gesetzgeber intendierte Regelungsgefüge von § 6 Abs. 4 als allgemeiner und § 6 Abs. 2 Halbs. 2 JMStV als konkreterer Norm deutlich. Mit diesen Regelungen will der Gesetzgeber einen umfassenden Jugendschutz vor unangemessener Werbung gewährleisten. Eine Spezialität der in Rede stehenden Normen würde diesem gesetzgeberischen Regelungsziel geradezu zuwiderlaufen. § 6 Abs. 2 Halbs. 2 Nr. 1 JMStV enthält einen Sondertatbestand für ausdrücklich kinderaffin gestaltete und an Kinder oder Jugendliche gerichtete Werbung. Absatz 4 trifft in allgemeiner Form als Generalnorm Regelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sonstigen Entwicklungsbeeinträchtigungen, die durch vornehmlich an ein erwachsenes Publikum adressierte Werbung entstehen. Die Normen knüpfen also mit gleichem Regelungsziel an eine gleichartige Gefährdungslage von Kindern oder Jugendlichen an. Ein Vorrangverhältnis hat der Gesetzgeber insoweit ausdrücklich nicht angeordnet. Weder aus der Gesetzesbegründung noch aus der von der Klägerin insoweit zitierten Kommentarliteratur ergibt sich, dass § 6 Abs. 4 JMStV „nur“ solche Verstöße erfassen soll, die nicht bereits den Tatbestand von § 6 Abs. 2 Halbs. 2 JMStV erfüllen.
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Auch aus der europarechtlich determinierten Entstehungsgeschichte von § 6 JMStV ergibt sich dies – entgegen dem Vortrag der Klägerin – nicht. Aus dem Umstand, dass § 6 Abs. 2 Halbs. 2 JMStV die in Art. 16 Fernsehrichtlinie genannten Einzelvorgaben ausdrücklich aufzählt, lässt sich nicht herleiten, dass der Gesetzgeber damit eine die Anwendung der allgemeinen Norm in § 6 Abs. 4 JMStV ausschließende Spezialnorm schaffen wollte. Diese Regelungstechnik war vielmehr dem Umstand geschuldet, dass Zweifel bestanden, ob die frühere, ausschließlich generalklauselartige Regelung in § 7 RStV a.F. als ausreichend konkrete Umsetzung von Art. 15 und 16 der Fernsehrichtlinie gelten konnte. § 6 JMStV entspricht nun jedenfalls in vollem Umfang den Anforderungen dieser Richtlinie (vgl. Ladeur in Binder/Vesting, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Aufl. 2018, § 6 JMStV Rn. 7).
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Für eine parallele Anwendbarkeit beider Normen spricht darüber hinaus die Identität der jeweils angeordneten Rechtsfolge, nämlich die medienrechtliche Beanstandung gemäß Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 JMStV i.V.m. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 BayMG.
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bb) Entgegen dem klägerischen Vorbringen liegen auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 4 JMStV vor. Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass auch § 6 Abs. 4 JMStV ein Werbegestaltungsverbot beinhaltet. Ein Verstoß gegen diese Norm kann also ausschließlich damit begründet werden, dass die Art und Weise der Werbung den Interessen von Kindern oder Jugendlichen schadet. Unter dem Blickwinkel des Jugendmedienschutzes liegt die Interessensschädigung von Kindern oder Jugendlichen im Sinn von § 6 Abs. 4 JMStV vorliegend darin, dass deren Schutzbedürfnis es gebietet, von der Bewerbung von für sie potenziell schädlichen Angeboten wie Glücksspielangeboten eines Online-Casinos ferngehalten zu werden. Hiervon geht auch das Verwaltungsgericht aus (vgl. UA Rn. 57). Auf die Frage, ob Kinder und Jugendliche an Glücksspielangeboten teilnehmen dürfen und ob sich Werbung für Glücksspiel glücksspielrechtlich an sie richten darf, kommt es insoweit nicht an.
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2. Eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten scheidet ebenfalls aus, da die Rechtssache keine solchen aufweist. Besondere rechtliche Schwierigkeiten liegen vor, wenn eine kursorische Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung keine hinreichend sichere Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits erlaubt. Entscheidend für besondere rechtliche Schwierigkeiten ist dabei stets die Qualität, nicht die Quantität (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 27). Vorliegend ist entgegen der klägerischen Auffassung keine besondere rechtliche Schwierigkeit gegeben. Die durch den Rechtsstreit aufgeworfenen juristischen Fragen lassen sich ohne Weiteres aus den anzuwendenden Rechtsnormen beantworten.
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3. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
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a) Für grundsätzlich bedeutsam hält die Klägerin die Frage „Ist Art. 9 Abs. 1 lit g) AVMD-RL, wonach audiovisuelle kommerzielle Kommunikation keine ‚direkten Aufrufe zum Kauf oder zur Miete von Waren oder Dienstleistungen an Minderjährige richten‘ darf, ‚die deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausnutzen‘ dahin auszulegen, dass auch Werbung für Waren oder Dienstleistungen erfasst sind, die Minderjährige objektiv nicht erwerben oder an ihnen teilnehmen können, weil dies durch strenge Jugendschutzvorgaben („SOFORT Ident“ – Verfahren) unstreitig verhindert wird?" Die Klägerin ist der Auffassung, dass diese Frage bei Zulassung der Berufung dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen wäre.
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auch daraus ergeben kann, dass bestimmte Fragen in dem zuzulassenden Rechtsmittelverfahren der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedürfen (vgl. BVerfG, B.v. 19.4.2017 – 1 BvR 1994/13 – juris Rn. 13 m.w.N.; BayVGH, B.v. 9.3.2021 – 6 ZB 21.110 – juris Rn. 38; OVG Bremen, B.v. 7.10.2019 – 1 LA 213/19 – juris Rn. 17). Wird in einem schwebenden gerichtlichen Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt, muss ein nationales letztinstanzliches Gericht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Vorlagepflicht nachkommen, es sei denn, die gestellte Frage ist nicht entscheidungserheblich, die betreffende unionsrechtliche Bestimmung war bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof oder die richtige Anwendung des Unionsrechts ist so offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. EuGH, U.v. 6.10.1982 – C-283/81 – juris Rn. 21). Ob daran gemessen eine Vorlagepflicht besteht und daher eine Zulassung des Rechtsmittels zu erfolgen hat, ist im Zulassungsverfahren auf der Grundlage des Vorbringens im Zulassungsantrag zu bewerten (BVerfG, B.v. 19.4.2017 – 1 BvR 1994/13 – juris Rn. 16). Denn das Zulassungsverfahren beruht auf der Obliegenheit der antragstellenden Partei, die Zulassungsgründe im Einzelnen darzulegen. Das gilt auch für die grundsätzliche Bedeutung und die damit zusammenhängenden Vorlagefragen.
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Das Zulassungsvorbringen zeigt vorliegend nicht auf, dass von einer Vorlagepflicht im Berufungsverfahren und damit von einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ausgegangen werden muss. Wie oben ausgeführt, verbleibt nach Auffassung des Senats auch unter Berücksichtigung der Zulassungsbegründung kein Raum für vernünftige Zweifel an der Auslegung der im vorliegenden Fall einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften, weshalb es der Herbeiführung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht bedarf. Zudem wäre der Verwaltungsgerichtshof nicht letztinstanzliches Gericht im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. § 22 JMStV).
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b) Die Klägerin hält ferner die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob die Norm des § 6 Abs. 4 JMStV dahingehend auszulegen ist, „dass sie den gleichen Ansatzpunkt wie § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV verfolgt, d.h. nur Werbung untersagen will, die durch ihren Inhalt oder ihre Form Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, nicht aber die Schädigung durch die beworbenen Waren und Dienstleistungen, und daher hinter die speziellere Norm des § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV zurücktritt?“
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Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig. Dass es sich bei § 6 Abs. 4 JMStV um ein Werbegestaltungsverbot, also eine Werbebeschränkung, die auf die Art und Gestaltung von Werbung zielt, handelt, ergibt sich bereits aus dessen Wortlaut („Werbung…darf nicht…“). Diese Frage bedarf daher keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren. Auch die von der Klägerin aufgeworfene Frage des Normverhältnisses von § 6 Abs. 2 Halbs. 2 und § 6 Abs. 4 JMStV fordert keine Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Ungeachtet der Frage, ob die Klägerin insoweit ihren Darlegungspflichten aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ausreichend nachkommt, ist die Frage nicht klärungsbedürftig, da sie sich unter Zuhilfenahme des Gesetzes und dessen Begründung beantworten lässt).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47‚ § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).