Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 23.12.2024 – AN 4 K 23.30183
Titel:

Erfolglose Asylklage eines Kurden aus der Türkei

Normenketten:
GG Art. 16a
AsylG § 3 Abs. 1, § 3 a Abs. 2 Nr. 3, § 4
AufenthG § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 9
Leitsätze:
1. Türkische Staatsbürger nichttürkischer Volkszugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kurden in der West-Türkei steht eine interne Schutzmöglichkeit offen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Politisch ist eine Verfolgung, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen, aber nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich de Terrorismusbekämpfung, dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylantrag eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit;, keine Gruppenverfolgung von kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei;, Besuch einer Nachhilfeschule und eines Internats der G. -Bewegung im Kindesalter;, Strafverfolgung wegen Propaganda für eine terroristische Organisation aufgrund von Demonstrationsteilnahmen in der Bundesrepublik Deutschland, Asylklage, Türkei, Kurde, Gruppenverfolgung, Gülenbewegung, terroristische Organisation, Propaganda, Versammlungsteilnahme, Befragung, Polizeigewahrsam, unsubstantiiertes Vorbringen, unverfolgte Ausreise, Strafverfahren, Haftbefehl, PKK, Wehrdienstentziehung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 44118

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie jeweils hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.
2
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger vom Volk der Kurden sowie muslimischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 12. Juni 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 6. Juli 2022 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
3
Im Rahmen der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 29. August 2022 gab der Kläger an, er habe mit seiner Familie, den Eltern und drei Geschwistern, zunächst in … gelebt. Dort habe er in den Jahren 2013 und 2014 eine Nachhilfeschule der G. -Bewegung besucht. Im Jahr 2014 oder 2015 habe er während der Ferien außerdem für drei Monate ein Internat der G. -Bewegung besucht. Durch den Besuch dieser Schulen habe er einen positiven Effekt gespürt, und seine Noten hätten sich verbessert. Ferner habe er während dieser Zeit, teilweise gemeinsam mit seinem Vater, an Versammlungen der G. -Bewegung teilgenommen, wobei auch über religiöse Werte gesprochen worden sei. Jedoch sei er kein Mitglied der G. -Bewegung gewesen. Im Jahr 2015 sei er an eine staatliche Schule gewechselt, wo ihn seine Mitschüler wegen seiner kurdischen Herkunft beleidigt hätten. Nach dem Putschversuch sei sein Vater am 20. Juli 2016 entlassen worden. Am 25. Juli 2016 sei der Vater von der Polizei mitgenommen worden. Im Oktober 2016 sei die Familie nach … umgezogen. Aufgrund der Ummeldung sei die Familie auch dort durch die Polizei gefunden und ständig belästigt worden. Dies habe sich nach einem weiteren Umzug innerhalb … noch immer nicht geändert. In den Jahren 2017 und 2018 sei der Vater erneut von der Polizei mitgenommen worden, um dort auszusagen. Er selbst sei von der Polizei zwar nicht verhaftet worden. Wenn er das Haus verlassen habe, um zur Schule zu gehen, sei ihm aber ein bestimmtes Auto aufgefallen, welches ihn verfolgt habe. Auch nach der Rückkehr aus der Schule habe er dieses Auto wiedergesehen. Im Allgemeinen sei … rassistisch. Nach dem Abitur habe er begonnen, Kunstgeschichte an der Universität … zu studieren, und in Teilzeit in Fabriken gearbeitet. An der Universität sei es ganz schlimm gewesen, weil er von den Lehrern ausgegrenzt und schlecht behandelt worden sei. Diese hätten ihm in die Augen geschaut und F. G. schlechtgemacht. Deshalb habe er das Studium nach zwei Jahren abgebrochen. Auch wolle er keinen Wehrdienst leisten. Mit der türkischen Justiz habe er keine Probleme gehabt. In der Türkei habe er aufgrund von Schlafproblemen Medikamente eingenommen, diese inzwischen aber abgesetzt. Im Jahr 2019 habe er den Entschluss zur Ausreise gefasst und die Türkei am 7. Juni 2022 verlassen. Bei einer Rückkehr befürchte er, wegen seines Vaters und seines Besuchs von Einrichtungen der G. -Bewegung verhaftet oder von Personen, die im Untergrund für den Staat arbeiten würden, umgebracht zu werden. Sein Vater, …, und sein Bruder, …, würden sich ebenfalls in Deutschland aufhalten.
4
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2023, zugestellt am 8. Februar 2023, lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 4), drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. im Fall der Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens die Abschiebung vorrangig in die Türkei an und setzte den Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist aus (Ziffer 5). In Ziffer 6 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
5
Gegen diesen Bescheid hat der anwaltlich vertretene Kläger am 16. Februar 2023 Klage erhoben.
6
Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 habe die staatliche Verfolgung seines Vaters begonnen, dem vorgeworfen worden sei, der G. -Bewegung anzugehören. Oftmals würden (vermeintliche) Angehörige der G. -Bewegung als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung eingestuft. Häufig werde dabei kein Unterschied gemacht, ob der Vorwurf der Zugehörigkeit zur G. -Bewegung tatsächlich der Wahrheit entspreche. Hiervon seien nicht nur die (vermeintlichen) Angehörigen der G. -Bewegung selbst, sondern oft auch deren gesamte Familie betroffen. Selbst wenn keine staatliche Verfolgung der Familienangehörigen erfolge, seien diese gesellschaftlich gebrandmarkt, wobei erniedrigende Behandlungen keine Seltenheit darstellten. Sobald die Vergangenheit der Familie bekannt werde, bestehe für die Betroffenen oftmals keine Möglichkeit mehr, in beruflicher und sozialer Hinsicht Fuß zu fassen.
7
Nach der Verhaftung des Vaters sei seine Familie sowohl aufgrund gesellschaftlichen Drucks als auch aus Angst vor einer erneuten Verhaftung des Vaters zum Verlassen ihrer Heimat … und zum Umzug nach … gezwungen gewesen. Dort sei es im Jahr 2019 zu einer Durchsuchung des Hauses der Familie gekommen, bei welcher er, der Kläger, von den anwesenden Polizeibeamten geschubst worden sei.
8
Sein im Jahr 2020 begonnenes Studium habe er aufgrund von Diskriminierungen von Seiten der Dozenten abbrechen müssen, nachdem diese Kenntnis von seinem Besuch von Einrichtungen der G. -Bewegung erlangt hätten. Vor diesem Hintergrund seien seine beruflichen Zukunftsaussichten als schlecht zu bewerten, zumal er wegen seiner Vorgeschichte auch mit Diskriminierungen durch potentielle Arbeitgeber zu rechnen habe. Nach alledem sei es unwahrscheinlich, dass es ihm nach einer Rückkehr in die Türkei gelingen werde, dort Fuß zu fassen und eine dauerhafte Arbeit und Unterkunft zu finden.
9
Eine Verfolgungsgefahr sei auch deshalb anzunehmen, weil er unmittelbar vor den Putsch-Ereignissen sowohl Schulen als auch Versammlungen der G. -Bewegung besucht habe. Des Weiteren habe er in den Jahren 2014 und 2015 Einrichtungen namens „hücre evleri“ besucht, in welchen in den Morgenstunden religiöse Praktiken ausgeübt worden seien und religiöse Lehrveranstaltungen stattgefunden hätten. Auch habe der Vater in den Jahren 2015 und 2016 sowohl im eigenen als auch in seinem, des Klägers, Namen finanzielle Zuwendungen an die G. -Bewegung getätigt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die türkischen Behörden diesen Umstand inzwischen aufgedeckt hätten und ihn deshalb bei einer Wiedereinreise verhaften würden. Beim Besuch der G. -Schulen habe er einen positiven Effekt verspürt, was verdeutliche, dass er sich mit der G. -Bewegung identifizieren könne. Nach alledem sei von einer gewissen Einbindung seiner Person in die Strukturen der G. -Bewegung auszugehen.
10
Ferner erweise sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate als nicht angemessen. Insbesondere halte sich entgegen der Darstellung des angefochtenen Bescheids mit dem Vater ein Teil seiner Kernfamilie in Deutschland auf.
11
Zudem werde er inzwischen von der türkischen Justiz wegen Propaganda für eine terroristische Organisation verfolgt und sei durch das Amtsgericht … zur Verhaftung ausgeschrieben, weil er sich an einem Demonstrationszug zur Wahrung der Rechte der Kurden beteiligt habe. Hierzu seien – jeweils als Auszug aus e-Devlet im türkischen Original und in deutscher Übersetzung – eine Unzuständigkeitsentscheidung der Staatsanwaltschaft … vom 3. Oktober 2023 (Anlage K1), ein Haftbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft … vom 30. Oktober 2023 (Anlage K3), ein Festnahmebeschluss des Amtsgerichts … vom 30. Oktober 2023 (Anlage K5), ein Haftbefehl des Amtsgerichts … vom selben Tag (Anlage K4) sowie eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft … vom 20. Mai 2024 (Anlage K2) mit dem Tatvorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation (PKK/KCK) vorzulegen.
12
Der Kläger beantragt zuletzt,
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2023 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen, und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
13
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
14
Mit Blick auf die vorgelegten Justizunterlagen sei auch unter Einbeziehung des übrigen Vortrags des Klägers nicht erkennbar, weshalb dieser vom türkischen Staat als ernstzunehmender Oppositioneller wahrgenommen werden könnte, so dass keinerlei Anhaltspunkte für einen Politmalus ersichtlich seien. Insbesondere habe der Kläger bereits nicht behauptet, die G. -Bewegung aktiv unterstützt zu haben oder dieser gar selbst anzugehören. Den vorgelegten Unterlagen sei zu entnehmen, dass der Kläger in den sozialen Medien Inhalte der PKK und damit einer Organisation, die auch im Bundesgebiet als terroristisch eingestuft sei, öffentlich gemacht habe. Es sei daher von einer legitimen Strafverfolgung auszugehen, wobei es dem Kläger möglich und zumutbar sei, den Rechtsweg zu beschreiten. Insbesondere sei weder substantiiert dargelegt noch anderweitig erkennbar, dass gerade dem Kläger aus politischen Gründen, etwa weil er vom türkischen Staat als ernstzunehmender Oppositioneller wahrgenommen würde, ein unverhältnismäßig hohes Strafmaß drohen würde.
15
Mit Beschluss vom 4. November 2024 hat die Kammer die Verwaltungsstreitsache dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
16
Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 18. Dezember 2024 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die Klage, die trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte, erweist sich als zulässig, aber in der Sache unbegründet.
I.
18
Die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18. Dezember 2024 verhandelt und entschieden werden, da die Beteiligten in der jeweils ordnungsgemäßen und fristgerechten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren (§ 102 Abs. 2 VwGO).
II.
19
Die zulässige Klage ist unbegründet.
20
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht dem Kläger weder ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch die Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung sowie das auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich als rechtmäßig.
21
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf den angefochtenen Bescheid vom 31. Januar 2023 Bezug genommen, dessen Feststellungen und Begründung das Gericht folgt. Hierzu ist – auch mit Blick auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – Folgendes zu ergänzen:
22
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG.
23
Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Mögliche Verfolgungshandlungen sind in § 3a AsylG und mögliche Verfolgungsgründe in § 3b AsylG geregelt. Dabei bestimmt § 3a Abs. 3 AsylG, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG genannten Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss. § 3c AsylG benennt Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, und § 3d AsylG solche, die Schutz bieten können. § 3e Abs. 1 AsylG regelt die Voraussetzungen, unter denen sich ein Ausländer auf die Inanspruchnahme internen (Verfolgungs-)Schutzes verweisen lassen muss.
24
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16).
25
Eine derart begründete Furcht vor Verfolgung kann sich namentlich aufgrund einer im Herkunftsland bereits erlittenen Vorverfolgung ergeben. Der Ausländer wird insoweit durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert; danach ist die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Dabei muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des von dem Ausländer behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor erneuter Verfolgung herleitet, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Wegen der hinsichtlich der Geschehnisse im Herkunftsland häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten kann schon allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 16; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris Rn. 3). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag allerdings kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, B.v. 20.8.1974 – I B 15.74 – BeckRS 1974, 31276401; U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 18).
26
Gemessen an diesen Maßstäben kann zur Überzeugung des Gerichts unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage aus dem klägerischen Vorbringen eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht hergeleitet werden.
27
a) Mit Blick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit besteht für den Kläger keine begründete Furcht vor (Gruppen-)Verfolgung.
28
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass Angehörige der kurdischen Volksgruppe in der Türkei keiner Gruppenverfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unterliegen (SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – juris Rn. 13; U.v. 6.3.2024 – 5 A 3/20.A – juris Rn. 41 ff.; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 – 2 A 321/20 – juris Rn. 16; B.v. 3.9.2024 – 2 A 63/24 – juris Rn. 22; OVG SH, B.v. 31.3.2021 – 5 LA 43/21 – juris Rn. 16; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 31; VGH BW, U.v. 17.11.2022 – A 13 S 3741/20 – juris Rn. 49 ff.). Nichts anderes ergibt sich aus der vom Gericht zugrunde gelegten Auskunftslage. Ausweislich des Berichts des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 sind türkische Staatsbürger nichttürkischer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen (S. 10). Auch Repressionen nichtstaatlicher Gruppen gegenüber einer bestimmten Personengruppe wegen ihrer Abstammung oder Nationalität sind hiernach nicht bekannt (S. 16).
29
Das Gericht folgt darüber hinaus der ebenfalls gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach Kurden in der West-Türkei eine interne Schutzmöglichkeit im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG offensteht (BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 8; B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 7; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 33; VGH BW, U.v. 17.11.2022 – A 13 S 3741/20 – juris Rn. 63 ff.). Alle türkischen Staatsangehörigen genießen grundsätzlich Freizügigkeit in der Türkei (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 232). In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. In städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei, wächst eine kurdische Mittelschicht (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 188).
30
b) Auch aus dem individuellen Fluchtvorbringen des Klägers kann eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht hergeleitet werden.
31
aa) Soweit der Kläger geltend macht, zwischen den Jahren 2013 und 2015 eine Nachhilfeschule sowie anschließend ein Internat der G. -Bewegung besucht und an Versammlungen derselben teilgenommen zu haben, ist seinem Vorbringen weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung von Seiten des türkischen Staates zu entnehmen, noch besteht deshalb eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr künftiger Verfolgungsmaßnahen.
32
(1) Der Kläger ist von Seiten des türkischen Staates unverfolgt aus seinem Herkunftsland ausgereist. Weder aus den Angaben des Klägers im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch aus den Ausführungen der Klagebegründung oder seiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass der Kläger aufgrund des Besuchs von Bildungseinrichtungen und der Teilnahme an Versammlungen der G. -Bewegung vor seiner Ausreise aus der Türkei am 7. Juni 2022 von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen betroffen gewesen wäre.
33
So hat der Kläger in der behördlichen Anhörung angegeben, er selbst sei – im Gegensatz zu seinem Vater, der ab dem Jahr 2016 wiederholt vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen und befragt worden sei – gerade nicht durch die türkische Polizei verhaftet worden und habe auch keine Probleme mit der türkischen Justiz gehabt. Dem Versuch des Klägers, eine Verfolgung seiner Person durch die türkische Polizei daraus zu konstruieren, dass er auf dem Weg zur Schule regelmäßig durch ein Auto verfolgt worden sei, welches er bei seiner Rückkehr nach Hause erneut gesehen habe, vermag das Gericht nicht zu folgen. Von erheblichen Zweifeln am Wahrheitsgehalt dieses unsubstantiierten Vorbringens abgesehen, bestehen selbst bei Wahrunterstellung keine belastbaren Anhaltspunkte, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Fahrzeug der türkischen Polizei gehandelt und letztere eine gezielte Beschattung des Klägers beabsichtigt hätte. Doch auch wenn dies der Fall gewesen wäre, erreicht die betreffende Maßnahme nicht ansatzweise den für die Annahme einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erforderlichen Schweregrad. Entsprechend verhält es sich, soweit sich der Kläger darauf beruft, während des Studiums durch seine Lehrer, die ihm in die Augen gesehen und F. G. schlechtgemacht hätten, ausgegrenzt worden zu sein. Auch diesem pauschalen Vorbringen kann die gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG für die Annahme einer Verfolgungshandlung vorausgesetzte schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte nicht im Ansatz entnommen werden. Nichts anderes gilt hinsichtlich der erstmals in der Klagebegründung aufgestellten Behauptung, der Kläger sei im Zuge einer Durchsuchung der Familienwohnung, die sich anlässlich einer polizeilichen Festnahme seines Vaters im Jahr 2019 zugetragen haben soll, von den anwesenden Polizeibeamten geschubst worden. Unabhängig davon ist auch die Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens in Frage zu stellen, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende gerichtliche Nachfrage zwar erklärt hat, bei der betreffenden Wohnungsdurchsuchung im Jahr 2019 anwesend gewesen zu sein, jedoch gerade nicht mehr behauptet hat, hierbei durch die anwesenden Polizeibeamten geschubst worden zu sein.
34
In der Überzeugung, dass der Kläger unverfolgt aus der Türkei ausgereist ist, sieht sich das Gericht zudem durch dessen Einlassung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, wonach er nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt dreimal das türkische Konsulat aufgesucht und diesem gegenüber seine aktuelle Wohnanschrift in … angegeben haben will, um einen Reisepass zu beantragen. Wäre der Kläger vor einer tatsächlich erlittenen staatlichen Verfolgung aus der Türkei geflohen, ist nicht nachzuvollziehen, warum er aus freien Stücken – noch dazu mehrfach – ein türkisches Konsulat aufsuchen und sich damit dem Zugriff der türkischen Staatsgewalt aussetzen sollte.
35
(2) Ebenso wenig sieht sich der Kläger nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung aufgrund seines Besuchs von Bildungseinrichtungen und Versammlungen der G. -Bewegung einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahr künftiger Verfolgungsmaßnahmen durch den türkischen Staat ausgesetzt.
36
Das weltweit aktive Netzwerk um den muslimischen Prediger F. G. stellte bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei dar, deren Mitgliederzahl vor dem Putschversuch am 15. Juli 2016 von internationalen Beobachtern auf mehrere Millionen geschätzt wurde. Sie umfasste in der Vergangenheit verschiedene Institutionen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen. Die herausragende Qualität und der gute Ruf dieser Institutionen zogen sowohl engagierte G. isten als auch Personen an, die der Bewegung nicht angehörten. Daher waren in der Vergangenheit Millionen von Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise mit der G. -Bewegung verbunden. Nachdem sich G. und Staatspräsident Erdogan jahrzehntelang nahgestanden hatten, kam es im Dezember 2013 zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der G. -Bewegung, als dieser nahestehende Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan sowie Minister von dessen Kabinett aufnahmen. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter und begann darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der G. -Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Im Dezember 2014 erließ ein türkisches Gericht Haftbefehl gegen F. G. . Am 27. Mai 2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die G. -Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrats als terroristische Organisation registriert werde. Sie wird in der Türkei als „Fethullahçı Terör Örgütü“ (zu Deutsch: „Fethullahistische Terrororganisation“), kurz FETÖ, bezeichnet. Die türkische Regierung beschuldigt die G. -Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu stecken. Seither wurden mit Stand Juli 2023 gegen 693.162 Personen, die mit der G. -Bewegung in Verbindung gebracht wurden, Gerichtsverfahren eingeleitet; gegen weitere 67.893 Personen sind noch Ermittlungen anhängig. Insgesamt wurden bislang 122.632 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur G. -Bewegung inhaftiert und 97.139 freigelassen. 1.634 vermeintliche Mitglieder wurden in 289 Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Rund 1.400 weitere Personen müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und mehr als 1.800 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (vgl. zum Ganzen: BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 26 ff.).
37
Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der G. -Bewegung dauert weiterhin an. Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind vage. In der Regel reichen etwa die Nutzung der verschlüsselten Kommunikations-App „BL“, eine Geldeinlage bei der A.  Bank nach dem 25. Dezember 2013, ein Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman, Spenden an die den G. -Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen, der Besuch von der G. -Bewegung zugeordneten Schulen durch Kinder, Kontakte zu G. nahen Gruppen, Organisationen oder Firmen oder die Teilnahme an religiösen Versammlungen der G. -Bewegung als Indizien, um eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. Eine Verurteilung setzt indes regelmäßig das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof als oberstes Revisionsgericht für die Feststellung einer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation den Nachweis eines gewissen Bindungsgrads der Person an die Organisation verlangt. Beispielsweise reicht allein die Beschulung von Kindern in Schulen des G. -Netzwerks für eine Verurteilung nicht aus (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 6 f.).
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Ausgehend von diesen tatsächlichen Erkenntnissen bestehen zur Überzeugung des Gerichts keine belastbaren Anhaltspunkte für eine hinreichende Bindung des Klägers an die G. -Organisation, welche diesen der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation aussetzen könnte. Gemäß eigenen Angaben im Rahmen der behördlichen Anhörung war der Kläger kein Mitglied der G. -Bewegung. Wie er dort zudem dargelegt hat, sind seine Verbindungen zur G. -Bewegung auf Besuch zweier dieser Organisation zugehöriger Bildungseinrichtungen – einer Nachhilfeschule in den Jahren 2013 und 2014 sowie eines Internats für drei Monate in den Jahren 2014 und 2015 – und die Teilnahme an Versammlungen derselben beschränkt, bei denen auch über religiöse Inhalte gesprochen worden sei. Ausgehend von diesen tatsächlichen klägerischen Angaben vermag das Gericht eine hinreichende Einbindung des Klägers in die Strukturen der G. -Bewegung, wie diese durch die Rechtsprechung des türkischen Kassationsgerichtshofs für eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorausgesetzt wird, nicht zu erkennen. Insbesondere kann eine solche nicht damit begründet werden, dass der Kläger zwischen den Jahren 2013 und 2015 – und mithin als Kind – schulische Einrichtungen der G. -Bewegung besucht hat. Sollten die türkischen Sicherheitsbehörden in den Schulbesuchen und Versammlungsteilnahmen durch den damals noch minderjährigen Kläger ein strafrechtlich relevantes Verhalten erblickt haben, wäre zudem davon auszugehen, dass sie im Zuge der wiederholten Hausdurchsuchungen und Verhaftungen des Vaters auch den Kläger selbst festgenommen oder jedenfalls hierzu vernommen hätten.
39
Aus den weitergehenden Ausführungen der Klagebegründung kann eine strukturelle Einbindung des Klägers in die G. -Bewegung ebenfalls nicht hergeleitet werden. In der darin erstmals aufgestellten Behauptung, der Vater habe auch im Namen des Klägers finanzielle Zuwendungen an die G. -Bewegung getätigt, erblickt das Gericht eine erkennbar asyltaktisch motivierte und mithin nicht glaubhafte Steigerung des bisherigen Fluchtvorbringens. Zum einen konnte der Kläger auf gerichtlichen Vorhalt in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar darlegen, warum er diesen Umstand nicht bereits im Rahmen der behördlichen Anhörung vorgebracht hatte. Die durch den Kläger hierzu gegebene Erklärung, wonach er nicht ausdrücklich danach gefragt worden sei, ist nicht nachzuvollziehen, zumal er ausweislich des über die behördliche Anhörung vom 29. August 2022 erstellten Protokolls dazu befragt wurde, ob er – neben dem Besuch der Nachhilfeschule und des Internats – sonst etwas mit der G. -Bewegung zu tun gehabt habe. Zum anderen ist das entsprechende Vorbringen durch verschiedene inhaltliche Unstimmigkeiten und Widersprüche geprägt. Während die im Namen des Klägers erfolgten Zahlungen gemäß der Darstellung der Klagebegründung erst in den Jahren 2015 und 2016 geflossen sein sollen, behauptete der Kläger in der mündlichen Verhandlung, sein Vater habe diese bereits in den Jahren 2013 und 2014 getätigt und hierbei als Verwendungszweck den Namen der seinerzeit durch den Kläger besuchten Schule angegeben. Ebenso wenig war der Kläger auf gerichtlichen Vorhalt in der Lage, schlüssig zu begründen, warum sein Vater die Geldzahlungen an die G. -Bewegung gerade im Namen des Klägers hätte leisten sollen. Dem hierzu unternommenen Erklärungsversuch, der Vater habe die Zahlungen im Namen des Klägers getätigt, um sich selbst zu schützen, vermag das Gericht nicht zu folgen. Es ist bereits nicht nachzuvollziehen, warum der Vater einen entsprechenden Eigenschutz ausgerechnet durch eine gezielte Gefährdung seines Sohnes hätte herbeiführen sollen, anstatt der G. -Bewegung das Geld auf anonymem Wege zukommen zu lassen. Zudem steht diese Behauptung abermals in Widerspruch zu den Ausführungen der Klagebegründung, wonach der Vater gerade auch im eigenen Namen finanzielle Zuwendungen an die G. -Bewegung geleistet haben soll. Soweit die Klagebegründung darüber hinaus aus der Äußerung des Klägers, er habe beim Besuch der Schulen der G. -Bewegung einen positiven Effekt verspürt, dessen strukturelle Einbindung in dieselbe herleiten will, ist nicht erkennbar, wie die türkischen Behörden von diesem subjektiven Empfinden Kenntnis erlangen sollten.
40
bb) Auch mit Blick auf die gegen den Kläger in der Türkei geführten Strafverfahren wegen Propaganda für eine terroristische Organisation droht diesem keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung aus politischen Gründen.
41
(1) Zwar konnte der Kläger für das Gericht nachvollziehbar darlegen, dass gegen ihn in der Türkei zwei Strafverfahren mit dem Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation eingeleitet wurden, nachdem er in Deutschland an zwei Kundgebungen für den inhaftierten PKK-Vorsitzenden A. Ö. teilgenommen hatte.
42
Ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 wird gegen den Kläger zum einen infolge seiner Teilnahme an einer Kundgebung zugunsten A. Ö. s geführt, welche am …September 2023 unter dem Titel „…“ in … stattfand. Dies ergibt sich zunächst aus den durch den Kläger schriftsätzlich vorgelegten justiziellen Unterlagen aus der Türkei, denen folgender Verfahrensverlauf zu entnehmen ist: Nachdem sich die zunächst mit dem Verfahren befasste Staatsanwaltschaft … im Hinblick auf den letzten bekannten Wohnsitz des Klägers in … durch Entscheidung vom 3. Oktober 2023 (Anlage K1) für unzuständig erklärt und die Akte zu weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft … übersandt hatte, beantragte letztere mit Schreiben vom 30. Oktober 2023 (Anlage K3) den Erlass eines gerichtlichen Haftbefehls zur Vernehmung des Klägers zum Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713. Daraufhin erließ das Amtsgericht … ebenfalls am 30. Oktober 2023 einen Haftbefehl (Anlagen K4 und K5), in welchem es die Festnahme, Vernehmung und anschließende Freilassung des Klägers anordnete. Am 20. Mai 2024 erhob die Staatsanwaltschaft … gegen den Kläger wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 Anklage zum … Schwurgericht … Der Kläger war auf gerichtliche Aufforderung in der mündlichen Verhandlung in der Lage, die als Anlagen K1 bis K5 vorgelegten Dokumente nach entsprechender Einwahl im UYAP-Portal vorzuzeigen. Darüber hinaus konnte der Kläger den in der Anklageschrift vom 20. Mai 2024 dargestellten Sachverhalt, wonach auf einer Website namens „…“ ein Artikel mit Fotos und Videos veröffentlicht worden sei, ausweislich dessen der Kläger an einer Gedenkveranstaltung für getötete Organisationsmitglieder teilgenommen habe, für das Gericht nachvollziehbar auf seine Teilnahme an der oben genannten Kundgebung für A. Ö. zurückführen. Im Ergänzung dazu zeigte der Kläger auf der in der Anklageschrift genannten Website „…“ einen Artikel vom 11. September 2023 vor, welcher verschiedene Lichtbilder dieser Kundgebung enthielt, darunter ein Foto eines Kundgebungsteilnehmers, welcher als der Kläger identifiziert werden konnte.
43
Zum anderen ist gegen den Kläger aufgrund seiner Teilnahme an einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Freiheit für A. Ö. “, welche in der Zeit vom … bis zum …Februar 2024 in verschiedenen deutschen Städten und der französischen Stadt … stattfand, ein weiteres Strafverfahren mit dem Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation anhängig. Der Kläger zeigte hierzu in der mündlichen Verhandlung im UYAP-Portal eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft … vom 25. Oktober 2024 vor, mit welcher – ausweislich der Zusammenfassung durch den in der mündlichen Verhandlung anwesenden Dolmetscher – gegen den Kläger Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation erhoben und der Erlass eines Haftbefehls beantragt worden war. Gemäß den Feststellungen der Staatsanwaltschaft sei am 13. Februar 2024 in dem sozialen Medium „*“ auf einem unter dem Namen „…“ geführten Konto ein Flyer der genannten Veranstaltung veröffentlicht worden, wobei die Ermittlungen ergeben hätten, dass es sich hierbei um das Konto des Klägers handele. Der in der Anklageschrift genannte Flyer der betreffenden Veranstaltungsreihe wurde durch den Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegt. Des Weiteren zeigte der Kläger auf dem unter dem Namen „…“ geführten „*“-Konto Bilder der genannten Veranstaltung vor, die dort am 13. Februar 2024 veröffentlicht worden waren, darunter ein Foto eines Kundgebungsteilnehmers, welcher als der Kläger identifiziert werden konnte.
44
(2) Nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung folgt aus den gegen den Kläger geführten Strafverfahren wegen Propaganda für eine terroristische Organisation jedoch keine begründete Furcht vor einer flüchtlingsrechtlich relevanten politischen Verfolgung durch den türkischen Staat.
45
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann sich grundsätzlich auch aus einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung ergeben (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG). Dabei setzt die gesetzliche Regelung zum einen voraus, dass die geltend gemachte Verfolgung gerade wegen eines oder mehrerer der fünf in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in § 3b AsylG näher definierten Verfolgungsgründe droht. Im Hinblick auf diese Kausalität kann die Flüchtlingseigenschaft somit nur zuerkannt werden, wenn sich die Verfolgungsfurcht auf mindestens eines dieser Kriterien gründet. Schon aus diesem Grund scheidet ein gleichsam automatischer Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus. Zum anderen kann eine unverhältnismäßige Strafverfolgung zwar gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG als Verfolgung gelten, jedoch bedarf es angesichts des einschränkenden Wortlauts („können“) einer konkreten Betrachtung der weiteren Umstände wie etwa der konkreten Strafverfolgungspraxis. Auch dies schließt einen gleichsam automatischen Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 10 f.).
46
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 1 GG ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Dies gilt indes dann nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Das Asylgrundrecht gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. Politmalus). Solange sich ein solcher Politmalus nicht von vornherein ausschließen lässt, haben die Gerichte den diesbezüglichen Sachverhalt in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 13). Diese Grundsätze gelten nicht nur für das Asylgrundrecht, sondern auch für Verfahren, die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtet sind (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 25; BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20.06 – juris Rn. 2).
47
Gemessen hieran bedarf es im ersten Schritt einer Bewertung, ob schon allein die Strafnorm eine politische Verfolgung darstellt und deshalb asylbegründend wirken kann. Die Bewertung setzt voraus, dass zunächst Inhalt und Reichweite der fraglichen Rechtsnorm bestimmt werden. Dies muss anhand ihres Wortlauts erfolgen, ggf. ist zur Bestimmung der Reichweite des Verbots die Ermittlung der ausländischen Rechtsauslegung und -anwendung erforderlich. Neben der Bewertung der Strafnorm ist festzustellen, ob die Strafverfolgungspraxis des Heimatstaats einen eigenen Verfolgungscharakter aufweist und ob die verhängte Strafe eine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Sanktion darstellt. Die Frage, ob ein im Herkunftsland anhängiges Strafverfahren eine politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts ist, hängt von der Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften durch die dortigen Strafgerichte ab. Entscheidend ist, ob der Staat lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten will oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolgt, den Straftäter wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger asylerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Nur im letztgenannten Fall liegt eine politische Verfolgung vor (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 14 m.w.N.).
48
In Anwendung dieser Grundsätze stellt weder die in Bezug auf den Kläger angewandte Strafnorm des Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 für sich genommen (a) noch die diesbezüglich in der Türkei angewandte Strafpraxis (b) eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aus politischen Gründen dar. Ferner bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte für eine Absicht des türkischen Staates, den Kläger durch die Strafverfolgung im Sinne eines sog. Politmalus wegen seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals zu treffen (c).
49
(a) Eine flüchtlingsrechtlich relevante politische Verfolgung folgt nicht bereits aus der abstrakten Strafbarkeit und Strafandrohung der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713.
50
Die abstrakte Strafbarkeit der Propaganda für eine terroristische Organisation in Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 ist nicht per se verwerflich. Sie dient dem Schutz des Staates vor Terrorismus und der Unterbindung der Verherrlichung terroristischer Ziele und ist damit von der legitimen Verteidigung der staatlichen Ordnung umfasst (VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 45).
51
Entsprechendes gilt mit Blick auf die abstrakte Strafandrohung. Nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 wird, wer Propaganda für eine terroristische Organisation betreibt, mit Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren bestraft; wird die Tat mit Hilfe der Massenmedien begangen, ist die Strafe um die Hälfte heraufzusetzen (vgl. SFH, Türkei: Teilen und Liken von kritischen Inhalten bei Facebook, 29.10.2020, S. 7 f.). Dies stellt – auch verglichen mit der entsprechenden deutschen Strafnorm des § 129a Abs. 5 StGB, welche für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren und für die Werbung von Mitgliedern oder Unterstützern einer terroristischen Vereinigung eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorsieht – keine unvertretbar scharfe Ahndung dar (VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 46).
52
(b) Auch die von den türkischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten hinsichtlich des Delikts der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 angewandte Strafpraxis stellt als solche noch keine flüchtlingsrechtlich relevante politische Verfolgung dar.
53
Zwar zeigt sich hinsichtlich der türkischen Strafpraxis im Bereich der Terrorismusstraftaten ein tendenziell negatives Bild: Die türkische Regierung sieht die Sicherheit des Staates unter anderem durch die – auch in der EU als Terrororganisation gelistete – PKK sowie aus türkischer Sicht mit der PKK verbundene Organisationen wie die kurdische Miliz YPG in Syrien gefährdet. Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung durch die türkische Justiz bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des türkischen Strafgesetzbuchs (kriminelle Vereinigung) durch den Kassationsgerichtshof führte ferner zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, zu denen durch die PKK aufgerufen oder bei denen PKK-Symbole gezeigt worden waren, unabhängig davon, ob dieser Aufruf und die Nutzung dem Betroffenen bekannt waren (Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 4, 8).
54
Die Einhaltung von rechtsstaatlichen Grundsätzen sowie von Verfahrens- und Beschuldigtenrechten bleibt in der Türkei im Bereich des Terrorismus und des Staatsschutzes stark beeinträchtigt und ist nicht durchgehend gewährleistet. Zügige, faire und rechtsstaatliche Verfahren mit unabhängigen und unvoreingenommenen Gerichten, in denen Grund- und Menschenrechte hinreichend gewahrt werden, können in diesem Deliktsbereich nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Belastbare Erkenntnisse, inwieweit in konkreten Einzelfällen – über öffentliche Vorverurteilungen hinaus – im Vorfeld eine tatsächliche Beeinflussung justizieller Entscheidungen stattgefunden hat, lassen sich dabei kaum gewinnen. Bereits im Rahmen von Ermittlungen können noch vor formeller Anklageerhebung unter Umständen weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen erwirkt werden wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren. Obschon nach der türkischen Strafprozessordnung für die Anordnung der Untersuchungshaft konkrete Beweise für die Annahme eines dringenden Tatverdachts und ein Haftgrund vorliegen müssen, kann es in der Praxis vor allem bei politisch geprägten Tatvorwürfen vorkommen, dass die Ermittlungen auf pauschale Behauptungen, Beschwerden oder Anzeigen Dritter gestützt sind. Damit können Betroffene bereits vor einem gerichtlichen Urteil erheblich in ihren Rechten beeinträchtigt werden, was eine abschreckende Wirkung bei der Ausübung von Rechten bedingt (Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 11 f.).
55
Mängel gibt es auch beim Umgang mit vertraulichen Informationen, insbesondere persönlichen Daten, beim Zugang zu den gegen Beschuldigte erhobenen Beweisen sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte in sog. Terrorprozessen. Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der G. -Bewegung, der PKK oder deren zivilem Arm Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) werden häufig als geheim eingestuft mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gleichwohl fanden sich wiederholt Teile von Akten oder vertrauliche Informationen in AKPnahen Medien wieder. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidigung werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Häufig wird auch ein individueller Tatbeitrag allenfalls kursorisch dargestellt (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 56; Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 12).
56
Trotz der vorstehend aufgezeigten rechtsstaatlichen Defizite lässt die Anwendung der Strafnorm des Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 als solche noch keinen Politmalus erkennen (ebenso VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 47). Die Häufigkeit der Einleitung und Durchführung entsprechender Strafverfahren mag im Vergleich zur Zahl jener in der Bundesrepublik Deutschland aus vergleichbarem Anlass befremden. Sie folgt aber aus der Strafhoheit des türkischen Staates (VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 50). Auch vermag das Gericht einen Automatismus von der Einleitung eines Strafverfahrens zu einer tatsächlichen Verurteilung und Strafvollstreckung nicht zu erkennen.
57
(c) Im vorliegenden Einzelfall bestehen schließlich keine Anhaltspunkte, dass der türkische Staat mit den gegen den Kläger ergriffenen Strafverfolgungsmaßnahmen über den dahinterstehenden legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz im Bereich der Terrorismusbekämpfung hinausgehend die Absicht verfolgen würde, den Kläger im Sinne eines Politmalus wegen seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals zu treffen.
58
Ob sich der Kläger durch die Teilnahme an zwei in Deutschland stattgefundenen Kundgebungen zugunsten des inhaftierten PKK-Vorsitzenden A. Ö. nach türkischem Recht der Propaganda für eine terroristische Organisation nach Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 strafbar gemacht hat oder nicht, obliegt allein der Prüfung der türkischen Strafgerichtsbarkeit und entzieht sich der Bewertung des Verwaltungsgerichts. Jedenfalls ist nicht zu ersehen, dass die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe der Propaganda für eine terroristische Organisation erfunden oder „aus der Luft gegriffen“ wären und dieser willkürlich mit Strafverfahren überzogen würde. So wird die PKK auch durch die Europäische Union seit dem Jahr 2002 als Terrororganisation gelistet und unterliegt in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit dem Jahr 1993 einem Betätigungsverbot (vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/glossareintraege/DE/A/arbeiterpartei-kurdistans-pkk.html). Ein Bezug der betreffenden Kundgebungen, auf welchen unter anderem die Forderung nach einer Freilassung des inhaftierten PKK-Vorsitzenden A. Ö. erhoben wurde, zur gewaltsamen Durchsetzung politscher Ziele ist daher nicht von der Hand zu weisen. Ob bei dieser Sachlage in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls eine Strafverfolgung eingeleitet würde, kann dahinstehen. Denn die vom Grundgesetz geprägte deutsche Strafrechtsordnung kann nicht als Maßstab für die Strafrechtsordnung anderer Länder herangezogen werden.
59
Im Übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht noch anhand des derzeitigen Verfahrensstands zu ersehen, dass die gegen den Kläger in der Türkei geführten Strafverfahren wegen Propaganda für eine terroristische Organisation gegen grundlegende prozessuale Werte oder das Gebot der Verfahrensfairness verstoßen würden und dem Kläger mithin eine härtere als die sonst übliche Behandlung widerführe oder das Vorgehen der türkischen Strafverfolgungsbehörden über das hinausginge, was zur Gewährleistung eines legitimen staatlichen Rechtsgüterschutzes im Bereich der Terrorismusbekämpfung erforderlich ist. Gemäß eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung war es dem Kläger möglich, über das UYAP-Portal Zugang zu allen vorgelegten Unterlagen, einschließlich des gegen ihn erlassenen Haftbefehls, zu erhalten. Eine geheime Verfahrensführung oder eine willkürliche Vorenthaltung der Akteneinsicht, insbesondere durch einen den Aktenzugang sperrenden Geheimhaltungsvermerk, wie dieser in Verfahren mit Terrorismusbezug häufig vorkommt, sind damit nicht ersichtlich (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 61). Der am 30. Oktober 2023 durch das Amtsgericht … erlassene Haftbefehl dient ausweislich seines Wortlauts der Vernehmung des Klägers und damit der Erfüllung eines zwingenden Elements des türkischen Strafprozesses. Denn nach Art. 247 Abs. 3 der türkischen Strafprozessordnung kann ein Beschuldigter ohne Anhörung nicht verurteilt werden (Auskunft des Auswärtigen Amts an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 13.12.2019, S. 2; s.a. VG Augsburg, U.v. 23.2.2022 – Au 6 K 21.31131 – juris Rn. 62). Dass gegen den Kläger im Zuge der jeweiligen Ermittlungsverfahren oder im Anschluss an die am 20. Mai 2024 bzw. 25. Oktober 2024 erfolgten Anklageerhebungen weitergehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie etwa eine Untersuchungshaftanordnung erlassen worden wären, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Gegenteil wurde namentlich in dem Haftbefehl des Amtsgerichts … vom 30. Oktober 2023 die Freilassung des Klägers nach erfolgter Vernehmung ausdrücklich angeordnet. Des Weiteren ist der Kläger ausweislich der beigebrachten Unterlagen bislang in keinem der gegen ihn geführten Strafverfahren wegen Propaganda für eine terroristische Organisation tatsächlich verurteilt worden; auch ist derzeit völlig offen, ob eine solche künftig erfolgen wird.
60
Ferner ist zu berücksichtigten, dass die klägerischen Demonstrationsteilnahmen, welche die Strafverfolgung wegen Propaganda für eine terroristische Organisation in der Türkei auslösten, erst im September 2023 bzw. im Februar 2024 und mithin zu einem Zeitpunkt erfolgten, als der durch den Kläger am 6. Juli 2022 in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag durch den angefochtenen Bescheid vom 31. Januar 2023 bereits vollumfänglich abgelehnt worden war. Auch den türkischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten müsste sich bei dieser Sachlage die im Wesentlichen asyltaktische Motivation der betreffenden Demonstrationsteilnahmen aufdrängen (vgl. zu diesem Aspekt: VG Augsburg, U.v. 29.6.2022 – Au 3 K 20.31411 – juris Rn. 55; VG Düsseldorf, B.v. 25.4.2024 – 28 L 714/24.A – juris Rn. 74). Dies gilt umso mehr, als sich der Kläger zur Überzeugung des Gerichts vor seiner Ausreise aus der Türkei dort gerade nicht zugunsten pro-kurdischer Belange politisch engagiert hatte. Weder den Angaben des Klägers in der behördlichen Anhörung noch den Ausführungen der Klagebegründung sind Anhaltspunkte für ein derartiges politisches Engagement zu entnehmen. Soweit der Kläger auf gerichtliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung erstmals behauptet hat, bereits in der Türkei an Demonstrationen betreffend die Kurdenfrage teilgenommen zu haben, welche etwa am 15. Februar, dem Tag der Verhaftung A. Ö. s stattgefunden hätten, erblickt das Gericht hierin eine abermalige asyltaktisch motivierte und mithin nicht glaubhafte Steigerung seines ursprünglichen Fluchtvorbringens. Insbesondere war der Kläger auch auf entsprechenden gerichtlichen Vorhalt nicht in der Lage, schlüssig dazulegen, warum er seine angeblichen Teilnahmen an derartigen Demonstrationen bislang hätte unerwähnt lassen sollen. So vermag insbesondere sein Einwand, er sei durch seinen Vater angewiesen worden, sich im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf die Darlegung seiner Bezüge zur G. -Bewegung zu beschränken, nicht zu überzeugen. Es erschließt sich bereits nicht, aus welcher Motivation heraus der Vater eine entsprechende Aufforderung an den Kläger hätte erteilen sollen. Selbst wenn der Kläger eine entsprechende Anweisung seines Vaters erhalten und diese befolgt haben sollte, hätte er sich angesichts der Ablehnung seines im Wesentlichen auf seine Bezüge zur G. -Bewegung gestützten Asylantrags spätestens im Zuge der schriftsätzlichen Geltendmachung der gegen ihn geführten Strafverfahren wegen Terrorismuspropaganda zu einer Offenlegung des behaupteten politischen Engagements zugunsten pro-kurdischer Belange veranlasst sehen müssen.
61
cc) Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich schließlich nicht aus einer möglichen Heranziehung des Klägers zum Wehrdienst oder den diesem im Fall einer Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen.
62
In der Türkei unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige zwischen dem 19. und dem 41. Lebensjahr der Wehrpflicht (Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 13). Hierbei ist jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet und muss sich ab dem 1. Januar des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 100). Das Wehrpflichtgesetz vom Juni 2019 hat den Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt sowie eine auf 145.000 Personen pro Jahr kontingentierte Freikaufoption eingeführt. Die Befreiung erfolgt für Inlandstürken durch die Bezahlung eines Pauschalbetrags (für das erste Halbjahr 2023: 104.084,16 TRY) und die Ableistung eines Grundwehrdienstes von einem Monat in Form einer Fernausbildung. Auch Auslandstürken können sich für denselben Pauschalbetrag (umgerechnet in Euro) vom Wehrdienst freikaufen (Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und ab-schiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 13). Neben Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren sind u.a. jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrags erhalten haben (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 101). Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung. Die Wehrpflichtigen haben keine Wahl, wo sie stationiert werden. Wehrpflichtige Kurden können daher im Südosten der Türkei stationiert werden, wo sich die türkischen Streitkräfte im Konflikt mit der PKK befinden. Allerdings werden Wehrpflichtige derzeit grundsätzlich nicht zu Kampfeinsätzen herangezogen. Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten wie der kurdischen im Militär. Es gibt aber Einzelfälle (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 103).
63
Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder zur Ableistung eines Ersatzdienstes besteht nicht (Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 13). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird strafrechtlich geahndet. Anschließend muss der Wehrdienst nachgeholt werden. Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçağı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar). Seit der Änderung des türkischen Militärstrafgesetzbuchs ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsgeldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen von bis zu sechs Monaten möglich. Wer seinen Wehrdienst trotz Vorladung nicht ableistet, gilt als Deserteur. Appellflüchtige werden mit Ordnungsgeldern bestraft. Werden die Deserteure zur Erfüllung ihres Wehrdienstes aufgegriffen, werden sie unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 24 Stunden, zur nächsten Militärdienststelle gebracht. Aber selbst wenn Deserteure ausfindig gemacht werden, können sie nicht zum Militärdienst gezwungen werden. In der Praxis sieht es so aus, dass Deserteure einen Bericht unterschreiben und freigelassen werden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 104 f.).
64
Dies zugrunde gelegt, stellt die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird (BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12.17 – juris Rn. 86; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 43). Ebenso wenig ist insoweit von einer Benachteiligung des Klägers aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit auszugehen. Zwar kann – ebenso wie bei allen anderen wehrdienstpflichtigen türkischen Staatsangehörigen – mangels Einflussmöglichkeit auf den Ort der Stationierung während des Wehrdienstes nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger diesen im Südosten der Türkei ableisten muss. Den Erkenntnismitteln sind indes keine Anhaltspunkte für einen systematischen Einsatz von wehrdienstpflichtigen Kurden in diesen Gebieten zu entnehmen. Da Wehrdienstpflichtige derzeit grundsätzlich nicht zu Kampfeinsätzen herangezogen werden, erscheint es ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger – wie in der mündlichen Verhandlung vorgebracht – „die Waffen gegen sein eigenes Volk erheben“, sich also an Kampfhandlungen gegen die PKK beteiligen müsste.
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Auch eine ggf. drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist nicht schon für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung (BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12.17 – juris Rn. 86; U.v. 6.2.2019 – 1 A 3.18 – juris Rn. 98). Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen vielmehr, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (BVerwG, B.v. 2.6.2017 – 1 B 108.17 u.a. – juris Rn. 10; U.v. 6.2.2019 – 1 A 3.18 – juris Rn. 98). Hierfür bestehen im Fall des Klägers keine Anhaltspunkte. Insbesondere ist vorliegend nicht zu ersehen, dass der Kläger in einem etwaigen Strafverfahren wegen Wehrdienstentziehung aufgrund der geltend gemachten Bezüge zur G. -Bewegung oder seiner kurdischen Volkszugehörigkeit eine härtere Bestrafung zu erwarten hätte als andere Wehrdienstverweigerer. Zu erwarten steht vielmehr, dass in diesem Fall auch gegen den Kläger gemäß der nunmehr geltenden türkischen Rechtslage zunächst eine Verwaltungsgeldstrafe verhängt und eine – der Länge nach auf sechs Monate begrenzte – Haftstrafe allenfalls subsidiär angeordnet werden wird.
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Der Umstand, dass in der Türkei keine Möglichkeit besteht, den Wehrdienst zu verweigern, führt zu keiner anderen Beurteilung. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigerern trifft (EGMR, U.v. 12.6.2012 – Nr. 42730/05 – NLMR 2012, 183). Jedoch kommt eine Verletzung von Art. 9 EMRK nur dann in Betracht, wenn der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12.17 – juris Rn. 87; U.v. 6.2.2019 – 1 A 3.18 – juris Rn. 110).
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Daran fehlt es im Fall des Klägers. Dieser hat seine Weigerung, in der Türkei Wehrdienst zu leisten, in der mündlichen Verhandlung damit begründet, dass er wisse, wie der türkische Staat das kurdische Volk behandele, er sich hieran nicht beteiligen und insbesondere nicht die Waffen gegen sein eigenes Volk erheben wolle. Anhand dieses Vorbringens ist eine absolute und nicht nur situationsbezogene Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung, die der Kläger als für sich bindend erfahren würde und gegen die er nicht handeln könnte, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten, nicht zu erkennen. Der Hinweis des Klägers auf den Umgang des türkischen Staates mit den Kurden, offenbart vielmehr eine vorrangig situationsspezifische, nämlich politische Motivation, die in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Politik des türkischen Staates im Kurdenkonflikt begründet liegt.
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c) Weitere Umstände, die einen Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnten, sind nicht ersichtlich.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Stichhaltige Gründe für die Annahme, dass ihm in der Türkei ein ernsthafter Schaden droht, sind nicht ersichtlich. Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft fehlt es namentlich an stichhaltigen Anhaltspunkten für eine dem Kläger drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG)
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3. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
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Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte, dass es dem arbeitsfähigen Kläger, der – wie er in der mündlichen Verhandlung nochmals bestätigt hat – vor seiner Ausreise in Fabriken unter anderem im Bereich der Lebensmittel- und der Textilbranche gearbeitet und in guten wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt haben will, nicht gelingen würde, zumindest das notwendige wirtschaftliche Existenzminimum sicherzustellen. Der Einschätzung der Klagebegründung, wonach es dem Kläger nach einer Rückkehr in die Türkei nicht gelingen werde, dort beruflich Fuß zu fassen, weil er aufgrund seines Bezugs zur G. -Bewegung mit Diskriminierungen von Seiten potentieller Arbeitgeber zu rechnen hätte, vermag das Gericht bei dieser Sachlage nicht zu folgen. Insbesondere hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, in der Vergangenheit bei der Suche nach einer Arbeitsstelle Diskriminierungen oder sonstige Schwierigkeiten erfahren zu haben. Warum sich dies nach einer Rückkehr in die Türkei ändern sollte, erschließt sich daher nicht. Erforderlichenfalls ist der Kläger zudem auf die Unterstützung seiner in der Türkei ansässigen Familienangehörigen zu verweisen. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, verfügt er dort auch nach der Ausreise seiner Eltern und Geschwister noch immer über ein familiäres Netzwerk, so namentlich seinen Großvater sowie Onkel und Tanten in … Aus dem Vorbringen des Klägers, er habe in der Türkei aufgrund von Schlafproblemen Medikamente eingenommen, folgt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Abgesehen davon, dass die behaupteten Schlafprobleme bereits nicht durch eine den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG entsprechende qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht wurden, handelt es sich hierbei ersichtlich nicht um eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, wie dies durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG für eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen vorausgesetzt wird. Unabhängig davon hat der Kläger die betreffenden Medikamente nach eigener Darstellung inzwischen abgesetzt. Doch selbst wenn der Kläger in Zukunft wieder auf eine entsprechende Medikation angewiesen sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich, warum es ihm nicht möglich sein sollte, diese – wie bereits in der Vergangenheit – in der Türkei zu erhalten.
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4. Keine rechtlichen Bedenken bestehen auch mit Blick auf die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist.
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Die Abschiebungsandrohung hat ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Nach § 38 Abs. 1 AsylG hatte die Beklagte dem Kläger eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu setzen.
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Der Abschiebung entgegenstehende familiäre Bindungen des Klägers im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG sind nicht zu ersehen. Dies gilt zunächst mit Blick auf den – ebenfalls asylverfahrensbedingten – Aufenthalt seines Vaters … und seines Bruders … in der Bundesrepublik Deutschland. Bei dem Kläger handelt es sich um einen erwachsenen Mann, und auch sonst bestehen keinerlei Anhaltspunkte für eine übermäßige Angewiesenheit innerhalb des Familienverbands. Hinzu kommt, dass der Kläger nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung aktuell keinen Kontakt zu seinem Vater hat. Im Übrigen wurden auch die durch den Vater und den Bruder gestellten Asylanträge durch die Beklagte jeweils vollumfänglich abgelehnt und die hiergegen erhobenen Klagen durch inzwischen rechtskräftige Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 3. Juli 2023 (* …*) und vom 29. Mai 2024 (* …*) abgewiesen.
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Mit Blick auf die Mutter, einen weiteren Bruder sowie die Schwester des Klägers, welche sich nach dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung inzwischen ebenfalls in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland befinden sollen, gilt nichts anderes. So ist auch insoweit eine übermäßige Angewiesenheit innerhalb des Familienverbands, die als nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG zu berücksichtigende familiäre Bindung dem Erlass der Abschiebungsandrohung entgegenstehen könnte, nicht zu ersehen. Dies gilt umso mehr, als die betreffenden Angehörigen nicht mit dem Kläger in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben, sondern gemäß dessen Aussage in der mündlichen Verhandlung in … wohnhaft sind.
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5. Nicht zu beanstanden ist schließlich die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. In Bezug auf die behördliche Ermessensentscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sind Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO nicht zu ersehen. Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen stellt namentlich der asylverfahrensbedingte Aufenthalt der Eltern und Geschwister des Klägers keinen Umstand dar, der von der Beklagten bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Ermessenswege fristverkürzend zu berücksichtigen gewesen wäre.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.