Titel:
Türkischer Staatsangehöriger, Antrag auf Abänderung eines ablehnenden Eilbeschlusses, Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Duldung ohne den Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ und auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, Antrag auf einstweilige Anordnung, zumutbare Handlungen hinsichtlich der Passbeschaffung, Zumutbarkeit der Durchführung eines Gerichtsverfahrens im Herkunftsland, Prozesskostenhilfe
Normenketten:
VwGO § 123 i.V.m. § 80 Abs. 7
AufenthG § 60a, § 60b
ZPO § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff.
Schlagworte:
Türkischer Staatsangehöriger, Antrag auf Abänderung eines ablehnenden Eilbeschlusses, Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Duldung ohne den Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ und auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, Antrag auf einstweilige Anordnung, zumutbare Handlungen hinsichtlich der Passbeschaffung, Zumutbarkeit der Durchführung eines Gerichtsverfahrens im Herkunftsland, Prozesskostenhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2024, 43179
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Abänderung des Beschlusses vom 19. Juli 2024 (Au 6 E 24.1206), mit welchem sein Antrag nach § 123 VwGO auf Ausstellung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG und Neuverbescheidung einer Beschäftigungserlaubnis abgelehnt wurde.
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Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und sunnitischer bzw. islamischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 12. Dezember 2017 in das Bundesgebiet ein, wo er erfolglos ein Asylerst- (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bescheid v. 13.4.2018; VG Augsburg, U.v. 28.7.2020 – Au 6 K 18.30794; BayVGH, B.v. 27.10.2020 -... ) und ein Asylfolgeverfahren (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bescheid v. 22.3.2021; VG Augsburg, B.v. 11.5.2021 -Au 3 S 21.30364; B.v. 24.6.2021 -Au 3 S 21.30543; B.v. 22.7.2021 – Au 3 E 21.30673, U.v. 18.12.23 -Au 3 K 21.30363; BVerfG, B.v. 21.9.2021 – ... ) durchlief.
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Mit Strafbefehl vom 2. Februar 2022 wurde der Antragsteller vom Amtsgericht ... wegen unerlaubten passlosen Aufenthalts zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt (...).
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Dem Antragsteller wurden nach Abschluss des Asylerstverfahrens zunächst Duldungen nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt. Von Dezember 2021 bis August 2023 wurden ihm Duldungen nach § 60b Abs. 1 AufenthG als Person mit ungeklärter Identität erteilt, da er nach Ansicht des Antragsgegners nicht nachgewiesen habe, dass er alles ihm Zumutbare zur Beschaffung eines Pass(ersatz) papiers getan habe. Von August 2023 bis März 2024 wurden dem Antragsteller nach erfolgreichem Klage- bzw. Eilantragsverfahren (VG Augsburg, U.v. 21.6.2023 – Au 6 K 22.2302; B.v. 31.7.2023 – Au 6 E 23.713; BayVGH, B.v. 22.8.2023 und 30.8.2023 – ... ; B.v. 22.9.2023 – ... ; B.v. 10.10.2023 – ... ) erneut Duldungen nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt, da das Asylfolgeverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und somit der Ausschlussgrund des § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG einschlägig war. Seit dem 12. März 2024, also seit dem rechtskräftigen Abschluss des Asylfolgeverfahrens, wurden dem Antragsteller wieder Duldungen nach § 60b Abs. 1 AufenthG erteilt.
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Der Antragsteller wurde während seines Aufenthalts im Bundesgebiet mehrfach und regelmäßig (zuletzt mit Schreiben vom 6. März 2024) auf seine Pflichten bei der Passbeschaffung hingewiesen. Der Antragsteller legte im Rahmen des umfangreichen Verfahrens Nachweise über Termine beim türkischen Generalkonsulat, eine E-Mail-Konversation mit dem türkischen Generalkonsulat ... über eine bestehende Passerteilungssperre aufgrund eines Sperrvermerks des türkischen Justizministeriums sowie mehrere aus dem Türkischen übersetzte Unterlagen seiner Rechtsanwältin in der Türkei sowie der dortigen Amtsgerichte ... und ... vor. Aufgrund des Vorbringens des Antragstellers forderte der Antragsgegner diesen im Verfahrensverlauf auf darzulegen, welche Maßnahmen er unternommen habe, um an Informationen zu gelangen, wie er von Deutschland aus den Sperrvermerk beseitigen könne bzw. zuletzt, den Sperrvermerk beseitigen zu lassen.
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Mit Bescheid vom 3. Mai 2024 wurde ein zuvor gestellter Antrag des Bevollmächtigten auf Beschäftigungserlaubnis abgelehnt. Zur Begründung führt der Antragsgegner aus, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Besitz einer Duldung nach § 60b AufenthG sei und dem Antrag daher ein zwingendes Beschäftigungsverbot entgegenstehe. Es lägen keine über die mündliche Aussage des Antragstellers (Strafverfahren in der Türkei) hinausgehende Nachweise zu den Hintergründen eines Sperrvermerks, der der Passerteilung mutmaßlich entgegenstehe, vor. Zwar sei der Antragsteller immer wieder beim Generalkonsulat ... vorstellig; es sei jedoch nicht erkennbar, dass er zielgerichtet die Beseitigung des Sperrvermerks angehe.
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Mit Schriftsatz vom 17. Mai 2024 ließ der Kläger anlässlich dieses Bescheids Klage erheben (Au 6 K 24.1205), über welche noch nicht entschieden wurde. Ein zugleich gestellter Eilantrag nach § 123 VwGO auf Ausstellung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG und Neuverbescheidung einer Beschäftigungserlaubnis (Au 6 E 24.1206) wurde durch das Gericht mit Beschluss vom 19. Juli 2024 abgelehnt. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG glaubhaft gemacht habe, da trotz mehrfacher Aufforderungen, Belehrungen und Hinweise nicht alle erforderlichen und zumutbaren Handlungen durch den Antragsteller ergriffen worden seien. Insbesondere sei es nach summarischer Prüfung zumindest zumutbar, die Hinderungsgründe der Passausstellung, ggf. über den türkischen Anwalt, auszuräumen bzw. in die Wege zu leiten. Es liege an ihm, im Innenverhältnis zwischen Herkunftsstaat und Staatsbürger die nötigen Schritte zu unternehmen.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragt mit Schriftsatz vom 13. September 2024 nun im Verfahren nach § 123 VwGO:
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1. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19.07.2024 wird aufgehoben.
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2. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Zusatz „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“ in den dem Kläger ab 12.03.2024 erteilten Duldungen zu streichen und den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen und den Antrag des Klägers hinsichtlich der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis neu zu verbescheiden.
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Der Antragsteller begehrt für dieses Verfahren zudem Prozesskostenhilfe. Zur Begründung führt er aus, dass der Antragsteller seit der Entscheidung vom 19. Juli 2024 einerseits über seinen Anwalt in der Türkei Klage beim Verwaltungsgericht ... eingereicht habe, andererseits am 20. August 2024 im Rahmen der Rechtshilfe beim Amtsgericht ... (... ) vernommen worden sei. Daher habe der Antragsteller nun alles für erforderlich Gehaltene getan, um seine Passlosigkeit zu beseitigen.
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Der Beklagte beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung führt er aus, dass ein aktueller Auszug aus dem UYAP-System ebenso wenig vorliege, wie eine nachvollziehbare Erklärung über den Verbleib des alten Passes. Zudem gebe es Unstimmigkeiten in Bezug auf die beim Verwaltungsgericht ... eingereichte Klage, da diese auf eine Entscheidung vom 3. Juli 2024 des Ministeriums ... Bezug nehme, der Sperrvermerk jedoch bereits länger bestehe. Auf den Fahndungslisten des türkischen Innenministeriums tauche der Antragsteller nicht auf. Weitere Unstimmigkeiten gebe es in Bezug auf die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Antragsteller. Er zeige auch keine Bereitschaft darzulegen, was ihm konkret vorgeworfen werde. Im Hinblick auf die in der Türkei eingereichte Klage fehlten wesentliche Unterlagen zum konkreten Klagegegenstand. In der Gesamtschau sei daher nach wie vor § 60b AufenthG die korrekte Rechtsgrundlage.
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Mit Schreiben vom 23. September 2024 forderte das Gericht den Antragsteller zur Vorlage eines aktuellen UYAP-Auszugs, des Originals eines türkischen Dokuments vom 3. Juli 2024, amtliche Übersetzungen verschiedener Dokumente sowie dem Protokoll der Vernehmung im Rechtshilfeverfahren auf und bat um Mitteilung des Verbleibs des zwischenzeitlich abgelaufenen Passes des Antragstellers.
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Mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2024 legte der Bevollmächtigte des Antragstellers einen Ausdruck des türkischen Dokuments vom 3. Juli 2024 vor, welches von einer in ... lebenden Übersetzerin aus dem System E-Devlet heruntergeladen worden sei. Zudem wurde das Protokoll des Amtsgerichts ... (... ) vom 20. August 2024 über die Anhörung des Antragstellers im Rahmen der Rechtshilfe wegen Fälschung eines offiziellen Dokuments vorgelegt, welches sich auf ein strafrechtliches Verfahren der Oberstaatsanwaltschaft ... mit der Anklageschrift-Nummer … bezog.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 15. Oktober 2024 legte der Bevollmächtigte des Antragstellers Übersetzungen folgender Dokumente vor:
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- Informationsformular des Verwaltungsgerichts ... vom 3. September 2024 zum Verfahren …, wonach am 3. September 2024 ein Verfahren zu Passangelegenheiten eingereicht wurde, nachdem das Verwaltungsgericht ... unzuständig gewesen sei. Die angestrebte Maximaldauer des Verfahrens betrage 292 Tage.
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- Schreiben des Gouverneursamts ... vom 3. Juli 2024, wonach hinsichtlich eines Antrags vom 3. Juli 2024 mit dem Zeichen ... das zentrale Meldeverwaltungssystem abgefragt worden sei. Aufgrund zweier gerichtlicher Entscheidungen (Amtsgericht ... – Aktenzeichen … und Landgericht ... – Aktenzeichen …... ) liege ein Verbot der Ausreise ins Ausland vor.
20
- Klage- und Antragsschrift der türkischen Rechtsanwältin D. E. vom 3. August 2024 an das Verwaltungsgericht ... gegen die Entscheidung der Direktion für Meldewesen und Staatsangehörigkeit ... mit dem Zeichen ... vom 3. Juli 2024, zugestellt am 3. Juli 2024, nebst Prozesskostenhilfegesuch.
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- Schreiben der türkischen Rechtsanwältin vom 9. Juli 2024 zur Vorlage beim Gericht in Deutschland, wonach ein Strafverfahren wegen Verherrlichung und Unterstützung der Terrororganisation PKK sowie Beleidigung eines Amtsträgers gegen den Antragsteller vorliege. Als Gesamtstrafe sei eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren zu erwarten. Die Strafverfahren seien der Grund für die Nichtausstellung von Passpapieren.
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Mit Schriftsatz vom 18. November 2024 legte der Antragsgegner ein türkisches Dokument vor, welches ihm vom Antragsteller übergeben worden sei. Zugleich betonte er erneut, dass Nachweise fehlen würden, um den nötigen Kausalzusammenhang zwischen Strafvorwürfen und Passausstellungsbemühungen belegen zu können. Ein Strafregisterauszug würde benötigt, da nur so nachgewiesen werden könne, ob rechtskräftige Verurteilungen vorlägen. Der Auszug aus dem UYAP-System solle offene Strafverfahren belegen.
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Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der im vorangegangenen Eilverfahren (Au 6 E 24.1206) vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 123 VwGO bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist als Abänderungsantrag hinsichtlich des vorangegangenen Beschlusses (VG Augsburg, B.v. 19.7.2024 – Au 6 E 24.1206) analog § 80 Abs. 7 VwGO zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Antragsteller hat im entscheidungserheblichen Zeitpunkt weiterhin keinen Anordnungsanspruch hinsichtlich einer Duldung nach § 60a AufenthG ohne den Zusatz „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“ glaubhaft gemacht.
26
a) Maßgeblicher Zeitpunkt zur Entscheidung über die Sach- und Rechtslage ist derjenige der gerichtlichen Entscheidung. Änderungen gegenüber dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt im vorangegangenen Beschluss können analog § 80 Abs. 7 VwGO geltend gemacht werden und sind nicht durch die ebenfalls statthafte Beschwerde nach § 146 VwGO hiergegen ausgeschlossen. Erst eine eingelegte Beschwerde würde das Beschwerdegericht zum Gericht der Hauptsache machen.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
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Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO).
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b) Ein Anordnungsanspruch wurde in diesem Zeitpunkt nicht glaubhaft gemacht.
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aa) Nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird die Duldung im Sinne des § 60a AufenthG als „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“ erteilt, wenn die Abschiebung aus von der betreffenden Person selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil sie (unter anderem) zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht vornimmt. Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der keinen gültigen Pass besitzt, verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. Dies gilt gem. § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht für Ausländer ab der Stellung eines Asylantrags oder eines Asylgesuches bis zur rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrages sowie für Ausländer, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt, es sei denn, das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG beruht allein auf gesundheitlichen Gründen. In § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist beschrieben, was dem Ausländer in diesem Sinn regelmäßig zumutbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2021 – 10 C 21.502 – juris Rn. 8). Der Ausländer ist auf diese Pflichten hinzuweisen. Sie gelten als erfüllt, wenn der Ausländer glaubhaft macht, dass er die Handlungen nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorgenommen hat.
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bb) Der nach § 50 Abs. 1 AufenthG und § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller hat nach summarischer Prüfung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weiterhin nicht glaubhaft gemacht, dass er die erforderlichen und ihm zumutbaren Handlungen vorgenommen hat.
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(1) Der Antragsgegner hat den Antragsteller regelmäßig, nach den Behördenakten zuletzt am 6. März 2024, darauf hingewiesen, dass er an der Ausstellung eines Passes mitzuwirken und die Behandlung eines Antrags durch die Behörden seines Heimatlandes zu dulden habe. Im Rahmen der Duldungsverlängerung am 12. März 2024 wurde er laut Aktennotiz ergänzend durch den Antragsgegner konkret belehrt, dass er die Hinderungsgründe zur Passausstellung beseitigen solle. Mit E-Mail vom selben Tag äußerte sich der Antragsgegner ähnlich gegenüber dem Bevollmächtigten des Antragstellers. Weitere konkrete Aufforderungen fanden auch schon zuvor statt, so z.B. mit E-Mail des Antragsgegners an den Antragsteller vom 9. Oktober 2023 oder auch gemäß Aktennotiz im Rahmen einer Vorsprache am 5. Mai 2023.
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(2) Der ernsthafte, zielgerichtete und abgeschlossene Versuch der Beseitigung des Sperrvermerks in den türkischen Verwaltungssystemen kann als Mitwirkungshandlung durch den Antragsteller auch gefordert werden. Zwar handelt es sich bei der Beseitigung des Sperrvermerks zur Ausstellung eines Reisepasses nicht um eine Mitwirkungshandlung nach § 60b Abs. 3 AufenthG, sie findet ihre Rechtsgrundlage jedoch in § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG als allgemeine, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbare Handlung. § 60b Abs. 3 AufenthG ist nicht als abschließender Katalog zu betrachten (Wittmann, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 19. Edition, Rn. 56 zu § 60b AufenthG). Dass grundsätzlich auch Handlungen mit Bezügen zu anderen Rechtsgebieten verlangt werden können, die zumindest mittelbar der Passbeschaffung dienlich sind, zeigt sich dabei bereits anhand der Regelung des § 60b Abs. 3 Nr. 4 AufenthG, welcher Bezüge zum Wehrrecht des Herkunftsstaats als zulässig ansieht. Daher kann es dem Antragsgegner auch nicht verwehrt sein, Mitwirkungshandlungen mit Bezügen zum Straf- und Verwaltungsrecht zu verlangen. Es kann zudem grundsätzlich verlangt werden, eventuelle Ansprüche gerichtlich durchzusetzen (Wittmann, a.a.O., Rn. 56.1 zu § 60b AufenthG).
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(3) Die vom Antragsgegner verlangte Mitwirkungshandlung wurde durch den Antragsteller zwar begonnen, aber noch nicht abgeschlossen.
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Der Begriff der Handlungen im Sinne des § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG beschränkt sich nicht ausschließlich auf singuläre zeitliche Ereignisse wie die Abgabe einer Erklärung oder die Einreichung einer Klageschrift, sondern umfasst auch länger andauernde, aber abgrenzbare Handlungen wie etwa die vollständige Durchführung eines Klageverfahrens im Herkunftsstaat. Der Gesetzgeber hat in § 60b Abs. 3 AufenthG regelmäßig zumutbare Handlungen beschrieben, welche dieser Auslegung entsprechen und somit auch im Rahmen des § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. So sind Vorsprachen oder Anhörungen nach § 60b Abs. 3 Nr. 2 AufenthG regelmäßig zuerst zu vereinbaren und können sich nach der Wartezeit auf den Termin gegebenenfalls über mehrere Tage erstrecken. Auch die Abgabe einer Erklärung an sich oder die Zahlung von Gebühren nach § 60b Abs. 3 Nr. 5 AufenthG kann schrittweise erfolgen. Es wäre mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht zu vereinbaren, wenn jede unselbständige Teilhandlung wie die bloße Einreichung einer Klageschrift oder aber die Teilnahme an einem Äußerungstermin im Rahmen der Rechtshilfe bereits als ausreichend angesehen würde. § 60b AufenthG soll nämlich Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, jedoch keinen Pass oder Passersatz des Heimatlandes besitzen, dazu anhalten, sich um einen Pass oder Passersatz zu bemühen und hierbei auf eine Erfüllung der Rechtspflicht hinwirken (BT-Drs. 19/10047, S. 37). Dem Gesetzgeber geht es nicht bloß um die Handlungsvornahme, sondern vor allem um den zu erzielenden Handlungserfolg. Der gesetzgeberischen Intention wäre jedoch nicht entsprochen, wenn ein Betroffener sich durch einzelne, singuläre Teilhandlungen jeweils kurz vor Ablauf des Duldungszeitraums in die Heilung nach § 60b Abs. 4 AufenthG flüchten könnte (vgl. Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, 138. AL, Rn. 71 zu § 60b AufenthG).
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Dabei wird nicht verkannt, dass der Antragsteller seit dem gerichtlichen Beschluss vom 19. Juli 2024 erstmals zielgerichtete Schritte zur Beseitigung des wohl zentralen Ausstellungshindernisses – die mutmaßlich offenen Strafverfahren und dessen Entgegenhaltung im Verwaltungsrecht – unternommen und daher entsprechend des Beschlusses nun im Innenverhältnis zwischen sich und der türkischen Republik – Staatsbürger und Herkunftsstaat – die nötigen Schritte zwischenzeitlich eingeleitet hat. So hat er einerseits eine (erste) Aussage zu einer von der Oberstaatsanwaltschaft ... initiierten Anklageschrift vor dem Amtsgericht ... gemacht und andererseits eine Klage nebst Antrag auf verwaltungsrechtliche Beseitigung der Erteilungssperre beim Verwaltungsgericht ... eingereicht. Da der Versuch der Beseitigung des Sperrvermerks in den türkischen Verwaltungssystemen jedoch zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt dieses Beschlusses noch nicht beendet ist, ist die Mitwirkungshandlung noch nicht erfüllt.
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(4) Anzeichen dafür, dass die begonnene, aber noch nicht abgeschlossene Mitwirkungshandlung der Beseitigung des Sperrvermerks nicht erfolgversprechend und damit im Einzelfall nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG unzumutbar wäre, bestehen derzeit nicht. In der Rechtsprechung wird grundsätzlich vermutet, dass mögliche Mitwirkungshandlungen grundsätzlich erfolgversprechend sind (BVerwG, U.v. 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 20; Wittmann, a.a.O., Rn. 56.1 zu § 60b AufenthG). Etwas Anderes würde im vorliegenden Einzelfall beispielsweise dann gelten, wenn ein Gericht oder eine Behörde des Herkunftsstaats ein Verfahren nicht bearbeitet, dessen Bearbeitung wesentlich verzögert oder im Verfahren von vornherein mit unzumutbar langen Bearbeitungszeiten zu rechnen wäre. Da hierfür derzeit keine Anhaltspunkte bestehen, ist die Vermutung im vorliegenden Fall zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt dieses Beschlusses nicht widerlegt. So hat das türkische Verwaltungsgericht ... den Eingang der Klage am 3. September 2024 bestätigt und die angestrebte Maximaldauer des Verfahrens mit 292 Tagen angegeben. Die türkische Bevollmächtigte des Antragstellers hat zudem einen Antrag auf vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung und somit einen Eilantrag nach türkischem Recht gestellt. Zugleich hat auch das Strafverfahren des Antragstellers durch seine Anhörung vom 20. August 2024 in ... erst kürzlich einen Fortgang erfahren. Das Verfahrenshindernis des abwesenden und nicht zu den erhobenen Vorwürfen gehörten Angeklagten ist daher entfallen. Es liegen dagegen keine Indizien vor, die auf eine Verzögerung schließen lassen.
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cc) Im entscheidungserheblichen Zeitpunkt hat der Antragsteller auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 4a Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 32 BeschV bzw. ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung glaubhaft gemacht.
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Begründung des vorangegangenen Beschlusses Au 6 E 24.1206 verwiesen. An der zu Grunde liegenden Sach- und Rechtslage hat sich seither nichts verändert. Insbesondere konnte der Antragsteller nach summarischer Prüfung weiterhin keinen Anordnungsanspruch für die Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG glaubhaft machen (s.o.).
40
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten ist unbegründet, weil im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach summarischer Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
42
1. Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verfehlen (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – juris Rn. 10), eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt (Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist im Verfahren ohne Vertretungszwang immer geboten, wenn es in einem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende Tat- und Rechtsfragen geht (Eyermann, a.a.O., Rn. 38).
43
2. Nach diesen Grundsätzen war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung abzulehnen, weil die Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweilige Anordnung nach summarischer Prüfung keinen hinreichenden Erfolg versprechen. Es wird vollumfänglich auf die Ausführungen unter Ziff. II. verwiesen.