Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Konversion - Iran - Einzelfall)
Normenkette:
AsylG § 3, § 28 Abs. 1a
Leitsatz:
Die durch Taufe bewirkte Mitgliedschaft in einer christlichen Religionsgemeinschaft ist nur dann allein entscheidungserheblich, wenn eine Verfolgung in einem Land ausschließlich an die Kirchenzugehörigkeit anknüpft. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland Iran, iranische Frau, Konversion glaubhaft, westliche Wertvorstellungen, Konversion, Christentum
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4350
Tenor
1. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2019, Gesch-Z. …, verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige und wurde am … 1981 geboren. Sie reiste am 5. April 2018 auf dem Landweg über die Türkei in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. April 2018 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
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1. Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am 27. April 2018 gab die Klägerin im Wesentlichen an, im Iran lebten ihre Eltern. Sie habe einen Hochschulabschluss und eine Ausbildung als Personal-Trainer. Zu den Gründen, weshalb die Klägerin den Iran verlassen haben will, gab sie an, sie sei wegen des Suizids einer Freundin in eine Depression gefallen. In der Depressionszeit habe sie viel gebetet. Sie habe sich jeden Tag schlechter gefühlt. Eines Tages habe sie zum lieben Gott gebetet. Nach ca. zwei Wochen habe sie eine Freundin in einer Sporthalle getroffen. Sie habe dieser von ihrem Schicksal erzählt. Man sei auf die Religion zu sprechen gekommen. Sie habe sie vom Christentum überzeugt. Sie habe sie mit zu einer Hauskirche genommen. Dies sei Anfang März 2018 gewesen. Die Wärme dort habe ihr gefallen. Es sei viel gebetet und gesungen worden. Sie habe eine Bibel bekommen. Ende März seien sie wieder zur Hauskirche gegangen. Dann hätten sie Schreie gehört und seien geflohen. Es seien Polizisten zu ihr nach Hause gekommen und hätten nach ihr gefragt. Sie habe bei ihrer Freundin übernachtet und sei schließlich ausgereist. Sie sei nicht getauft.
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Nachdem das Asylverfahren der Klägerin ins nationale Verfahren übernommen wurde und ein vorangegangener Asylbescheid nach Ablauf der Überstellungsfrist aufgehoben wurde, lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 25. Februar 2019 den Antrag der Klägerin auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids). Weder die Flüchtlingseigenschaft noch der subsidiäre Schutzstatus wurden zuerkannt (Ziffern 1 und 3). Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides bzw. im Falle der Klageerhebung von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in den Iran angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Auf die Begründung des Bescheids wird nach § 77 Abs. 3 AsylG Bezug genommen.
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2. Hiergegen ließ die Klägerin am 12. März 2019 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erheben. Es wurde zuletzt beantragt,
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Der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019, Geschäftszeichen …, wird aufgehoben.
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Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wurde angegeben, die Klägerin sei am ... Juni 2018 in der evangelisch-methodistische Kirche … als Christin getauft worden. Die Klägerin sei lang und intensiv vorbereitet worden. Der nunmehrige christliche Glauben sei identitätsprägend geworden, sodass ein vollständiger Abfall von der bisherigen islamischen Glaubensgemeinschaft erfolgt sei. Die Klägerin habe unter Gefahr für Leib und Leben in einem Strafverfahren gegen einen strafrechtlich angeklagten Schleuser beim Amtsgericht … ausgesagt. Die Klägerin bemühe sich um eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse. Sie sei zwischenzeitlich nach Nordrhein-Westfalen umgezogen und habe eine Arbeit als hochqualifizierte Ingenieurin in … aufgenommen. Sie habe das Zertifikat Deutsch B2 erworben. Weiter wurden im Verfahren ein pfarramtliches Führungszeugnis der evangelischen Kirchengemeinde … über die dortigen aktuellen Glaubensaktivitäten der Klägerin vorgelegt. Ein letztmaliges Führungszeugnis datiert vom 30. November 2023.
3. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und beantragte,
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Zur Begründung bezog sie sich auf den streitgegenständlichen Bescheid.
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4. Mit Beschluss vom 16. November 2023 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung am 9. Februar 2024 war die Klägerin persönlich in Begleitung ihres Bevollmächtigten erschienen. Für die Beklagte war niemand anwesend. Das Gericht machte zum Gegenstand des Verfahrens die Erkenntnismittelliste Iran, Stand: November 2023. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Die Klägerin wurde informatorisch befragt. Die Klägerin nahm ihre Klage bezüglich der Anerkennung als Asylberechtigte zurück. Diesbezüglich wurde das Verfahren abgetrennt und unter dem Az. AN 1 K 24.30329 fortgeführt. Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
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5. Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Trotz Ausbleibens eines Vertreters für die Beklagte konnte ohne diese verhandelt und entschieden werden, weil in der Ladung zur mündlichen Verhandlung auf § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen wurde.
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Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Die Beklagte war unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids vom 25. Februar 2019 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen, § 113 Abs. 5 VwGO.
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1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Lands (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Heimatland verlassen hat.
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Prognosemaßstab für die Frage einer Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG ist der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“) (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – und v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – beide juris). Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und sie deshalb die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ („real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris).
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Es ist Sache des Schutzsuchenden, von sich aus die näheren Umstände einer (Vor-) Verfolgung vorzutragen, § 25 Abs. 1 AsylG. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung die Verfolgung ergibt. Das Gericht muss sich sodann im Wege freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 VwGO die volle Überzeugung von der Glaubhaftigkeit einer solchen Aussage verschaffen. Hierbei gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen einen brauchbaren Grad an Gewissheit verschaffen muss, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Die besondere Beweisnot des Schutzsuchenden, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen, ist zu berücksichtigen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BVerwG, U.v. 6.3.1990 – 9 C 14.89 – juris).
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1.1. Gemessen an diesen Voraussetzungen steht der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Sie läuft im Fall ihrer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, Verfolgungshandlungen wegen ihrer Religion ausgesetzt zu sein.
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Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Das trifft auf die christliche Religion zu.
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Nach der höchstrichterlichen und unionsrechtlichen Rechtsprechung liegt ein Eingriff in die Religionsfreiheit vor, wenn auf die Entschließungsfreiheit des Schutzsuchenden, seine Religion in einer bestimmten Weise zu praktizieren, durch die Bedrohung mit Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit eingewirkt wird. Es muss eine schwer wiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Bei der Untersuchung, ob dem Schutzsuchenden in seinem Heimatland eine schwer wiegende Verletzung der Religionsfreiheit als flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht, darf eine von einer Religionsgemeinschaft bestätigte Mitgliedschaft – von Missbrauchsfällen abgesehen – nicht infrage gestellt werden. Die durch Taufe bewirkte Mitgliedschaft in einer christlichen Religionsgemeinschaft ist aber nur dann allein entscheidungserheblich, wenn eine Verfolgung in einem Land ausschließlich an die Kirchenzugehörigkeit anknüpft. Ist dies nicht der Fall, ist festzustellen, welche Maßnahmen und Sanktionen gegenüber dem Betroffenen im Herkunftsstaat voraussichtlich ergriffen werden, wenn er eine bestimmte Glaubenspraxis dort ausübt, und wie gravierend diese sind (vgl. BVerfG, B.v. 3.4.2020 – 2 BvR 1838/15 – juris). Eine hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann insbesondere erreicht sein, wenn dem Betroffenen durch die Betätigung seines Glaubens – im privaten oder öffentlichen Bereich – die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, (tatsächlich) strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Auch der unter dem Druck drohender Verfolgung erzwungene Verzicht auf eine Glaubensbetätigung kann die Qualität einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG erreichen, je nachdem, wie der einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn ein zentrales Element seiner religiösen Identität bildet und daher für ihn unverzichtbar ist (vgl. BVerfG a.a.O.).
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Damit sich der Schutzsuchende erfolgreich auf eine Verfolgung wegen einer Glaubenskonversion berufen kann, muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht und dass der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt (vgl. OVG NRW, B.v. 27.4.2016 – 13 A 854/16.A – juris, Rn.8). Wann eine solche Prägung anzuerkennen ist, lässt sich nicht allgemein beschreiben. Nach dem aus der Gesamtheit des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens gewonnenen Eindruck muss sich der Schutzsuchende aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis gelöst und dem anderen Glauben zugewandt haben. Hat er eine christliche Religion angenommen, genügt es im Regelfall nicht, dass der Schutzsuchende lediglich formal zum Christentum übergetreten ist, indem er getauft wurde. Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Schutzsuchenden sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dabei kann von einem erwachsenen Schutzsuchenden erwartet werden, dass er schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für seine Konversion machen kann und mit den Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist (vgl. BVerfG, B.v. 3.4.2020 – 2 BvR 1838/15 – juris, Rn. 36 f.; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris, Rn. 31 und B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – juris, Rn. 14). Überdies wird regelmäßig nur dann anzunehmen sein, dass der Konvertit ernstlich gewillt ist, seine christliche Religion auch in seinem Heimatstaat auszuüben, wenn er seine Lebensführung bereits in Deutschland dauerhaft an den grundlegenden Geboten der neu angenommenen Konfession ausgerichtet hat (vgl. OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris, Rn. 39 f.).
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Bei iranischen Asylsuchenden ist davon auszugehen, dass zum Christentum konvertierten ehemaligen Muslimen bei einer Rückkehr in den Iran nicht schon wegen ihres formalen Glaubenswechsels, sondern erst bei einem ernst gemeinten, der inneren Überzeugung folgenden Glaubenswechsel eine rechtserhebliche Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG droht. Denn nur in letzterem Fall ist davon auszugehen, dass sie auch nach einer Rückkehr in den Iran entsprechend ihren Glaubensvorstellungen leben und sich dadurch – nach den Umständen des Einzelfalls – einer Verfolgung durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Akteure aussetzen, respektive unter dem Druck der Verfolgungsgefahr in unzumutbarer Weise auf die Glaubensbetätigung erzwungener Maßen verzichten. Zum Christentum konvertierte iranische Staatsangehörige haben bei einer Rückkehr in den Iran nur im Falle des Auslebens des christlichen Glaubens, nicht aber bei unerkannt gebliebener Konversion und anonymer, jedenfalls unauffälliger und insbesondere nicht mit Missionierung verbundener Religionsausübung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit schutzrelevante Konsequenzen zu befürchten (OVG NRW, U.v. 6.9.2021 – 6 A 139/19.A – juris Rn. 60 – 62).
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1.2. In Anwendung dieser Maßstäbe ist der Einzelrichter unter Würdigung des Akteninhalts und nach der persönlichen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) davon überzeugt, dass die Klägerin sich ernsthaft dem Christentum zugewandt hat und die geltend gemachten christlichen Aktivitäten von einer identitätsprägenden Glaubensüberzeugung getragen werden.
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Dabei kann hier offenbleiben, ob die Klägerin bereits vor ihrer Ausreise aus dem Iran wegen Konversion von Akteuren im Sinne des § 3c AsylG verfolgt wurde, ohne dass sie im Iran internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG hätte erlangen können. Denn die Klägerin hat jedenfalls in Deutschland den christlichen Glauben angenommen. Auch wenn sie ihn erst nach ihrer Ankunft in Europa angenommen haben sollte, stünde dies einer Berufung auf eine Verfolgung aus diesem Grund nicht entgegen.
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Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Asylantragsteller das Herkunftsland verlassen hat. Das kann nach dieser Vorschrift insbesondere ein Verhalten sein, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Aus der Formulierung „insbesondere“ folgt, dass es nicht zwingend erforderlich ist, dass die Überzeugung schon im Heimatland bestanden hat. Das Gericht berücksichtigt, dass nach dem Sinn und Zweck des § 28 AsylG die Berufung auf Nachfluchttatbestände insofern eine Sonderstellung innerhalb der Asylgründe hat, als eine Berufung auf Umstände, die der Schutzsuchende nach der Ausreise aus eigenem Entschluss geschaffen hat, nur eingeschränkt möglich sein soll. Anders als § 28 Abs. 1 AsylG, der nur auf das Asylrecht aus Art. 16a GG Bezug nimmt, bezieht sich § 28 Abs. 1a AsylG ausdrücklich auf die §§ 3 und 4 AsylG. Ein Glaubenswechsel aus eigenem Entschluss nach der Ausreise steht einer Berufung auf diesen Umstand als Grund einer künftigen Verfolgung im Heimatland daher nicht entgegen.
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Die Zuwendung zum Christentum ist glaubhaft. Zunächst wurde die Klägerin in Deutschland am 10. Juni 2018 getauft. Seit ihrer Einreise im April 2018 engagiert sich die Klägerin – aufgrund ihrer Umzüge – in unterschiedlichen evangelischen Pfarrgemeinden und hat hierüber während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens wiederholt Bescheinigungen der jeweiligen Pfarrgemeinden vorgelegt. Zuletzt wurden insbesondere Nachweise bzw. Bescheinigungen der Evangelischen Kreuzkirchengemeinde in … vom 30. November 2023 vorgelegt, die ein reges kirchliches Engagement der Klägerin und eine entsprechende innere Haltung derselben bezeugen. So wird ihr in der benannten Bescheinigung der evangelischen Kreuzkirchengemeinde … bestätigt, dass sie die Gottesdienste besuche und die Bibel lese. Auch engagiere sie sich beim Gemeindefest. Als diakonischen Ausdruck ihres christlichen Glaubens helfe sie ehrenamtlich im zentralen Sachspendenlager … und fördere die Integration der Flüchtlinge in der Kirchengemeinde.
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Die Klägerin hat zudem individuell und überzeugend in der mündlichen Verhandlung ihren Glauben dargelegt. In ihren Ausführungen konnte eine tiefgreifende religiöse Einstellung erkannt werden, die zudem von einer westlich geprägten Grundeinstellung – insbesondere mit Blick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau – getragen ist. Sie konnte erklären, was sie persönlich mit ihrem Taufspruch (Psalm 23) verbindet. Es war der Klägerin zudem ein Bedürfnis ihren Weg zum christlichen Glauben durch eine Bezugnahme auf eine Änderung ihrer Persönlichkeit hin zu einer ruhigeren und gelasseneren Person zu schildern. Sie bezog sich auf ihre Jugend, in der sie sehr aufbrausend gewesen sei und sie die Diskriminierung von Frauen im Iran habe erleben müssen. Erst durch den christlichen Glauben habe sie einen Wert der Frau erfahren dürfen. In Deutschland hat sich der christliche Glauben bei der Klägerin verfestigt und stellt einen Teil ihrer Persönlichkeit dar. Regelmäßige Termine in der Gemeinde nimmt sie auch unter der Woche trotz beruflicher Verpflichtungen war. So gab sie an, sich für die Teilnahme an einer Bibelstunde in persischer Sprache beruflich frei zu nehmen.
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Deshalb ist der Einzelrichter ferner davon überzeugt, dass es für die Klägerin wesentlich ist, auch im Iran in Gemeinschaft mit Christen zusammen zu sein und beten zu können. Selbst ein unter dem Druck drohender Verfolgung erzwungener Verzicht auf eine Glaubensbetätigung würde für die Klägerin eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG darstellen, weil ihre Glaubensbetätigung für sie ein zentrales Element ihrer religiösen Identität bildet und daher für sie unverzichtbar ist. Die gebildete Klägerin ist nach dem Eindruck des Einzelrichters eine Christin mit westlichen Wertvorstellungen.
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2. Nach allem kann dahingestellt bleiben, ob der Klägerin auch ein Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zusteht. Die diesbezüglichen Ziffern 3 und 4 des angefochtenen Bescheids gehen für sie ins Leere und sind klarstellungshalber aufzuheben.
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Die Folgeentscheidungen in Ziffern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids entbehren dagegen wegen der Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 83c AsylG i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG einer rechtlichen Grundlage und sind deshalb wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.