Inhalt

VG München, Urteil v. 16.12.2024 – M 8 K 23.2943
Titel:

Nachbarklage gegen Bauvorbescheid

Normenketten:
BayBO Art. 6, Art. 57 Abs. 5, Art. 66, Art. 71
BauGB § 34
Leitsätze:
1. Allein wegen eines etwaigen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Nachbarbeteiligung kann ein Nachbar nicht die Aufhebung eines Vorbescheids verlangen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung beziehungsweise der angefochtene Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Grundstücksnachbar hat die Errichtung notwendiger Garagen und Stellplätze für ein Bauvorhaben und die mit ihrem Betrieb üblicherweise verbundenen Immissionen der zu- und abfahrenden Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Vorbescheid, Nachbarbeteiligung, Abstandsflächen, Gebot der Rücksichtnahme, Erdrückende Wirkung, Erhöhtes Verkehrsaufkommen, Gebietserhaltungsanspruch, Gebietsprägungserhaltungsanspruch (offengelassen), Baumschutz, Immissionen, Rücksichtnahmegebot, erdrückende Wirkung, Stellplätze, Garagen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.05.2025 – 2 ZB 25.696
Fundstelle:
BeckRS 2024, 43544

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Kläger haben als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags, für die Beklagte ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich gegen einen der Beigeladenen erteilten Vorbescheid vom … Mai 2023 für das Grundstück FlNr. 12876/28 Gemarkung Sektion VII, A. 3 („Baugrundstück“).
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Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. 12876/56 Gemarkung Sektion VII, A. 1a („Nachbargrundstück“). Das Nachbargrundstück und die angrenzenden Grundstücke FlNr. 12876/2 und FlNr. 12876/55 jeweils Gemarkung Sektion VII sind derzeit mit einem zweigeschossigen Dreifamilienhaus mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut.
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Vergleiche zur baulichen Situation folgenden – aufgrund des Einscannens eventuell nicht mehr maßstabsgetreuen – Lageplan im Maßstab 1:1.000:
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Am … September 2022 reichte die Beigeladene einen Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids bei der Beklagten ein. Der Antrag auf Vorbescheid enthielt dabei folgende Fragen:
Frage 1:
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Kann das bestehende Wohngebäude A. 3 abgebrochen werden.
Frage 2:
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Ist nach Art der Nutzung Wohnnutzung bauplanungsrechtlich zulässig?
Frage 3:
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Ist das in den Plänen dargestellte Gebäude hinsichtlich der dargestellten maximalen Grundfläche von ca. 426 qm (ohne Balkone), und der dargestellten maximalen Höhenentwicklung von E + I + D (Traufhöhe: 6,00m, Firsthöhe 12,20 m) sowie der überbauten Grundstücksfläche bauplanungsrechtlich zulässig?
Frage 4:
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Sind die in den Plänen dargestellten Giebel und Gauben bauplanungsrechtlich zulässig?
Frage 5:
9
Ist die im Plan dargestellte Tiefgarage bauplanungsrechtlich zulässig?
Frage 6:
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Wird einer Fällung von Baum 3 zugestimmt?
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Die Beklagte beantwortete in dem angegriffenen Vorbescheid vom *. Mai 2023 sämtliche Fragen positiv. Bei Frage 4 wies sie zudem darauf hin, dass sie davon ausgehe, dass die Gauben in der dargestellten Form nicht untergeordnet seien und daher Abstandsflächen einzuhalten wären, die jedoch im vorliegenden Vorbescheidsantrag nicht abgefragt seien.
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Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhoben die Kläger Klage gegen den Vorbescheid vom ... Mai 2023.
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Die Kläger beantragen,
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den Vorbescheid der Landeshauptstadt München, Az. …, vom ... Mai 2023 aufzuheben.
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Zur Begründung führen die Kläger aus der streitgegenständliche Vorbescheid verletze sie in drittschützenden Rechten. Es sei schon die Nachbarbeteiligung nach Art. 66 BayBO nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. In materieller Hinsicht verstoße das Vorhaben gegen den Gebietserhaltungsanspruch, da sich das Vorhaben nach der Art der Nutzung nicht in die nähere Umgebung einfüge. Geplant sei keine klassische Wohnnutzung, da aus der Beschreibung auf der Internetseite der Beigeladenen hervorgehe, dass zusätzliche Dienstleistungen angeboten werden sollten. Außerdem sei auch eine Veränderung des Gebietscharakters aufgrund der Anzahl der geplanten Wohneinheiten zu befürchten. Das Wohnen in kleinen Einzimmerapartments entspreche nicht der im Gebiet typischen Nutzung. Außerdem füge sich das Vorhaben auch nach dem Maß der Nutzung nicht in die nähere Umgebung ein. Es sei überdimensioniert und weiche von der im Gebiet vorhandenen Bebauung deutlich ab. Ein vergleichbar dimensioniertes Gebäude als Bezugsfall sei im maßgeblichen Geviert nicht gegeben. Das Objekt B.straße 7-9a sei als Bezugsfall nicht geeignet, da es seinerseits selbst ein „Ausreißer“ sei. Überdies sei eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme gegeben. Von dem geplanten Baukörper gehe eine erdrückende Wirkung aus. Zudem löse das Vorhaben auch neuen Verkehr aus, der in der A. aße zu unzumutbaren, chaotischen Zuständen führen würde. Auch die Geräusch- und Geruchsimmissionen beim Ein- und Ausfahren in die geplante Tiefgarage seien unzumutbar. Ferner verstoße das Vorhaben gegen Bauordnungsrecht. Insbesondere liege ein Verstoß gegen die nachbarschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts vor. Das Vorhaben halte die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein. Eine Anwendung des sogenannten 16m-Privilegs komme nicht in Betracht, da die Westseite des Vorhabens wie eine 27 m lange Außenwand wirke. Die konkave Gestaltung einzelner Wandteile an den Enden der Außenwand würde daran nichts ändern. Auch in statischer Hinsicht und in Bezug auf das Niederschlagswasser gingen von dem Vorhaben Gefahren für das klägerische Grundstück aus. Zuletzt sei auch der Baumschutz verletzt.
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Die Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Die Beklagte führt aus, dass keine nachbarschützenden Vorschriften verletzt seien.
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Die Beigeladene beantragt
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Klageabweisung.
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Eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften sei nicht ersichtlich. Insbesondere sei kein Verstoß gegen Vorschriften des Abstandsflächenrechts gegeben, da diese von der Bindungswirkung des Vorbescheids schon nicht erfasst seien. Auch entspreche die geplante Nutzung dem Gebietscharakter. Es komme insoweit allein auf die beantragte Nutzung zum Wohnen an. Hinsichtlich des Nutzungsmaßes sei das Objekt B. straße 7-9a als Bezugsfall geeignet. Auch sei das Vorhaben nicht erdrückend oder sonst rücksichtslos.
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Das Gericht hat am 16. Dezember 2024 Beweis erhoben durch Augenschein und eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Auf die Protokolle des Augenscheins und der mündlichen Verhandlung wird verwiesen. Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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Der streitgegenständliche Vorbescheid verletzt keine im einschlägigen Genehmigungsverfahren nach Art. 71 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m. Art. 59 BayBO zu prüfende, (auch) die Kläger schützenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Nach Art. 71 Satz 1 BayBO kann vor Einreichung eines Bauantrags auf schriftlichen Antrag des Bauherrn zu einzelnen in der Baugenehmigung zu entscheidenden Fragen vorweg ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid) erlassen werden. Als feststellender Verwaltungsakt stellt der Vorbescheid im Rahmen der vom Bauherrn gestellten Fragen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die Gegenstand der Prüfung sind, fest und entfaltet während seiner regelmäßigen Geltungsdauer von drei Jahren (Art. 71 Satz 2 BayBO) Bindungswirkung für ein nachfolgendes Baugenehmigungsverfahren.
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung und / oder einen Vorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung / der Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren bzw. im Rahmen der Erteilung des Vorbescheids zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22). Für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs genügt es daher nicht, wenn die Baugenehmigung / der Vorbescheid gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung / den Vorbescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden. Hinzu kommt, dass ein Verstoß nur gegen solche Vorschriften in Betracht kommt, zu denen der Vorbescheid rechtliche Aussagen bzw. Feststellungen trifft, weil nur insoweit eine Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren eintritt (VG Ansbach, U.v. 26.4.2017 – AN 9 K 16.01416, AN 9 K 16.01417 – juris Rn. 26). Denn gegen einen Vorbescheid kann sich der Nachbar nur insoweit wehren, als sich die Baugenehmigungsbehörde hinsichtlich einer Fragestellung, die subjektive Rechte des Nachbarn berührt, bindet, so dass bei der Erteilung der folgenden Baugenehmigung eine nachbarschützenden Normen gerecht werdende Entscheidung nicht mehr möglich ist (BayVGH, B.v. 27.1.2005 – 14 ZB 04.2619 – BeckRS 2005, 15871, Rn. 4).
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2. Allein wegen eines etwaigen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Nachbarbeteiligung nach Art. 66 BayBO können die Kläger nicht die Aufhebung des Vorbescheids verlangen, da Art. 66 BayBO als solcher nicht nachbarschützend ist (BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 27; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Werkstand 153. EL Januar 2024, Art. 66 Rn. 208). Wird die Nachbarbeteiligung nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt, so hat dies lediglich zur Folge, dass der Vorbescheid dem betroffenen Nachbarn zuzustellen ist, Art. 71 Satz 4 i.V.m. Art. 66 Abs. 1 Satz 4 BayBO.
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3. Mit dem Vortrag, das Vorhaben verstoße gegen die nachbarschützenden Vorschriften über die Abstandsflächen (Art. 6 BayBO), können die Kläger ebenfalls nicht durchdringen. In den zur Prüfung gestellten Fragen sind die Abstandsflächen nicht mit abgefragt und daher auch nicht von der Bindungswirkung des Vorbescheids erfasst. Eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften scheidet daher aus. Eine spätere Geltendmachung etwaiger Verstöße gegen die Abstandsflächen in der Baugenehmigung bleibt davon unberührt.
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4. Gleiches gilt auch für das klägerische Vorbringen bezüglich des Niederschlagswassers, der statischen Bedenken und der Befürchtung durch die Bauarbeiten könnten Schäden an dem Gebäude auf dem Nachbargrundstück entstehen. All diese Punkte werden in keiner Weise von dem streitgegenständlichen Vorbescheid behandelt, sodass eine Verletzung nachbarschützender Normen insoweit ausgeschlossen ist.
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5. Die positive Beantwortung der Frage 1 des streitgegenständlichen Vorbescheids mit der der Abbruch des bestehenden Gebäudes auf dem Baugrundstück abgefragt ist, verletzt die Kläger nicht in drittschützenden Rechten. Der Abbruch von Gebäuden unterliegt – abgesehen von hier nicht einschlägigen Ausnahmeregelungen wie etwa im Rahmen des Denkmalschutzes – schon keiner Genehmigungspflicht, sondern ist entweder gänzlich verfahrensfrei oder muss lediglich der Gemeinde und der Bauaufsichtsbehörde einen Monat im Voraus angezeigt werden (Art. 57 Abs. 5 BayBO). Vor diesem Hintergrund ist schon nicht nachvollziehbar, welche nachbarschützende Norm überhaupt einschlägig sein soll.
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6. Auch die positive Beantwortung der Fragen 2 bis 5 verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Fragen 2 bis 5 stellen in ihrer Zusammenschau bei sachgerechter Auslegung eine zulässige Vorbescheidsfrage nach der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens nach Art und Maß der baulichen Nutzung sowie hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen dar. Insofern erzeugt die positive Beantwortung Bindungswirkung für das nachfolgende Baugenehmigungsverfahren.
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6.1 Die positive Beantwortung der vorstehend ermittelten Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
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Bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz ist vorliegend, da das Baugrundstück im Geltungsbereich eines einfachen Bebauungsplans und im Übrigen im unbeplanten Innenbereich liegt, aus § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 BauGB herzuleiten.
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§ 34 Abs. 1 BauGB hat keine unmittelbar drittschützende Wirkung. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung beziehungsweise der angefochtene Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290-297, juris Rn. 21 m.w.N.). Drittschutz wird zudem im faktischen Plangebiet über § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO über das dort verankerte Rücksichtnahmegebot und hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung außerdem über den Gebietserhaltungsanspruch gewährt. Darauf, ob sich das Bauvorhaben objektiv in die maßgebliche nähere Umgebung einfügt, kommt es im Übrigen nicht an.
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6.2 Das Gebot der Rücksichtnahme ist vorliegend weder hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung noch hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen noch in Bezug auf die durch das Vorhaben ausgelösten Immissionen aufgrund des anfallenden An- und Abfahrtsverkehrs aus der Tiefgarage verletzt.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, solche Spannungen und Störungen möglichst zu vermeiden, die durch eine unverträgliche Grundstücksnutzung entstehen können. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, auf die Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen desjenigen sind, der das Vorhaben verwirklichen will, umso weniger ist Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 – 4 C 22/75 – juris Rn. 22). Für eine sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 a.a.O.; U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04 – juris Rn. 22).
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6.2.1 Eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung ist nicht ersichtlich. Gegen die im Gebot des Sich-Einfügens in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verankerte Rücksichtnahme wird nicht bereits dann verstoßen, wenn das Vorhaben sich nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die nähere Umgebung einfügt. Das Gebot der Rücksichtnahme ist aber jedenfalls dann verletzt, wenn die Bebauung eine „erdrückende“ Wirkung auslöst (vgl. VG München B.v. 23.07.2014 – M 11 SN 14.2037 – juris Rn. 34 ff.). Eine „erdrückende“ Wirkung kommt bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern, die in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden errichtet werden, in Betracht (vgl. BayVGH B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 28). Das Nachbargebäude müsste nur noch oder überwiegend wie von einem herrschenden Gebäude dominiert und ohne eigene Charakteristik wahrgenommen werden bzw. es müsste ein objektiv begründetes Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Hinterhof“- bzw. „Gefängnishofsituation“ entstehen (BayVGH, B.v. 22.6.2020 – 2 ZB 18.1193 – juris Rn. 8). Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes besteht jedoch grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30)
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Vorliegend kann bereits aufgrund der Höhenverhältnisse – das Bauvorhaben ist mit zwei Geschossen zuzüglich zweier ausgebauter Dachgeschosse nur um ein Geschoss höher als das zweigeschossige Nachbargebäude mit einem ausgebauten Dachgeschoss – nicht von einer „erdrückenden“ Wirkung die Rede sein. Dass die Belichtungs- und Belüftungssituation sich für das klägerische Grundstück verschlechtert, reicht nicht als Grund für eine erdrückende Wirkung aus. Auch dass nur in sehr geringem Umfang Freiflächen auf dem klägerischen Grundstück vorhanden sind, führt nicht automatisch dazu, dass von einer erdrückenden Wirkung gesprochen werden kann. Ein Nachbar kann sich nicht darauf verlassen, dass er auf Dauer davon profitieren kann, dass ein angrenzendes Grundstück weitestgehend unbebaut bleibt, während er selbst auf seinem Grundstück das Baurecht maximal ausnutzt.
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6.2.2 Ebenso wenig ist das Vorhaben in Bezug auf die durch den An- und Abfahrtsverkehr aus der geplanten Tiefgarage verursachten Immissionen rücksichtslos. Eine über das zumutbare Maß hinausgehende Belastung durch ein erhöhtes, dem Vorhaben zurechenbares Verkehrsaufkommen (z.B. erhöhter Park- und Suchverkehr oder Lärm- und Geruchsimmissionen) ist nicht erkennbar. Nach § 12 Abs. 2 BauNVO sind in Wohngebieten Stellplätze und Garagen für den durch die zugelassene Nutzung notwendigen Bedarf zulässig. Die Vorschrift begründet für den Regelfall auch hinsichtlich der durch die Nutzung verursachten Lärmimmissionen eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit. Der Grundstücksnachbar hat deshalb die Errichtung notwendiger Garagen und Stellplätze für ein Bauvorhaben und die mit ihrem Betrieb üblicherweise verbundenen Immissionen der zu- und abfahrenden Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BVerwG, B.v. 20.3.2003 – 4 B 59.02 – juris Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 29.1.2016 – 15 ZB 13.1759 – juris Rn. 23 m.w.N.). Eine bloße Verkehrsintensivierung begründet noch keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (VG München, B.v. 7.2.2017 – M 8 SN 16.4984 – juris Rn. 70). Umstände die eine Ausnahme von diesem Grundsatz nahelegen würden, liegen nicht vor. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass Tiefgaragen grundsätzlich als rücksichtsvoller einzustufen sein dürften, da sie im Vergleich zu oberirdischen Garagen den Vorteil haben, dass die mit dem Parken und Abfahren verbundenen Geräuschbelästigungen (z.B. Zuschlagen von Autotüren und Kofferraum, Starten des Motors, Rangieren beim Ein- und Ausparken) unter die Erdoberfläche verlagert und dadurch die Nachbarn weitgehend von diesen Belästigungen abgeschirmt werden (BayVGH, B.v. 25.5.2021 – 15 ZB 20.2128 – juris Rn. 19). Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern die Kläger durch die geplante Tiefgarage und den dadurch verursachten An- und Abfahrtsverkehr in der Benutzung ihres Grundstücks, insbesondere in der Benutzung ihrer eigenen Garageneinfahrt, unzumutbar beeinträchtigt sein könnten. Die Kläger haben schon keine konkreten Umstände hierzu vorgetragen. Anhaltspunkte für ein von den Klägern behauptetes, drohendes Verkehrschaos auf der A. aße sind nicht gegeben. Allein aus der Anzahl der der Stellplätze und der grenzständigen Lage der Tiefgarageneinfahrt unmittelbar neben zwei weiteren Garageneinfahrten kann noch nicht auf das Entstehen chaotischer Zustände geschlossen werden, die zu einer eingeschränkten Benutzbarkeit des Nachbargrundstücks führen könnten.
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6.3 Weder der Gebietserhaltungsanspruch noch ein sogenannter Gebietsprägungserhaltungsanspruch – sollte ein solcher überhaupt existieren – ist vorliegend verletzt.
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6.3.1 Der Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn setzt voraus, dass das Grundstück in einem festgesetzten oder in einem faktischen Baugebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB) liegt, und gewährt dem Grundstückseigentümer einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines Bauvorhabens im Plangebiet bzw. der maßgeblichen Umgebung, das von der zulässigen Nutzungsart abweicht. Ist die maßgebliche nähere Umgebung als Gemengelage nach § 34 Abs. 1 BauGB anzusehen, besteht schon kein Gebietserhaltungsanspruch.
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Der Gebietserhaltungsanspruch ist generell drittschützend, d.h. unabhängig davon, ob die zugelassene gebietswidrige Nutzung den Nachbarn selbst unzumutbar beeinträchtigt oder nicht. Er ist verletzt, wenn das Vorhaben im faktischen oder festgesetzten Baugebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. BauNVO) weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig ist (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – juris Rn. 13). Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken, dass Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses kann daher das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des (faktischen) Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindert werden (BVerwG, B.v. 22.12.2011 – 4 B 32.11 – ZfBR 2012, 378).
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Ob ein faktisches Baugebiet vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB einem der in der Baunutzungsverordnung definierten Gebiete entspricht, § 34 Abs. 2 BauGB. Der die nähere Umgebung bildende Bereich reicht dabei so weit, wie sich die Ausführung des zur bauaufsichtlichen Prüfung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder beeinflusst (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris Rn. 33; U.v. 5.12.2023 – 4 C 5.12 – juris Rn. 10; B.v. 20.8.1998 – 4 B 79.98 – juris Rn. 7; U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn. 9; B.v. 27.3.2018 – 4 B 60.17 – juris Rn. 7)
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Dies zugrunde gelegt ist der Gebietserhaltungsanspruch vorliegend nicht verletzt. Es kann dahinstehen, ob es sich bei der näheren Umgebung um ein faktisches allgemeines oder faktisches reines Wohngebiet handelt. Die beantragte Nutzung zu Wohnzwecken ist sowohl im faktischen allgemeinen wie auch im faktischen reinen Wohngebiet allgemein zulässig. Beantragt ist ausschließlich eine Nutzung zu Wohnzwecken. Aus dem Vorbescheidsantrag geht auch nicht hervor, dass hotelähnliche Zusatzleistungen angeboten werden sollen. Der angefochtene Bescheid erklärt daher nur eine Wohnnutzung für zulässig. Auf die Befürchtungen der Kläger, es sei eine „hotelähnliche“ Nutzung zu erwarten, kommt es nicht an, da sich die Rechtsverletzung nur aus der im angefochtenen Bescheid zugelassenen Nutzung ergeben kann. Zu einer Hotelnutzung trifft der Vorbescheid keine Aussage. Die Tatsache, dass es sich um ein Mehrfamilienhaus mit mehreren Wohneinheiten handelt, führt nicht zu einem Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch (VG München, U.v. 18.4.2016 – M 8 K 15.159 – juris Rn. 31).
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6.3.2 Ob neben dem Gebietserhaltungsanspruch aus § 34 Abs. 2 BauGB zusätzlich noch ein sogenannter Gebietsprägungserhaltungsanspruch aus § 34 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO abzuleiten ist (zum Streitstand vgl.: BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 9 m.w.N.) kann dahinstehen. In jedem Fall müsste dafür ein von den Klägern behauptetes nachbarrechtswidriges Umschlagen von Quantität in Qualität die Art der baulichen Nutzung derart erfassen oder berühren, dass bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste (BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 10; B.v. 4.3.2021 – 15 ZB 20.3151 – juris Rn. 16; B.v. 12.07.2022 – 15 CS 22.1437 – juris Rn. 17; BVerwG, U.v. 16.03.1995 – 4 C 3.94 – juris Rn. 17).
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Diese (strengen) Voraussetzungen unter denen ein solcher Ausnahmefall angenommen werden könnte liegen jedenfalls nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen ein Wohnen in Mehrfamilienhäusern gegenüber dem Wohnen in Ein- oder Zweifamilienhäusern negativ zu beurteilen sein könnte (BayVGH, B.v. 12.07.2022 – 15 CS 22.1437 – juris Rn. 17; B.v. 4.3.2021 – 15 ZB 20.3151 – juris Rn. 16). Denn es kommt hierbei weder auf die Zahl der Wohnungen (BayVGH, B.v. 12.07.2022 – 15 CS 22.1437 – juris Rn. 17; B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 8) noch auf die Ausmaße der Gebäude an (BayVGH, B.v. 12.07.2022 – 15 CS 22.1437 – juris Rn. 17; B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 8; NdsOVG, B.v. 28.5.2014 – 1 ME 47/14 – juris Rn. 14). Abgesehen davon sind in der näheren Umgebung des Vorhabens auch bereits andere Mehrfamilienhäuser vorhanden (so etwa in der B. str. 7-9a und der B. str. 11), sodass schon deshalb nicht nachvollziehbar ist, inwieweit durch das Vorhaben die Prägung des Gebiets nachhaltig verändert würde.
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7. Auch hinsichtlich Frage 6 ist keine Verletzung von Nachbarrechten gegeben. Der von den Klägern vorgetragene Verstoß gegen die Baumschutzverordnung begründet keine Verletzung drittschützender Normen. Die Baumschutzverordnung der Beklagten vermittelt schon keinen Drittschutz. Sie dient lediglich öffentlichen Zwecken, was insbesondere aus ihrer naturschutzrechtlichen Rechtsgrundlage folgt (vgl. BayVGH B.v. 9.11.2000 – 9 ZB 00.1635 – juris Rn. 7 ff; VG Ansbach U.v. 14.12.2021 – AN 9 K 21.477 – BeckRS 2021, 40601 Rn. 23).
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8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 VwGO.
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Es entspricht der Billigkeit, den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese Sachanträge gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff ZPO.