Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 07.03.2024 – AN 4 S 24.30528
Titel:

europarechtliche Vereinbarkeit des § 30 Abs. 1 AsylG mit der Asylverfahrensrichtlinie

Normenketten:
AsylG § 30 Abs. 1 (idF bis zum 26.2.2024)
AsylG § 30 Abs. 1 (idF ab 27.2.2024)
AsylG § 36 Abs. 4 S. 1
Asylverfahrens-RL Art. 31 Abs. 8 lit. a, Art. 32 Abs. 2
Leitsatz:
Die ab 27.02.2024 geltende Neufassung des § 30 AsylG dient der Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) und umfasst die schon nach bisheriger Rechtslage geregelten Fälle, in denen die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
europarechtliche Vereinbarkeit des § 30 Abs. 1 AsylG mit der Asylverfahrensrichtlinie, offensichtlich unbegründeter Asylantrag, Asylverfahrensrichtlinie
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4351

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger, vom Volk der Kurden und sunnitischen Glaubens. Er ist am 24. August 2023 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und beantragte am 13. Oktober 2023 die Durchführung eines Asylverfahrens.
2
Im Rahmen der persönlichen Anhörung am 15. Februar 2024 berief sich der Antragsteller im Wesentlichen auf die Qualen der kurdischen Volksgruppe. Der Antragsteller habe zwischen 2020 und 2022 für die HDP gearbeitet, Werbung für die Partei gemacht und als Laufbursche Unterlagen überbracht. Von der Partei habe er eine Wohnung gestellt bekommen. Offizielles Mitglied sei er jedoch nie gewesen. Dies wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen.
3
Fünf bis sechs Jahre vor seiner Ausreise sei er einmal von der Polizei festgenommen und geschlagen worden, weil er protestiert habe, in dem er Plakate hochgehalten habe. Vor seiner Ausreise sei ihm jedoch nichts Konkretes zugestoßen.
4
Der Asylantrag der Antragsteller wurde mit Bescheid vom 16. Februar 2024 hinsichtlich Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung und subsidiärem Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Ziffer 1 – 3). In Ziffer 4 wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen. Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Die Abschiebung in die Türkei oder in jeden anderen zur Aufnahme bereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat wurde angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde in Ziffer 6 auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird verwiesen.
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Der Antragsteller lässt durch seinen anwaltlichen Vertreter am 4. März 2024 Versagungsgegenklage erheben und beantragt zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 4. März 2024 gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamts für ... vom 16. Februar 2024 anzuordnen.
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Die Voraussetzungen für eine Offensichtlichkeitsentscheidung seien aufgrund des konkreten Sachverhaltes nicht gegeben. Das Bundesamt habe die Offensichtlichkeitsentscheidung auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt. Dies finde keine Stütze in der zugrundeliegenden Asylverfahrensrichtlinie.
8
Auf diese bezogen habe der Antragsteller mit seinem Vorbringen zur kurdischen Volksgruppe und zu Unterstützungshandlungen für die HDP nicht lediglich Umstände vorgetragen, die für die Gewährung internationalen Schutzes nicht von Belang sind (Art. 31 Abs. 8 lit. a RL 2013/32/EU). Auf den Inhalt des Vorbringens wird verwiesen.
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Die Antragsgegnerin erwidert mit Schreiben vom 7. März 2024 und beantragt den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und auf die elektronischen Behördenakten verwiesen und Bezug genommen.
II.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids.
13
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen, in denen der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Angegriffener Verwaltungsakt in diesem Sinn und damit alleiniger Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist die Abschiebungsandrohung (Pietzsch in BeckOK, Ausländerrecht, 30. Ed., Stand: 01.04.2021, § 36 AsylG Rn. 36). Die sofortige Beendigung des Aufenthalts eines Asylbewerbers im Bundesgebiet stützt sich auf die Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes muss daher die Frage sein, ob das Bundesamt den Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, ohne dass deshalb der Ablehnungsbescheid selbst zum Verfahrensgegenstand wird (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 – juris Rn. 93). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 – juris Rn. 99). Dabei ist in Bezug auf die Tatsachenermittlung zu berücksichtigen, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß § 36 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 1 AsylG im schriftlichen Verfahren ergehen soll. Das Verwaltungsgericht hat daher regelmäßig nach Aktenlage (aufgrund der Bescheide und Protokolle der Behörden einerseits und des schriftsätzlichen Vorbringens des Antragstellers im Eilverfahren andererseits) zu entscheiden (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 – juris Rn. 100).
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1. Im Ergebnis bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin und insbesondere an dem getroffenen Offensichtlichkeitsurteil. Eingangs kann hierfür auf den streitgegenständlichen Bescheid verwiesen werden (vgl. § 77 Abs. 3 AsylG). Hierzu ist, insbesondere mit Blick auf den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage (nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG: der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts), folgendes zu ergänzen:
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a) Grundlage für die Beurteilung der Ablehnung als offensichtlich unbegründet ist die bisherige Fassung des § 30 Abs. 1 AsylG, die auch europarechtlich nicht zu beanstanden ist.
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Der Gesetzgeber hat § 30 AsylG zwar mit Art. 2 Nr. 6 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54, veröffentlicht am 26. Februar 2024) neu gefasst und die Änderung trat am 27. Februar 2024 in Kraft (vgl. Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes, wonach es einen Tag nach Verkündung in Kraft tritt). Gleichzeitig wurde mit Art. 2 Nr. 16 des Gesetzes eine Übergangsvorschrift geschaffen, wonach auf Personen, deren Asylantrag bis zum 27. Februar 2024 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, § 30 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung Anwendung findet.
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Auf Basis der Gesetzesbegründung dient die Neufassung der Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie und hat zum Ziel, die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten nach Artikel 32 Absatz 2 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU (RL 2013/32/EU) in den nationalen Vorschriften vorsehen können, dass ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, in das Asylgesetz zu übertragen. Nach dem Willen des Gesetzgebers setzt § 30 Absatz 1 Nr. 1 AsylG den Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31. Abs. 8 lit. a der RL 2013/32/EU um und umfasst die nach der bisherigen Rechtslage geregelten Fälle, in denen die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen (bisher § 30 Absatz 1) (BR-Drs. 563/23, S. 60 f.).
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Die Gesetzesänderung dürfte insbesondere auf europarechtliche Bedenken zur Frage des nicht substantiierten Vorbringens nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG a.F. zurückgehen, wie sie insbesondere das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach formuliert hat (Vgl. VG Ansbach, B.v. 18.7.2023 – AN 17 S 23.30555). Mit Ausnahme dessen war der Sachstand, dass gegenüber § 30 AsylG keine europarechtlichen Bedenken bestehen, was damit auch den bisherigen § 30 Abs. 1 AsylG umfasst (vgl. Heusch in Kluth/Heusch, BeckOK-Ausländerrecht, § 30 AsylG Rn. 8).
19
Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG a. F. offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter offensichtlich nicht vorliegen. Die Beurteilung als offensichtlich unbegründet ist gerechtfertigt, wenn nach der vollständigen Erforschung des Sachverhaltes zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt (BVerfG, B.v. 25.02.1981 – 1 BvR 413/80 u.a. sowie B.v. 02.05.1984 – 2 BvR 1413/83). Diesem Verständnis von § 30 Abs. 1 AsylG a.F. steht Art. 31 Abs. 8 lit. a i:V.m. Art. 31 Abs. 2 der RL 2013/32/EU, wonach ein Asylverfahren beschleunigt (als offensichtlich unbegründet) durchgeführt werden kann, wenn der Antragsteller bei der Darlegung der Tatsachen nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung der Frage, ob er Anspruch auf internationalen Schutz hat, nicht von Belang sind, nicht entgegen. Denn auch das Tatbestandsmerkmal „ohne Belang“ aus Art. 31 Abs. 8 lit. a RL 2013/32/EU enthält eine wertende Verknüpfung zwischen dem Vorbringen und der rechtlichen Beurteilung aufgrund der Auskunftslage, wie sie im oben aufgezeigten Sinne bei der Beurteilung der „Offensichtlichkeit“ vorzunehmen ist.
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Im Rahmen der vom Antragsteller insbesondere geltend gemachten kollektiven Verfolgungssituation setzt die Ablehnung als offensichtlich unbegründet in aller Regel das Vorliegen einer gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung voraus. Bei Sachverhalten, bei denen von einer gefestigten Rechtsprechung nicht gesprochen werden kann, erfordert die Unbegründetheit des Asylantrags als offensichtlich das Vorliegen einer eindeutigen und widerspruchsfreien Auskunftslage sachverständiger Stellen. Vergleichbare Anforderungen gelten, wenn Sachverhalte zu beurteilen sind, die die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland betreffen (vgl. Blechinger in Decker/Bader/Kothe, BeckOK-Migrations- und Integrationsrecht, § 30 AsylG Rn. 14).
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b) Auf Basis dessen bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Entscheidung des Bundesamtes, insbesondere auch mit Blick auf die qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet.
22
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden Asylbewerber aus der Türkei keine Gruppenverfolgung zu befürchten haben. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6). Nichts anderes ergibt sich aus der vom Gericht zugrunde gelegten Auskunftslage und bereits das pauschale und oberflächliche Vorbringen des Antragstellers zu den „Qualen des kurdischen Volkes“, einer Bevölkerungsgruppe mit mehr als 15 Millionen Menschen in der Türkei, ohne jeglichen Anknüpfungspunkt an ein persönliches Erlebnis zeigt, dass eine asylverfahrensrelevante Bedrohung ganz offenkundig nicht in Betracht, das Vorbringen vielmehr ohne Belang im Sinne des Gesetzes ist.
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Das gleiche gilt im Zusammenhang mit dem Vortrag zur HDP. Die HDP ist eine linkskurdische Partei. Die türkische Regierung wirft deren Führung enge Verbindungen zur PKK vor. Nach eigenen Angaben der Partei, sind mehr als 5.000 Mitglieder und Parteifunktionäre in Haft. Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist nach Auskunft des Auswärtigen Amtes kein Grund für strafrechtliche Maßnahmen (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juni 2022, Lagebericht AA, S. 8; BayVGH, B.v. 7.6.2021 – 24 ZB 21.30687 – juris Rn. 7). Vorliegend macht der Antragsteller noch nicht einmal geltend, sich aufgrund politischer Überzeugung für die HDP zu engagieren. Vielmehr sei für ihn eine Mitgliedschaft gar nicht in den Sinn gekommen und er hat nach Vortrag lediglich niedere Arbeiten für die Partei erledigt, was auf Basis der gesicherten Rechtsprechung und Auskunftslage im Sinne der Vorschrift ohne Belang für das Vorliegen der Frage einer asylverfahrensrelevanten Gefahr ist.
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Soweit der Antragsteller sich darauf beruft, dass man ihm im Rahmen einer Protestaktion ein Schild abgenommen hat, ist eine asylverfahrensrelevante Gefahr nicht zu erkennen. Denn offenkundig hat der Jahre zurückliegende Vorfall zu keinerlei Repressalien geführt.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.