Titel:
fehlende Klärungsbedürftigkeit bei nur pauschal vorgetragenen unionsrechtlichen Bedenken
Normenkette:
AsylG § 26, § 78 Abs. 4 S. 4
Leitsatz:
Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge muss konkrete Anhaltspunkte dafür angeben, dass die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erheblichen Tatsachen einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind oder relevante Tatsachen vom Verwaltungsgericht übergangen wurden. Dabei ist in eine fall- und entscheidungsbezogene Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen einzutreten und - regelmäßig unter inhaltlicher Heranziehung anderslautende Erkenntnisquellen - hierdurch substantiiert zu begründen, weshalb die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts zumindest zweifelhaft sind. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Familienasyl, Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, Auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge, Revisibles Recht betreffende Grundsatzrüge (Abweichung der angegriffenen Entscheidung von der Entscheidung eines nicht divergenzfähigen Oberverwaltungsgerichts), Grundsatzrüge
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Urteil vom 21.12.2023 – B 7 K 23.30104
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4486
Tenor
I. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) entweder bereits nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wurde oder jedenfalls nicht vorliegt.
2
1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die im Berufungsverfahren klärungsfähig und klärungsbedürftig ist.
3
a) Die Klärungsfähigkeit einer aufgeworfenen Frage liegt vor, wenn die Antwort auf die Frage für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich war und auch von der Erheblichkeit für die Entscheidung im Berufungsverfahren auszugehen ist. Klärungsbedürftig ist die aufgeworfene Frage regelmäßig dann, wenn sie höchstrichterlich oder obergerichtlich noch nicht beantwortet wurde oder sie sich wegen veränderter Umstände erneut stellt, ihr eine über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Bedeutung zukommt und sie im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts der obergerichtlichen Klärung im Berufungsverfahren bedarf (vgl. BVerfG, B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 – juris Rn. 34; BVerwG, B.v. 4.5.2016 – 9 B 72.15 – juris Rn. 6, 8; BayVGH, B.v. 12.9.2023 – 23 ZB 23.30633 – juris Rn. 2; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 35 ff.; Redeker in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2023, § 78 Rn. 14 f.).
4
b) Für die nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dem Rechtsmittelführer obliegende Darlegung ist es entsprechend erforderlich, im Zulassungsschriftsatz Ausführungen zu den Voraussetzungen der Klärungsfähigkeit und Klärungsbedürftigkeit zu machen und sich hierbei insbesondere mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts substantiiert auseinanderzusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 21.11.2023 – 6 ZB 23.30762 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 12.9.2023 – 23 ZB 23.30633 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 18.6.2020 – 15 ZB 20.30954 – juris Rn. 18).
5
Handelt es sich um eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge verlangt eine Darlegung im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG zudem die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erheblichen Tatsachen einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind oder relevante Tatsachen vom Verwaltungsgericht übergangen wurden. Lediglich Zweifel an der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage des Urteils zu äußern oder zu behaupten, dass sich die entscheidungserheblichen Tatsachen anders darstellen als vom Verwaltungsgericht angenommen, genügt grundsätzlich ebenso wenig wie die schlichte Zusammenstellung gegenteiliger Einschätzungen anderer Verwaltungsgerichte oder anderslautender Erkenntnismittel (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2023 – 24 ZB 23.30028 – juris Rn. 15 f. m.w.N.). Den Darlegungsanforderungen ist nur Genüge getan, wenn der Rechtsmittelführer in eine fall- und entscheidungsbezogene Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen eintritt und – regelmäßig unter inhaltlicher Heranziehung anderslautende Erkenntnisquellen – hierdurch substantiiert begründet, weshalb die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2023 – 6 ZB 23.30016 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 2 ff.; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17.A – juris Rn. 5). Auch im Fall einer vorgetragenen Abweichung der angegriffenen Entscheidung von einer Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts sind diese Anforderungen zu erfüllen, da andernfalls die Voraussetzungen einer Divergenzberufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG – als Unterfall des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung mit herabgesenkten Darlegungsanforderungen (vgl. BVerwG, B.v. 29.10.2015 – 3 B 70.15 – juris Rn. 8) – umgangen würden und eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht bei Tatsachen nur unter den restriktiven Voraussetzungen des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG in Frage kommt (vgl. ausführlich OVG RhPf, B.v. 19.1.2023 – 13 A 10716/22.OVG – juris Rn. 39 ff.).
6
Betrifft die klärungsbedürftige und klärungsfähige Frage revisibles Recht, so wird eine grundsätzliche Bedeutung regelmäßig vorliegen, wenn eine Abweichung der angegriffenen Entscheidung von der Entscheidung eines nicht divergenzfähigen Oberverwaltungsgerichts vorliegt (vgl. BVerfG, B.v. 26.1.1993 – 2 BvR 1058/92 – juris Rn. 15; OVG RhPf, B.v. 19.1.2023 – 13 A 10716/22.OVG – juris Rn. 38; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 130 f. und § 124a Rn. 212). Diese setzt allerdings voraus, dass der Rechtsmittelführer die Anforderungen an die Darlegung einer Divergenzrüge erfüllt.
7
2. Hiervon ausgehend hat der Antrag auf Zulassung der Berufung der Kläger keinen Erfolg.
8
a) In tatsächlicher Hinsicht werfen die Kläger die Frage als grundsätzlich bedeutsam auf, ob besonders vulnerablen Personen, die in Lettland internationalen Schutz erhalten haben, im Falle ihrer Rückkehr nach Lettland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh droht.
9
Der Zulassungsantrag hat insoweit keinen Erfolg, weil es ihm an einer ausreichenden Auseinandersetzung mit den Feststellungen, Erkenntnissen und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts mangelt. Die Kläger beschränken sich im Wesentlichen auf den Verweis auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf. Es fehlt weitgehend an der fallbezogenen Auseinandersetzung mit der streitgegenständlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts und deren Inhalt. Im Übrigen beschränken sich die Kläger auf eine einzelfallbezogene kritische Auseinandersetzung mit der vorinstanzlichen Tatsachenwürdigung und machen damit im Gewand der Grundsatzrüge letztliche ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend, wenn sie beispielsweise vortragen, die Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach den Klägern in Lettland keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK drohe, sei „nicht haltbar“ und „völlig realitätsfern“ (Schriftsatz vom 29.1.2024, S. 2 f.). Solche Zweifel können jedoch keinen Zulassungsgrund im Rahmen des § 78 Abs. 3 AsylG begründen.
10
b) Die Berufung hat auch keinen Erfolg, soweit die Kläger die grundsätzliche Bedeutung auf folgende Rechtsfrage stützen:
11
„Ist Art. 2 Buchst. j i.V.m. Art. 23 Abs. 2 der RL 20111951EU dahingehend zu verstehen, dass die Wahrung des Familienverbandes zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern es gebietet, den Anspruch auf die Familieneinheit subsidiärer Schutzberechtigter auch dann zu wahren, wenn die anerkannte minderjährige Referenzperson, von der ein Elternteil den Schutzstatus ableiten möchte, noch nicht im Verfolgerstaat mit dem jeweiligen Elternteil zusammengelebt hat?“
12
Die Kläger begründen ihren Zulassungsantrag insoweit im Wesentlichen mit einem Verweis auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (B.v. 25.7.2022 – 13 A 11241/21.OVG – juris Rn. 38 ff.).
13
Auch wenn man insoweit von einer Abweichung des Verwaltungsgerichts mit seiner streitgegenständlichen Entscheidung vom Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz ausgeht, hat der Zulassungsantrag deshalb keinen Erfolg, weil er schon an der – im Rahmen der Grundsatzrüge gebotenen (vgl. Rn. 6) – Beachtung der Darlegungsanforderungen an eine Divergenzrüge fehlt. Es fehlt bereits in formaler Hinsicht an der Herausarbeitung und Gegenüberstellung von divergierenden Rechtssätzen. Abgesehen hiervon ist aber die aufgeworfene Frage ohnehin nicht (mehr) klärungsbedürftig. Die Rechtsfrage ist durch das Bundesverwaltungsgericht – im Sinne der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts – beantwortet worden (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2023 – 1 C 7.22 – juris Rn. 10 ff.).
14
Die Kläger haben auch nicht dargelegt, dass die Klärungsbedürftigkeit wegen der (pauschal) vorgetragenen unionsrechtlichen Bedenken fortbesteht oder sich erneut ergibt. Zwar war vorliegend von den Klägern (noch) nicht zu erwarten, dass sie in Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts konkret geänderte Umstände oder bislang nicht berücksichtigte Aspekte darlegen, die geeignet sein könnten, ein anderes Ergebnis herbeizuführen (vgl. zu diesen Anforderungen BVerwG, B.v. 25.11.1992 – 6 B 27.92 –, Rn. 8, juris; VGH BW, B.v. 31.1.2017 – A 9 S 1047/16 – juris Rn. 11 f.; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 124 Rn. 10), weil nur das Ergebnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in Form einer Pressemitteilung, aber noch nicht die Entscheidungsgründe bekannt waren. Jedoch war von den Klägern zu verlangen, die von ihnen offenbar angenommene Unionsrechtswidrigkeit der vom Verwaltungsgericht unter Verweis auf das Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung des § 26 AsylG zu begründen. Dies haben die Kläger allerdings nicht. Der Zulassungsantrag erschöpft sich in der schlichten Behauptung der Unionsrechtswidrigkeit ohne substantiierte Begründung. Ungeachtet dessen ist im Übrigen nicht ersichtlich, worin ein Unionsrechtsverstoß liegen könnte, da der Bundesgesetzgeber hinsichtlich der im Raum stehenden Fragestellung eine unionsrechtlich nicht determinierte Regelung getroffen hat (vgl. nunmehr BVerwG, U.v. 15.11.2023 – 1 C 7.22 – juris Rn. 13 ff.).
15
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Kanzlei des Bevollmächtigten ist ebenfalls abzulehnen. Prozesskostenhilfe ist gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO auf Antrag u.a. zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Zeitpunkt der Entscheidungsreife (Bewilligungsreife) hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. In diesem Zeitpunkt war das Ergebnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch eine Pressemitteilung bereits bekannt, so dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung – wie dargelegt – keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte.
16
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
17
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG), mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die angegriffene Entscheidung rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).