Titel:
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, Schuldverschreibungen, Bayerisches Oberstes Landesgericht, Weiterveräußerung, Vorlagebeschluß, Fehlerhafte Kapitalmarktinformation, Tabellenfeststellungsklage, Feststellungsziel, Sofortige Beschwerde, Klagepartei, Treuhandkonto, Geltendmachung eines Anspruchs, Insolvenztabelle, Insolvenzgläubiger, Klageschrift, Gesamtschuldner, Vorgreiflichkeit, Entscheidungsreife, Doppelberücksichtigung, Klageerwiderung
Schlagworte:
Insolvenzverfahren, Schadensersatzansprüche, Kapitalmarktinformation, Tabellenfeststellungsklage, Kursdifferenzschaden, Musterverfahren, Bilanzmanipulation
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 03.04.2023 – 35 O 7934/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 44587
Tenor
I. Die sofortige Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 03.04.2023, Az. 35 O 7934/22, wird zurückgewiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Die Klägerin begehrt vor dem Landgericht München I im Wege der Teilklage die Feststellung, dass ihr für Schadensersatzforderungen, welche sie im Insolvenzverfahren über das Vermögen der … angemeldet hat, ein Insolvenzgläubigerrecht zustehe.
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Die Klägerin ist eine österreichische Kapitalanlagegesellschaft und verwaltet unter anderem die Investmentfonds „…“ und „K150“ als unselbständige Sondervermögen. Die Klagepeartei trägt vor, im Zeitraum vom 09.09.2019 bis zum 18.06.2020, 10:43 Uhr, für die vorgenannten Investmentfonds Anteile an der Schuldverschreibung der … mit der ISIN DE000A2YNQ58 erworben und jeweils nach dem 18.06.2020 wieder verkauft zu haben. Die … hatte die Anleihe im September 2019 in Höhe von 500 Millionen € begeben, wobei die Stückelung 100.000,00 € betrug (Anlage K3). Nach dem Vorbringen der Klägerin sei beim … ein Kursdifferenzschaden in Höhe von mindestens 915.996,48 € und beim „K150“ ein Kursdifferenzschaden in Höhe von mindestens 54.983,86 € entstanden.
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Am 15.10.2019 veröffentlichte die … einen Artikel, in welchem der … die Manipulation von Geschäftszahlen vorgeworfen wurde. Der daraufhin von … erstellte Sonderprüfungsbericht wurde am 28.04.2020 veröffentlicht. Am 26.05.2020 verschob die … zum wiederholten Male die Vorlage seines Konzernabschlusses für das Geschäftsjahr 2019. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 18.06.2020, 10:43 Uhr, gab die … bekannt, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft … sie informiert habe, dass für Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden € noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise vorhanden seien. Am 22.06.2020 teilte die … ad-hoc mit, dass die genannten Bankguthaben auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden. Die … versagte letztlich den Bestätigungsvermerk für den Jahres- und Konzernabschluss 2019. In der Zeit nach dem 18.06.2020 fiel der Kurs der …stark.
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Auf Insolvenzantrag der … vom 26.06.2020 eröffnete das Amtsgericht … am 25.08.2020 unter dem Az. 1542 IN 1308/20 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Unternehmens und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter (Anlage K5).
5
Die Klägerin meldete mit Schreiben vom 13.10.2020 Schadensersatzansprüche in Höhe von insgesamt 5.365.764,39 €, darunter die behaupteten Kursdifferenzschäden aus dem Anleihenerwerb für die Fonds „…“ und „K150“, zur Insolvenztabelle an (Anlage K6). Die Forderungen wurden dort unter der lfd. Nr. 476 erfasst (Anlage K8). Im Prüfungstermin vom 15.04.2021 hat der Beklagte der Feststellung der Forderungen gemäß § 179 Abs. 1 InsO widersprochen.
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Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr gegen die …chadensersatzansprüche aus §§ 97, 98 WpHG, §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 331 Nr. 1 und 2 HGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 264a StGB und § 826 BGB zustünden. Das Unternehmen habe seine ad-hoc-Publizitätspflichten verletzt und dadurch den von ihr, der Klagepartei, verwalteten Sondervermögen Schaden zugefügt.
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Am 14.03.2022 erließ das Landgericht … im Verfahren 3 OH 2767/22 KapMuG einen Vorlagebeschluss gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf diesen Beschluss, veröffentlicht im Bundesanzeiger am 16.03.2022, Bezug genommen. Das Verfahren wurde dem … vorgelegt (Az. 101 Kap 1/22).
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Mit Schriftsatz vom 13.12.2022 (Bl. 231/233 der LG-Akte) beantragte die Klägerin, den hiesigen Rechtsstreit im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des … in dem Verfahren 3 OH 2767/22 KapMuG nach § 8 KapMuG auszusetzen.
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Der Beklagte trat einer Aussetzung mit Schriftsatz vom 03.01.2023 entgegen (Bl. 234/248 der LG-Akte).
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Mit Beschluss vom 13.03.2023 bestimmte das … in dem Musterverfahren Az. 101 Kap 1/22 den Musterkläger, gab die Musterbeklagten bekannt und erteilte Hinweise (Anlage K 19).
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Mit Beschluss vom 03.04.2023 setzte das … das hiesige Verfahren im Hinblick auf das Kapitalanleger-Musterverfahren Az.: 101 Kap 1/22 des … aus (§ 8 Abs. 1 KapMuG). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Anwendungsbereich nach § 1 KapMuG eröffnet sei. Es sei unerheblich, dass es sich vorliegend um eine Tabellenfeststellungsklage handele, also ein Schadensersatzanspruch nur mittelbar geltend gemacht werde. Entscheidend sei, dass sich ein Bezug zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation herstellen lasse und die Rechtsfolge insofern auf Schadensersatz gerichtet sei. Die im Musterverfahren vorgelegten Fragen seien auch vorgreiflich. Die Klägerin argumentiere maßgeblich mit der fehlenden Ordnungsgemäßheit der …-Geschäftsberichte; der Vorlagebeschluss des … vom 14.03.2022 stelle seinerseits unter anderem auf die Geschäftsberichte der … für die Jahre 2014 bis 2017 ab. Der Rechtsstreit sei ferner nicht aus anderen Gründen entscheidungsreif. Die Gefahr einer Doppelberücksichtigung von Ansprüchen im Sinne von § 44 InsO bestehe nicht. Eine analoge Anwendung dieser Norm sei nicht geboten, weil der Erfüllungsanspruch aus der Anleihe sich erheblich von einem auf Rückübertragung und Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch unterscheide. Schließlich erweise sich der klägerische Vortrag auch als schlüssig. Zu den Einzelheiten wird auf den Beschluss des … vom 03.04.2023 Bezug genommen (Bl. 252/257 der LG-Akte).
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Der Beschluss wurde den Parteivertretern jeweils am 05.04.2023 formlos übermittelt (Bl. 258 der LG-Akte).
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Mit Schriftsatz vom 18.04.2023, beim … per beA eingegangen am selben Tag, legte der Beklagte sofortige Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss des Landgerichts ein. Er führte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen einer Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG nicht vorlägen. Die Nichtexistenz des TPA-Geschäfts und die Fehlerhaftigkeit der veröffentlichten Bilanzen der … seien nicht streitig, weshalb es an der Vorgreiflichkeit des Musterverfahrens für den vorliegenden Rechtsstreit fehle. Außerdem könnten Schadensersatzansprüche aus und im Zusammenhang mit Transaktionen von Schuldverschreibungen nicht neben den seitens des gemeinsamen Vertreters (§ 7 Abs. 2 S. 3 SchVG) in Höhe des vollen Nominalbetrags von 500 Millionen € zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen aus den Schuldverschreibungen geltend gemacht werden. Dies führe zu einer Vervielfachung von Ansprüchen, welche die Insolvenzschuldnerin ungerechtfertigt zu Lasten der übrigen Gläubiger belasten würde (§ 44 InsO analog). Die Klagepartei habe schließlich weder dem Grunde noch der Höhe nach schlüssig zu den geltend gemachten Schadensersatzansprüchen vorgetragen. Jedenfalls bei deliktischen Ansprüchen sei der Nachweis einer Transaktionkausalität erforderlich; die Klägerin habe aber noch nicht einmal behauptet, die Geschäftsberichte der … zur Kenntnis genommen zu haben. Zu den Einzelheiten wird auf die Beschwerdeschrift vom 18.04.2023 (Bl. 261/278 der LG-Akte = Bl. 1/18 der Beschwerdeakte) Bezug genommen.
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In ihren Schriftsätzen vom 02.05., 23.06. und 08.12.2023 (Bl. 19/28, 85/103 und 117/140 der Beschwerdeakte) machte die beklagte Partei weitere Ausführungen.
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Die Klägerin äußerte sich mit Schriftsätzen vom 25.05.2023, 13.07.2023 und 15.01.2024 (Bl. 29/84, 104/108 und 141/151 der Beschwerdeakte) zum Beschwerdevorbringen.
16
Das Landgericht … half der sofortigen Beschwerde des Beklagten mit Beschluss vom 17.11.2023 nicht ab, machte hierzu ergänzende Ausführungen und verfügte die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht … (Bl. 380/385 der LG-Akte).
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Ergänzend wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
18
Die gemäß §§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 569 ZPO) sofortige Beschwerde des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht … hat das Verfahren zu Recht nach § 8 Abs. 1 Kap-MuG ausgesetzt.
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1. Nach § 8 Abs. 1 KapMuG setzt das Prozessgericht nach der Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses im Klageregister von Amts wegen alle bereits anhängigen oder bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren noch anhängig werdenden Verfahren aus, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt.
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2. Ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG für die streitgegenständlichen Klageansprüche vorliegen, ist im Aussetzungsverfahren gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG nicht zu prüfen (hierzu Buchstabe a); im Übrigen ist dies auch der Fall (hierzu Buchstabe b).
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a) Eine Prüfung, ob für die Klageansprüche des auszusetzenden Verfahrens der Anwendungsbereich des 1 Abs. 1 KapMuG eröffnet ist, ist nach aktueller Rechtsprechung nicht veranlasst (BGH, Beschluss vom 16.06.2020 – II ZB 30/19, Rn. 20 f. entgegen BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – XI ZB 13/18, BeckRS 2019, 17221 Rn. 14).
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Die Voraussetzungen der Aussetzung sind in § 8 Abs. 1 KapMuG abschließend geregelt. Erforderlich ist lediglich das Vorliegen eines Vorlagebeschlusses, nicht jedoch, dass die geltend gemachten Klageansprüche in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen. Für diese Auslegung spricht auch die Historie der Gesetzgebung (OLG München Beschluss vom 06.05.2022 – 8 U 5530/21 = BeckRS 2022, 9764 Rn. 31 ff.). Außerdem wäre es prozessökonomisch nicht sinnvoll, wenn zwar das Musterverfahrensgericht (hier das Bayerische Oberste Landesgericht) gemäß § 6 Abs. 2 KapMuG an den Vorlagebeschluss gebunden wäre, dem somit durchzuführenden Musterverfahren jedoch nicht alle von den Feststellungszielen abhängige Verfahren zugeführt würden.
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b) Letztlich kann dies jedoch offenbleiben, denn der Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) ist vorliegend eröffnet.
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aa) Das Gesetz ist nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG unter anderem in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, in denen ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird.
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„Öffentliche Kapitalmarktinformationen“ sind dabei Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und einen Emittenten von Wertpapieren oder einen Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen (§ 1 Abs. 2 S. 1 KapMuG).
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bb) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
27
Bei den von der Klägerin bemängelten Geschäftsberichten der … und den von ihr vorgetragenen bzw. vermissten ad-hoc-Mitteilungen zur Vermögenslage des Unternehmens handelt es sich um „öffentliche Kapitalmarktinformationen“.
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Außerdem ist eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit gegeben, in der Schadensersatzansprüche wegen falscher und unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation „geltend gemacht“ werden.
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Zwar begehrt die Klägerin die Feststellung von Schadensersatzansprüchen zur Insolvenztabelle (§§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 InsO), nimmt für die von ihr behaupteten Schadensersatzansprüche mithin nicht unmittelbar die insolvente … in Anspruch. Das Landgericht geht aber zutreffend davon aus, dass es für die Anwendbarkeit des KapMuG in einem allgemeineren Sinn auf den Bezug des Klagebegehrens zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation und darauf ankommt, dass die Rechtsfolge insofern auf Schadensersatz gerichtet ist (vgl. Gängel/Huth/Gansel, KapMuG, 4. Aufl. 2013, KapMuG § 1 Rn. 13).
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Dies ist hier der Fall.
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Zunächst ist der Anwendungsbereich des KapMuG nicht auf Leistungsklagen beschränkt. In der Terminologie der ZPO weist das „Geltendmachen eines Anspruchs“ nicht auf eine bestimmte Klageart hin; dieses Begriffsverständnis gilt auch für die Bestimmungen im KapMuG, weil es sich hierbei um ein Gesetz handelt, welches ein besonderes Verfahren für Zivilprozesse regelt. Konsequenterweise geht die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 KapMuG, nach der Entstehungsgeschichte des KapMuG, nach der Gesetzessystematik sowie nach dem Sinn und Zweck der Norm auch pos tive Feststellungsklagen musterverfahrensfähig sind (BGH NZG 2016, 67, 68 f. Rn. 11 ff.; vgl. hierzu Vorwerk/Wolf/Radtke-Rieger, KapMuG, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 18 f.). Bei der Klage gemäß §§ 179 ff. InsO handelt es sich um eine echte Feststellungsklage im Sinne des § 256 ZPO (BGH NJW 1967, 1371; MüKolnsO/Schumacher, 4. Aufl. 2019, InsO § 179 Rn. 5 m.w.N.).
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Ferner kann ein Gläubiger im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen (§§ 87, 38 InsO). Dies ist für die gegenständlichen, vom Insolvenzverwalter bestrittenen Schadenersatzansprüche die Tabellenfeststellungsklage. Die Eintragung in die Tabelle wirkt für die festgestellten Forderungen sowohl ihrem Betrag als auch ihrem Rang nach wie ein rechtskräftiges Urteil gegenüber dem Insolvenzverwalter und allen Insolvenzgläubigern (§ 178 Abs. 3 InsO).
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Entgegen der Auffassung des Beklagten kann die Frage des Bestehens der streitgegenständlichen Schadensersatzansprüche daher auch nicht als bloße Vorfrage des eigentlichen Klagebegehrens der Tabellenfeststellungsklage, des Teilhaberechts des putativen Gläubigers an der Verteilung der Insolvenzmasse, angesehen und als nicht musterverfahrensfähig eingestuft werden. Zwar genügt es für die Musterverfahrensfähigkeit nicht, dass Feststellungen in dem bereits eingeleiteten Musterverfahren Einfluss auf die Entscheidung im streitgegenständlichen Verfahren haben können (BGH, Beschluss vom 16.06.2020 – II ZB 10/19, Rn. 24 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist es aber so, dass die Parteien mit einer bindenden Entscheidung über den von der Aussetzung betroffenen Streitgegenstand im Rahmen der Feststellungsziele rechnen können (vgl. BGH a.a.O.). Denn die begehrte Forderungsfeststellung und damit das geltend gemachte Recht zur Teilhabe an der Insolvenzmasse hängen maßgeblich von den behaupteten Schadensersatzansprüchen ab, deren Bestand der Beklagte bestreitet. Die Feststellung dieser Schadensersatzansprüche ist mithin nicht nur eine Vorfrage für das eigentliche Begehr der Klagepartei, sondern das mit dem im Insolvenzverfahren eröffneten Weg der Tabellenfeststellungsklage verfolgte Begehr selbst (vgl. BGH NJW 1967, 1371).
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Dass Verfahrenskonstellationen auftreten könnten, in denen ein Anleger dem angemeldeten Anspruch eines anderen Anlegers widerspricht und sich als Beklagter einer Tabellenfeststellungsklage möglicherweise auf beiden Seiten des Musterfeststellungsverfahrens wiederfindet (nämlich als Musterbeklagter nach § 9 Abs. 5 KapMuG und als Beigeladener nach § 9 Abs. 3 KapMuG, etwa wenn er selbst gegen einen Widerspruch klagt; vgl. S. 10 des Beklagtenschriftsatzes vom 08.12.2023 = Bl. 126 der Berufungsakte), ist jedenfalls hier nicht zu besorgen, weil sich die Klagepartei gegen den Widerspruch des Insolvenzverwalters – nicht gegen denjenigen eines anderen Insolvenzgläubigers – wendet. Abgesehen davon werden der Widerspruch des bestreitenden Anlegers und der Widerspruch, der sich auf seinen eigenen angemeldeten Anspruch bezieht, regelmäßig unterschiedliche Gegenstände zum Inhalt haben, so dass die Situation eines „Insich-Prozesses“ in Wirklichkeit nicht besteht.
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Schließlich spricht auch der Sinn und Zweck des KapMuG, die prozessökonomische Bündelung der Entscheidung von tatsächlichen und/oder rechtlichen Fragestellungen, welche regelmäßig für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung sind, für die Musterverfahrensfähigkeit des vorliegenden Rechtsstreits.
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3. Die Entscheidung des Rechtsstreits zwischen der Klagepartei und dem Beklagten hängt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab. Darauf, ob sämtliche Feststellungsziele auch für das vorliegende Verfahren von Bedeutung sind, kommt es nicht an.
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Der vorliegende Rechtsstreit ist nicht unabhängig von diesen Zielen entscheidungsreif und eine etwa erforderliche weitere Beweisaufnahme setzt jedenfalls eine Entscheidung über die Feststellungsziele voraus.
38
a) Die Klägerin als Erwerberin der streitgegenständlichen Schuldverschreibungen ist trotz der erfolgten Weiterveräußerung aktivlegitimiert.
39
aa) Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche setzen nicht voraus, dass der Anspruchsteller noch Inhaber der Finanzinstrumente ist.
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Dies ergibt sich für die geltend gemachten Ansprüche aus §§ 97, 98 WpHG schon aus der Gesetzesformulierung. Für den Schadensersatzanspruch wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen kommt es nach § 97 Abs. 1 Nr. 1 WpHG lediglich darauf an, dass der Geschädigte die Finanzinstrumente nach der Unterlassung erwirbt und bei Bekanntwerden der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente ist. Für den Schadensersatzanspruch wegen Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen wird lediglich vorausgesetzt, dass der Geschädigte die Finanzinstrumente nach der Veröffentlichung erwirbt und bei dem Bekanntwerden der Unrichtigkeit der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente ist (§ 98 Abs. 1 Nr. 1 WpHG).
41
Auch die deliktische Haftung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (gegebenenfalls in Verbindung mit Schutzgesetzen) setzt grundsätzlich nicht voraus, dass der Anspruchsteller die Kapitalanlage noch hält.
42
bb) Die Weiterveräußerung der streitgegenständlichen Wertpapiere steht einer Geltendmachung von Schadensersatz wegen der Verletzung von Informationspflichten auch sonst nicht entgegen.
43
Bei der Weiterveräußerung von Wertpapieren gehen nicht in den Anteilsscheinen verbriefte Sekundäransprüche auf den Zweiterwerber nur über, wenn sie mit dem verbrieften Recht mitübertragen worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 21.09.2023 – III ZR 139/22, Rn. 21 ff. für den Zweiterwerb von Fondsanteilen). Sekundäransprüche wie die hier geltend gemachten Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung von Publizititätspflichten, die in der Person des ursprünglichen Erwerbers entstanden sind, sind nicht in den Anteilsscheinen verbrieft (vgl. BGH a.a.O., Rn. 23). Es handelt sich auch nicht um im Verhältnis zu den verbrieften Rechten akzessorische Ansprüche, die ohne Weiteres mit ersteren auf den Zweiterwerber übergehen (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Aufl. 2024, BGB § 401 Rn. 6 m.w.N. zur fehlenden Eigenschaft von Schadensersatzansprüchen als nach § 401 Abs. 1 BGB mit der übertragenen Forderung übergehende Nebenrechte). Eine Vereinbarung dahingehend, dass die Klägerin bei der Veräußerung der streitgegenständlichen Wertpapiere etwaige in ihrer Person entstandene Sekundäransprüche mitübertragen hätte, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
44
b) Die Klagepartei hat zu den Anspruchsvoraussetzungen für eine deliktische Haftung der … wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation nach §§ 97, 98 WpHG (bei welchen es sich um die Nachfolgeregelungen der §§ 37b, 37c WpHG a.F. handelt), §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 331 Nr. 1 und 2 HGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 264a StGB und § 826 BGB schlüssig vorgetragen.
45
aa) Die Klagepartei hat auf S. 20 ff. der Klageschrift vom 07.07.2022 (= Bl. 20 ff. der LG-Akte) im Einzelnen dargelegt, warum die Abschlüsse des … für die Jahre 2015 bis 2018 manipuliert gewesen seien. Im sog. TPA-Geschäft (Third Party Acquiring), welches eine zentrale Rolle für … gespielt habe, seien Umsatzerlöse und Forderungen sowie die Bestände von Treuhandkonten lediglich fingiert gewesen. Am Ende hätten sich allein auf den Treuhandkonten fingierte Bestände von 1,9 Milliarden € befunden. Jedenfalls seit dem Geschäftsbericht 2015 seien sämtliche Berichte der Insolvenzschuldnerin grob unrichtig und die Jahresabschlüsse daher nichtig. Wirecard habe die Öffentlichkeit über seine wahre Geschäftspraxis nie aufgeklärt; den ad-hoc-Publizitätspflichten sei über Jahre hinweg pflichtwidrig nicht genügt worden.
46
Der Beklagte hat dieses Vorbringen nicht bestritten und auf S. 20 ff. der Klageerwiderung vom 08.11.2022 (= Bl. 123 ff. der LG-Akte) unter Nennung von Belegen bzw. Indizien vorgetragen, dass nach seinem Kenntnisstand das TPA-Geschäft der Schuldnerin nicht existiert habe. Dies gelte auch für die generierten Forderungsbestände und die Treuhandkonten. Vielmehr habe es sich um reine Fiktionen gehandelt, welche von den für den Zusammenbruch der … Verantwortlichen erdacht worden seien. Das operative Geschäft der Schuldnerin sei schon Jahre vor der Insolvenzantragstellung defizitär gewesen. Auf seine, des Beklagten, Klage habe das Landgericht München I mit Urteil vom 05.05.2022 auch die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse der … zum 31.12.2017 und 31.12.2018 festgestellt (Az.: 5 HK O 15710/20).
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bb) Ferner hat die Klägerin schlüssig behauptet, dass die Bilanzmanipulationen der Insolvenzschuldnerin objektiv und subjektiv zurechenbar seien (§ 31 BGB).
48
Die Klagepartei hat vorgetragen, dass jedenfalls die Vorstandsmitglieder … (Vorstandsvorsitzender), … (Vertriebsvorstand und verantwortlich für das TPA-Geschäft) und … (vormaliger Finanzvorstand) übereingekommen seien, die Bilanzen des Unternehmens systematisch zu manipulieren, und sich hierfür insbesondere auf das Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I sowie auf den Inhalt des Bundestagsdokuments „Beschlussempfehlung und Bericht des 3. Untersuchungsausschusses der 19. Wahlperiode gemäß Art. 44 des Grundgesetzes“ berufen (S. 57 f. und 52 ff. der Klageschrift = Bl. 57 f. und 52 ff. der LG-Akte; S. 17 f. des klägerischen Schriftsatzes vom 25.03.2023 = Bl. 305 f. der LG-Akte). Auch im Hinblick auf das Ausmaß und die Dauer der unstreitigen Bilanzmanipulationen und den für die Fiktion der zugrunde liegenden Geschäftsvorgänge erforderlichen Aufwand erweist sich das Vorbringen der Klagepartei zu einer Kenntnis und maßgeblichen Veranlassung durch Vorstandsmitglieder der … nicht als bloße Behauptung ins Blaue hinein.
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cc) Zur Frage der Kausalität hat die Klagepartei ebenfalls schlüssig vorgetragen.
50
Demnach hätte sie die streitgegenständlichen Finanzinstrumente nicht oder jedenfalls zu deutlich niedrigeren Preisen erworben, wenn sie gewusst hätte, dass die Finanzberichterstattung der … fehlerhaft ist und die wahren Tatsachen verschwiegen wurden (S. 85 f. der Klageschrift = Bl. 85 f. der LG-Akte). Die Klägerin hat auch in nachvollziehbarer Weise behauptet, dass der Kurs der streitgegenständlichen Schuldverschreibungen bei rechtzeitiger und zutreffender Information des Kapitalmarktes über die vorgenannten Bilanzmanipulationen im jeweiligen Erwerbszeitpunkt niedriger gewesen wäre (S. 59 ff. der Klageschrift = Bl. 59 ff. der LG-Akte).
51
Hinsichtlich der Haftung nach §§ 97, 98 WpHG durfte sich die Klägerin für die Geltendmachung des Kursdifferenzschadens – anders als bei der Geltendmachung des Transaktionsschadens – auf dieses Vorbringen beschränken und musste keine Ausführungen zu einer konkreten Kausalität im Sinne einer Kenntnisnahme der manipulierten Jahresabschlüsse machen (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2011 – XI ZR 51/10 = NJW 2012, 1800, 1807 Rn. 67 „IKB“; Heidel/Seggewiße, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, WpHG § 97 Rn. 11; Schwark/Zimmer/Zimmer/Steinhaeuser, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Aufl. 2020, WpHG §§ 97, 98 Rn. 104).
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Im Bereich der Informationsdeliktshaftung nach § 826 BGB genügt es nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung für die Annahme der haftungsbegründenden Kausalität zwar nicht, dass die Fehlinformation bzw. die unterbliebene Information zu einem Vermögensnachteil geführt oder sich auf die Anlageentscheidung mittelbar ausgewirkt hat, indem lediglich der Kurs des Finanzinstruments von ihr beeinflusst war. Auch ein auf den Differenzschaden begrenzter Anspruch wird dadurch nicht begründet. Der Anleger hat vielmehr konkret darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass er die Anlageentscheidung im Vertrauen auf die Richtigkeit der im Einzelfall gegebenen Information bzw. auf die Nichtexistenz der verschwiegenen publizitätspflichtigen Information getroffen hat (BGH NZG 2007, 346, 347 „ComROAD II“; Schwark/Zimmer/Zimmer/Steinhaeuser, a.a.O., WpHG §§ 97, 98 Rn. 135 ff.). Insoweit hat sich die Klagepartei jedoch in zulässiger Weise auf das Vorliegen einer einzelfallbezogenen, konkreten Anlagestimmung berufen und die entsprechenden Tatsachengrundlagen hierfür dargetan (S. 86 ff. der Klageschrift = Bl. 86 ff. der LG-Akte).
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dd) Die Klage ist schließlich auch hinsichtlich der begehrten Rechtsfolge schlüssig.
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Die Höhe des geltend gemachten Kursdifferenzschadens ist im Wege der Schätzung gemäß § 287 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 ZPO zu ermitteln. Die Klagepartei hat auf S. 59 ff. der Klageschrift (= Bl. 59 ff. der LG-Akte) im Einzelnen die von ihr für die Schadensberechnung herangezogene Methode erläutert, welche sich am Kursverlauf orientiert und anhand von äußeren Ereignissen in unterschiedliche Schadensperioden einteilt. Diese Methode hat die Klägerin anschließend auf den konkreten Sachverhalt angewendet (vgl. zur Bestimmung des Kursdifferenzschadens auch MüKoBGB/Wagner, 9. Aufl. 2024, BGB § 826 Rn. 154 m.w.N.).
55
Dass der Kursdifferenzschaden aufgrund der Weiterveräußerung der Wertpapiere nicht mehr geltend gemacht werden könnte, ist nicht ersichtlich (s. hierzu schon unter Buchstabe a). Ungeachtet der Weiterveräußerung hat die Klagepartei – ihr Vorbringen zur Haftung der … als zutreffend unterstellt – einen Vermögensschaden daraus, dass sie selbst zu teuer erworben hatte.
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c) Dass der Beklagte die Fehlerhaftigkeit der …-Jahres- und Konzernabschlüsse insbesondere im Hinblick auf das TPA-Geschäft nicht mehr in Abrede stellt, lässt die Vorgreiflichkeit des Musterverfahrens nicht entfallen. Bei den unter Buchstabe b genannten, von der Klagepartei herangezogenen Anspruchsgrundlagen kommt es neben einem objektiv rechtswidrigen Verhalten des Schädigers jeweils auch auf die Kausalität für den Schadenseintritt beim Geschädigten und subjektiv auf das Verschulden des Schädigers bzw. des oder der für ihn handelnden Organe (§ 31 BGB) an. Den entsprechenden Vortrag der Klagepartei hat der Beklagte jeweils bestritten.
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aa) Der Beklagte hat mit Nichtwissen bestritten, dass die ehemaligen Vorstandsmitglieder … und … übereingekommen seien, die Bilanzen systematisch zu manipulieren, sowie dass diese Vorstandsmitglieder gewusst und gewollt hätten, dass der Ausweis in den Konzernbilanzen der … deren Geschäftsberichten 2015 bis 2018 hinsichtlich des Bilanzpostens „Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente“ in erheblichem Maße zugunsten der … überhöht dargestellt werden würde (S. 23 ff. der Klageerwiderung = Bl. 126 ff. der LG-Akte).
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Feststellungsziel im … Musterverfahren ist ausweislich Buchstabe A.II.1.a-f des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14.03.2022, dass der … spätestens am 07.04.2015 bewusst gewesen sei, dass die Treuhandkonten im Zusammenhang mit dem TPA-Geschäft nicht die in den veröffentlichten Konzernbilanzen der … ausgewiesenen Zahlungsmittel und zahlungsmitteläquivalente Bankguthaben aufgewiesen hätten. Hierbei handele es sich um eine Insiderinformation im Sinne von § 13 WpHG a.F., welche die … unmittelbar im Sinne von § 37b Abs. 1 WpHG und § 37c Abs. 1 WpHG betroffen habe. Die … habe es vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen, diese Insiderinformation unverzüglich im Sinne von § 15 Abs. 1 WpHG a.F. zu veröffentlichen. Insoweit habe die … auch sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB gehandelt. Schließlich sei die Unterlassung in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich im Sinne von § 826 BGB gewesen.
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Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses vom 14.03.2022 sind gemäß Buchstabe A.I.6 und 7 weiterhin, dass die … und der Beklagte … die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/oder 2018 im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Veröffentlichung gekannt habe und dass die Unrichtigkeit der vorgenannten Geschäftsberichte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit der … und des Beklagten … beruht habe.
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Feststellungsziel ist gemäß Buchstabe A.II.8 und 9 des Vorlagebeschlusses schließlich, dass die … und der Beklagte … durch Veröffentlichung der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/oder 2018 bzw. durch deren Unterzeichnung und Freigabe zur Veröffentlichung sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB gehandelt hätten und dass die Veröffentlichung in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich im Sinne des § 826 BGB gewesen sei.
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Über die Zulässigkeit und Begründetheit der im Vorlagebeschluss aufgeführten Feststellungsziele zu entscheiden, ist Aufgabe des Bayerischen Obersten Landesgerichts (§§ 6 Abs. 1 S. 1, 16 KapMuG; vgl. hierzu Vorwerk/Wolf/Kotschy, a.a.O., KapMuG § 16 Rn. 9 m.w.N.). Dass die vorgenannten Feststellungsziele unzulässig oder unbegründet wären, hat das Musterverfahrensgericht bislang nicht entschieden.
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bb) Bezogen auf eine Haftung aus § 826 BGB und aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz hat sich der Beklagte auf fehlenden Klägervortrag zur Transaktionskausalität berufen (S. 7 und 74 ff. der Klageerwiderung = Bl. 110 und 178 ff. der LG-Akte) und behauptet, dass eine Anlagestimmung selbst bei deren grundsätzlicher Unterstellung zu den Zeitpunkten der streitgegenständlichen Käufe aufgrund Zeitablaufs bzw. wegen gegenläufiger Pressemitteilungen wieder beendet gewesen sei (S. 82 ff. der Klageerwiderung = Bl. 185 ff. der LG-Akte).
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Feststellungsziel im Vorlagebeschluss des Landgerichts München I vom 14.03.2022 ist in Buchstabe C, dass der im Musterverfahren geltend gemachte Kursdifferenzschaden ohne konkreten Kausalitätsnachweis ersatzfähig ist.
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Das Bayerische Oberste Landesgericht hat auch über dieses Feststellungsziel bislang nicht entschieden, insbesondere nicht dessen Unzulässigkeit festgestellt.
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d) Der Rechtsstreit ist schließlich nicht aus anderen Gründen entscheidungsreif, ohne dass es auf die Feststellungsziele des Musterverfahrens ankäme.
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aa) Die Klagepartei ist insbesondere nicht analog § 44 InsO an einer Geltendmachung der streitgegenständlichen Schadensersatzansprüche im Insolvenzverfahren gehindert. Die Gefahr einer Doppelberücksichtigung besteht insoweit nicht.
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Nach § 44 InsO können der Gesamtschuldner und der Bürge die Forderung, die sie durch eine Befriedigung des Gläubigers künftig gegen den Schuldner erwerben könnten, im Insolvenzverfahren nur dann geltend machen, wenn der Gläubiger seine Forderung nicht geltend macht. Diese Regelung hängt eng mit derjenigen des § 43 InsO zusammen, wonach ein Gläubiger, dem mehrere Personen für dieselbe Leistung auf das Ganze haften, im Insolvenzverfahren gegen jeden Schuldner bis zu seiner vollen Befriedigung den ganzen Betrag geltend machen kann, den er zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens zu fordern hatte. Während § 43 InsO es dem Gläubiger bei einer Gesamtschuld oder einem gesamtschuldähnlichen Verhältnis gestattet, seine zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Forderung (sog. Berücksichtigungsbetrag) trotz zwischenzeitlicher Teilzahlungen des Mitschuldners bis zu seiner vollen Befriedigung weiter in ursprünglicher Höhe zu verfolgen, beschränkt § 44 InsO im Gegenzug das Recht des mithaftenden Gesamtschuldners oder Bürgen, seine durch die Befriedigung des Gläubigers aufschiebend bedingte Regressforderung gleichzeitig im Insolvenzverfahren geltend zu machen. Die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner und die Rückgriffsforderung des Bürgen oder des Gesamtschuldners sind jedenfalls bei wirtschaftlicher Betrachtung identisch und dürfen daher im Insolvenzverfahren nicht nebeneinander geltend gemacht werden (sog. Verbot der Doppelanmeldung). Hintergrund der zusammenhängenden Regelung in §§ 43, 44 InsO ist die Überlegung, dass der Mitverpflichtete ohnehin für den Ausfall einzustehen hat (MüKolnsO/Bitter, a.a.O., InsO § 44 Rn. 1 f.; Uhlenbruck/Knof, InsO, 15. Aufl. 2019, InsO § 44 Rn. 1 f.).
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Der unmittelbare Anwendungsbereich des § 44 InsO ist im Hinblick auf die von der Klagepartei geltend gemachten Schadensersatzansprüche einerseits und die dem aktuellen Inhaber der Schuldverschreibungen zustehenden Leistungsansprüche andererseits nicht eröffnet.
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Für eine analoge Anwendung des § 44 InsO oder den Rückgriff auf den Rechtsgedanken der Norm fehlt es vorliegend an einer Vergleichbarkeit der Interessenlagen. Der wertpapierrechtliche Erfüllungsanspruch aus den streitgegenständlichen Schuldverschreibungen ist wirtschaftlich nicht mit dem auf Gewährung des Kursdifferenzschadens gerichteten Schadensersatzanspruch, welchen die Klagepartei wegen der Verletzung von Publizitätspflichten geltend macht, identisch. Beide Ansprüche beruhen jeweils auf unterschiedlichen Lebenssachverhalten und ziehen unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich. Dabei kann die Summe aus den auf den Kursdifferenzschaden gerichteten Schadensersatzansprüchen und den Leistungsansprüchen aus den Schuldverschreibungen das Ausgabevolumen der streitgegenständlichen Schuldverschreibungen der … übersteigen. Dass die von der Klagepartei erworbenen Schuldverschreibungen objektiv möglicherweise einen geringeren Wert als den Erwerbspreis hatten (sog. Kursdifferenzschaden), ändert nichts daran, dass der aktuelle Inhaber der Schuldverschreibungen grundsätzlich die versprochene Verzinsung und bei Endfälligkeit grundsätzlich die versprochene Rückzahlung zum Nennbetrag verlangen kann.
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Der geringere tatsächliche Wert im Kaufzeitpunkt entspricht dem Abschlag für das Ausfallrisiko, das sich aus den klägerseits vorgetragenen Unregelmäßigkeiten bei der … für den Wertpapiererwerber ergab.
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bb) Die Abweisungsreife der Klage ergibt sich auch nicht daraus, dass der nemo tenetur-Grundsatz einer Haftung der … wegen unterlassener ad-hoc-Publizitätspflichten entgegenstehen würde.
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Zum einen macht die Klagepartei die Unterlassung gebotener ad-hoc-Mitteilungen als Anspruchsgrund nur neben der Veröffentlichung von fehlerhaften ad-hoc-Mitteilungen geltend. Zum anderen ist das strafrechtliche Selbstbezichtigungsverbot nicht ohne Weiteres auf das Zivilrecht und damit auf die ad-hoc-Pflichtigkeit von Unternehmen übertragbar. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG gebietet keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Wenn Auskünfte der Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses dienen, kann den Rechten Dritter an diesen Informationen der Vorrang vor dem Selbstbezichtigungsverbot zukommen (vgl. hierzu BVerfGE 56, 37-54 Rn. 26 juris = NJW 1431, 1432 f.).
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1. Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst.
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Im Beschwerderechtszug über die Aussetzung eines Verfahrens kann keine Kostenentscheidung ergehen, weil bereits die Ausgangsentscheidung als Teil der Hauptsache keine Kostenentscheidung enthalten darf und das Beschwerdeverfahren daher nur einen Bestandteil des Hauptverfahrens bildet (BGH MDR 2006, 704; BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – XI ZB 13/18, Rn. 36).
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2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO vorliegend nicht gegeben sind.
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a) Dies gilt zum einen hinsichtlich der Musterverfahrensfähigkeit der vorliegenden Tabellenfeststellungsklage. Dass bei einer Klage gegen den Widerspruch des Insolvenzverwalters wie hier die Musterverfahrensfähigkeit nach dem KapMuG in Frage stehen könnte, ist nicht erkennbar und ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung BGH, Urteil vom 27.07.2023 – IX ZR 267/20. Höchstrichterlicher Klärungsbedarf besteht insofern nicht. Dass eine abweichende obergerichtliche Rechtsprechung vorliegen würde, ist weder dargetan noch ersichtlich.
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b) Die Voraussetzungen einer Zulassung der Rechtsbeschwerde sind auch im Hinblick auf die vom Beklagten angeführte Gefahr der Doppelberücksichtigung von Forderungen nicht erfüllt. Der hier geltend gemachte Schadensersatzanspruch auf den Kursdifferenzschaden einerseits und der Leistungsanspruch aus der Schuldverschreibung andererseits beruhen auf unterschiedlichen Lebenssachverhalten und sind wirtschaftlich nicht identisch. Für derartige Fälle kommt weder eine analoge Anwendung des § 44 InsO noch ein Rückgriff auf den Rechtsgedanken der Norm in Betracht und wird auch nicht vertreten.