Titel:
Uganda, Asylklage, In Deutschland geborenes minderjähriges Kind, Abschiebungsandrohung, Berücksichtigung des Kindeswohls und familiäre Bindungen bei Rückkehrentscheidung
Normenketten:
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7
RL 2008/115/EG Art. 5
AsylG n.F. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
Schlagworte:
Uganda, Asylklage, In Deutschland geborenes minderjähriges Kind, Abschiebungsandrohung, Berücksichtigung des Kindeswohls und familiäre Bindungen bei Rückkehrentscheidung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 44722
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... November 2021 wird in den Nrn. 6 und 7 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wurde am … 2021 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Sie ist ugandische Staatsangehörige. Für die Klägerin wurde am … Mai 2018 auf Grund der Antragsfiktion ein Asylantrag gestellt.
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Der Asyl- und Schutzantrag der Mutter der Klägerin wurde mit Bescheid vom … April 2017 abgelehnt, die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil vom … März 2022 (M 5 K 17.38313) abgewiesen. Der Asyl- und Schutzantrag des Vaters der Klägerin, der mit der Mutter nicht verheiratet ist, wurde mit Bescheid vom … Februar 2017 abgelehnt. Die gegen diesen Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Augsburg eingereichte Klage (Az.: Au 7 K 17.31469) wurde mit Urteil vom … Juni 2018 abgewiesen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde rechtskräftig abgelehnt (10 ZB 18.31779). Der Folgeantrag wurde rechtskräftig als unzulässig abgelehnt (Au 9 K 19.30185; 10 ZB 20.31758). Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde ebenfalls rechtskräftig abgelehnt. Eine Erklärung über die Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts durch beide Elternteile liegt vor.
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Eine persönliche Anhörung im Asylverfahren ist durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nicht erfolgt. Die Verfahrensakten der Eltern sowie der Schwester, der Klägerin sind die beigezogen worden.
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Bei der Anhörung der Eltern der Klägerin im Verfahren der Schwester der Klägerin vor dem Bundesamt am … August 2018 sind die Eltern persönlich zu den Asylgründen angehört worden. Die Mutter der Antragstellerin trug im Wesentlichen vor, dass man sie in Uganda aufgrund ihrer Homosexualität noch immer töten wolle. Außerdem werde die Klägerin in Uganda nicht akzeptiert werden, da ihr Vater nicht aus Uganda stamme. Zudem gab sie an, dass der Schwester der Klägerin in Nigeria die Beschneidung drohe.
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Mit Bescheid vom … November 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Uganda (Nr. 4). sowie hinsichtlich Nigeria nicht vorliegen (Nr. 5). Es forderte die Klagepartei auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, anderenfalls wurde die Abschiebung nach Uganda oder in einen anderen Staat, in den eingereist werden darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 6). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 7).
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Die Klagepartei hat am 7. Dezember 2021 Klage erhoben und beantragt,
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I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … November 2021, GZ.: …, wird in Ziffern 3 bis 6 aufgehoben.
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II. Die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus gem. § 4 AsylG zuzuerkennen sowie das Bestehen von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 5 bis 7 AufenthG sowohl hinsichtlich Uganda als auch Nigeria festzustellen.
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Die Beklagte hat die Akte vorgelegt und beantragt,
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Am 19. März 2024 fand mündliche Verhandlung statt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren, die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift vom 19. März 2024 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist bezüglich der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots begründet, im Übrigen unbegründet.
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1. Für die in der Bundesrepublik Deutschland geborene Klägerin werden keine eigenen Asylgründe vorgetragen. Die Klägerin ist ein in Deutschland geborenes Kleinkind, so dass es bei der Klärung ihrer Schutzbedürftigkeit in erster Linie auf die von ihren Eltern in deren Asylverfahren vorgetragenen Gründe ankommt. Soweit die angeblichen Fluchtgründe der Mutter in den Blick zu nehmen sind, wurde deren Klage auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus sowie auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen mit Urteil vom 14. März 2022 (M 5 K 17.38313) abgewiesen. Für den mit der Mutter nicht verheirateten Vater der Klägerin gilt entsprechendes. Dessen Asyl- und Schutzantrag wurde ebenfalls abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage (Au 7 K 17.31469) wurde mit Urteil vom 22. Juni 2018 abgewiesen. Auch der Folgeantrag wurde rechtskräftig als unzulässig abgelehnt. Es bestehen daher in Folge der Gründe, die die Eltern der Klägerin vorgebracht haben, nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 4 AsylG.
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Die Ausführungen der Eltern der Klägerin, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria – dem Herkunftsland des Vaters der Klägerin – dort Genitalverstümmelung drohe, bedingen nichts Anderes. Eine Genitalverstümmelung der Klägerin ist auch bei einer Rückkehr der Familie nach Nigeria nicht beachtlich wahrscheinlich. Beide Eltern haben im Rahmen der mündlichen Verhandlung angeben, dass sie gegen Genitalbeschneidung sind und dies bei ihren beiden Kindern auch verhindern würden, dies jedoch auf Grund des Drucks der Familie nicht einfach sei. Die Einstellung der Eltern zur Zwangsbeschneidung ist maßgeblich (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 41). Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und wiederholt dargelegt, dass sie eine Genitalverstümmelung der Klägerin nicht hinnehmen wollen. Es ist demgegenüber nicht anzunehmen, dass sich die Familie des Vaters der Klägerin gegen den Willen beider Eltern bezüglich der Durchführung der Genitalverstümmelung durchsetzen könnte. Zumal der Druck der Familie vor einer Beschneidung durch einen Umzug deutlich verringert werden kann (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 41).
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Andere Verfolgungshandlungen oder drohende ernsthafte Schäden wurden nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.
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Das Gericht sieht im Übrigen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, folgt den diesbezüglichen Ausführungen im Bescheid und nimmt Bezug darauf (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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Es sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könnten. Da die beiden Eltern der Klägerin vor ihrer Ausreise ihren Lebensunterhalt ohne weiteres bestreiten konnten, wird ihnen dies bei hypothetischer gemeinsamer Rückkehr nach Uganda oder Nigeria – auch unter Berücksichtig des erhöhten Betreuungsbedarfes der Schwester der Klägerin auf Grund deren frühkindlichen Autismus – möglich sein.
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Ebenso wenig sind die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. Abs. 7 Satz 1 AufenthG ersichtlich.
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Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer „konkreten“ Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. „Konkret“ ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der Behandlung seiner Leiden träfe und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – juris Rn. 13; U.v. 22.3.2012 – 1 C 3/11 – juris Rn. 34; OVG Münster, U.v. 18.1.2005 – 8 A 1242/03.A – juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 28). Zudem muss eine auf den Einzelfall bezogene, individuell bestimmte und erhebliche, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretende Gefährdungssituation vorliegen und es muss sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden indes allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Somit gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
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2. Die Abschiebungsandrohung in Nummer 6 des Bescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie verstößt gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F..
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Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54) hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union reagiert, wonach die bisherigen Regelungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung teilweise nicht den Anforderungen der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) genügten (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 ff.). Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nunmehr nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. auch voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (vgl. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – juris Rn. 60; EuGH, U.v. 8.5. 2018 – C-82/16 – juris Rn. 102; EuGH, U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48).
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Vor diesem Hintergrund ist die Norm im Lichte des Art. 5 Rückführungsrichtlinie und der hierzu ergangenen Rechtsprechung auszulegen; auch für die Anwendung des Art. 6 GG ist Raum (BayVGH, U.v. 21.3.2024 – 24 B 23.30860 – Rn. 55).
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Die Betroffenheit der in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht hat das Bundesamt als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen. Insoweit müssen die Gerichte „durchentscheiden“ (BayVGH, U.v. 21.3.2024 – 24 B 23.30860 – Rn. 56).
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Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie gemeinsam das Sorgerecht ausüben sowie zusammen in einer Familienwohnung leben. Beide Elternteile sind im Besitz einer bis … Oktober 2025 gültigen Aufenthaltserlaubnis (§ 25 AufenthG). Diese wurden dem Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegt.
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Es liegt demnach eine Familie vor und es bestehen familiäre Bindungen im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG n.F., die von einer Abschiebungsandrohung betroffen werden, so sind für die Frage, ob sie der Androhung entgegenstehen, die Bindungen – wie es Art. 5 Rückführungsrichtlinie formuliert – in gebührender Weise zu berücksichtigen. Notwendig ist insoweit eine Abwägung der für die Abschiebungsandrohung sprechenden Belange mit dem tatsächlichen und normativen Gewicht der familiären Belange im konkreten Einzelfall. Im Rahmen dieser Würdigung können die Grundsätze und Wertungsgesichtspunkte der ausländerrechtlichen Rechtsprechung herangezogen werden, die im Zusammenhang mit der Prüfung aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen, entwickelt wurden. Die Fallgestaltungen und die grundrechtlichen Wertungen sind insoweit grundsätzlich vergleichbar. Normativ ist insoweit insbesondere Art. 7 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG entscheidend. Zwar gewähren diese grundrechtlichen Garantien dem Ausländer keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet, sie verpflichten aber dennoch die Behörden und Gerichte, bei entsprechenden Entscheidung die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333.21 – juris Rn. 45; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, U.v. 8.12.2022 – 1 C 8.21 – juris Rn. 20 m.w.N.). Soweit Kinder Teil der familiären Bindung sind, ist zudem Art. 24 GRCh zu beachten. Ausdrücklich misst Art. 24 Abs. 3 GRCh regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten von Kindern zu ihren Elternteilen – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).
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Bei der vorzunehmenden Abwägung ist zu beurteilen, ob die festgestellten Beeinträchtigungen der familiären Bindungen und das Kindeswohl in einem angemessenen Verhältnis zu den asyl- und einwanderungspolitischen Belangen, Sicherheits- oder sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen, denen durch die Abschiebungsandrohung Rechnung getragen werden soll, und sie deshalb zurückstehen können. So sind beispielsweise die Interessen eines betroffenen Ehepartners zu würdigen (vgl. BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23/73 – juris Rn. 69) oder zu beurteilen, ob erwartbare Trennungsphasen einem Kind oder dem Elternteil zugemutet werden können (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46). Von Relevanz ist auch, ob, wann und in welchem Umfang es den anderen Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, den Adressaten der Abschiebungsandrohung ins Ausland zu begleiten. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je weniger der Aufenthalt des Kindes und/oder der Eltern im Bundesgebiet gesichert ist und je weiter die Möglichkeiten der Familie reichen, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort fortzuführen (vgl. zum Ganzen etwa VGH BW, B.v. 4.7.2023 – 11 S 448/23 – juris Rn. 12; BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 17).
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Unter Berücksichtigung dessen, sowie den Tatsachen, dass beide Elternteile einen gesicherten Aufenthalt haben, eine enge Bindung zu der Klägerin beseht sowie dem jungen Alter der Klägerin (zwei Jahre) ist die Abschiebungsandrohung in Nummer 6 des Bescheids rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
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3. Auch die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Nummer 7 des Bescheides ist rechtswidrig, da es infolge der Rechtswidrigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 und 3 Satz 1 AufenthG fehlt. Das Gericht ist auch bei Klageanträgen die von einem Anwalt gestellt sind nicht strikt an den Antragswortlaut gebunden, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (Wöckelin: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Auflage 2022, § 88 Rn. 9 m.w.N). Das Gericht legt den auf Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides gestellten Klageantrag nach § 88 VwGO dahingehend aus, dass auch die Ziffer 7 des Bescheids angefochten werden soll. Wie sich aus § 11 Abs. 1 und 3 Satz 1 AufenthG ergibt, sind die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot rein materiell rechtlich sehr eng miteinander verknüpft, was dafür spricht, dass die Klagepartei auch gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot vorgehen wollte. Auch hat die Klagepartei nur eine Kopie der ersten Seite des Bescheides miteingereicht; Ziffer sieben des Tenors befand sich auf Seite 2 des Bescheides. Weiter haben die Bescheide des Bundesamtes in der Regel lediglich sechs Ziffern. Der streitgegenständliche Bescheid hat ausnahmsweise sieben Ziffern, da die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen für Uganda und Nigeria in zwei eigenständigen Ziffern tenoriert wurden.
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4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Obsiegen der Klägerin hinsichtlich der Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiegt gegenüber dem Unterliegen bezüglich der mit dem Asylantrag und der Klage vorrangig begehrten Verpflichtungen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft verhältnismäßig gering, sodass der Klägerin die Kosten ganz auferlegt werden (vgl. VG München, U.v. 3.4.2023 – M 27 K 22.30441 – juris Rn. 34; U.v. 8.5.2023 – M 5 K 17.42261 – juris Rn. 56).
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5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Nach § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.