Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 18.12.2024 – W 3 K 21.31042
Titel:

Asyl, Herkunftsland Äthiopien, Oromo, Vorverfolgung (als wahr unterstellt), Vorstand in der Qeerroo-Bewegung 2015 und 2016, alleinstehender Mann, Herkunftsgebiet Bale-Robe, Oromia

Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG § 11
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland Äthiopien, Oromo, Vorverfolgung (als wahr unterstellt), Vorstand in der Qeerroo-Bewegung 2015 und 2016, alleinstehender Mann, Herkunftsgebiet Bale-Robe, Oromia
Fundstelle:
BeckRS 2024, 43045

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

I.
1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben äthiopischer Staatsangehöriger oromischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit und am ... geboren. Er reiste 2016 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, welcher gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde. Im März 2017 wurde der Kläger auf Grundlage der Dublin III-VO nach Italien überstellt. Nach erneuter Einreise in die Bundesrepublik Deutschland stellte der Kläger am 13. Dezember 2018 erneut einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Auch dieser Antrag wurde zunächst mit Verweis auf die Zuständigkeit Italiens mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 8. Januar 2019 abgelehnt. Nachdem der Kläger nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Überstellungsfrist nach Italien überstellt werden konnte, wurde dieser Bescheid mit Bescheid des Bundesamts vom 2. Juli 2021 aufgehoben und das Asylverfahren in der Zuständigkeit Deutschland durchgeführt.
2
In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 4. August 2021 gab der Kläger an, mit seinen Eltern und seinem Bruder in der Stadt Bale-Robe (Region Oromia, Zone Bale, Distrikt Sinana) gelebt zu haben. Außerdem habe er noch fünf Schwestern. Seine Eltern und Geschwister lebten noch in Bale-Robe. Er habe noch Kontakt zu ihnen; sie verstünden sich gut. Er habe noch weitere Verwandte in Äthiopien; manche lebten normal, manche seien im Gefängnis. Das Leben für seine Eltern und seine Geschwister sei schwierig. Seine Eltern seien Bauern. Die Stadt habe ihnen ein Haus weggenommen. Sie hätten aber noch ein anderes Haus, in dem sie jetzt lebten. Er habe Äthiopien 2016 verlassen. Vor seiner Ausreise sei seine wirtschaftliche Situation durchschnittlich gewesen. Zu seinem Bildungs- und Berufsstand gab er an, die Schule bis zur zehnten Klasse besucht zu haben. Er habe auf den Feldern der Familie gearbeitet, aber auch bei anderen Bauern. Zu seinen Fluchtgründen trug der Kläger vor, er habe sich 2015 und 2016 für die Bewegung Qeerroo engagiert. Er sei dort Vorstand gewesen. Er habe demonstriert, unter anderem auch dagegen, dass seiner Familie ein Grundstück weggenommen worden sei. Insgesamt habe er an drei Demonstrationen teilgenommen. Er habe die Termine der Demonstrationen organisiert, also wann diese stattfänden. Er habe dann auch als normaler Teilnehmer an den Demonstrationen teilgenommen. Es seien immer mehr als 100 Menschen dabei gewesen. Auf einer Demonstration sei er von der Polizei beinahe verhaftet worden, habe aber fliehen können. Er sei zu Verwandten in Shashamane. Die Polizei habe nach ihm gesucht. Sie habe ihm auch seine Ausweisdokumente weggenommen. Er habe auch in Deutschland an Demonstrationen teilgenommen. Zudem herrsche in Äthiopien Krieg; im Moment könne man dort nicht leben. Des Weiteren gab er an, er habe Asthma und nehme deshalb ein Nasenspray. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift der Anhörung verwiesen.
3
Der Kläger legte im Asylverfahren einen Arztbericht einer HNO-Ärztin vom 2. September 2021 vor, die folgende Diagnose enthält:
Rhinitis vasomotorica bds (J30.0GB).
V. a. chronische Sinusitis (J32.9V).
4
Ausweislich eines weiteren von ihm vorgelegten ärztlichen Attests vom 3. September 2021 ist der Kläger arbeitsfähig.
5
Mit Bescheid vom 30. September 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1 des Bescheids), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab. Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung nach Äthiopien zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid und seine Begründung Bezug genommen.
II.
6
Hiergegen hat der Kläger am 14. Oktober 2021 Klage erhoben.
7
Er führt unter Bezugnahme auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren aus, sein Heimatland wegen seiner Stellung bei Queero aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen zu haben. Unterstützer und/oder Mitglieder von oppositionellen Parteien würden in Äthiopien verfolgt und auch getötet. Die Verfolgung aus politischen Gründen nehme bereits seit 2019 wieder zu. Es gebe aktuell offensichtlich eine Verfolgung andersdenkender Menschen durch äthiopische Sicherheitskräfte bzw. Regierungsmitglieder ohne jegliche rechtsstaatlichen Strukturen; jeder könne aufgrund einer vermeintlichen Unterstützung für die OLF oder OLA einer Verfolgung ausgesetzt sein. Zudem sei die Lage in Äthiopien äußerst volatil und es könne jederzeit in jeglicher Region Äthiopiens zu weiteren Kämpfen und Konflikten kommen. Es komme aktuell faktisch landesweit zu Kämpfen unterschiedlicher Parteien und im Verbund hierzu zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere in Oromia und Amhara. Die Androhung einer Abschiebung sei jedenfalls wegen Verstoßes gegen Art. 1 und 2 GG und Art. 3 EMRK unzulässig, da diese zumindest zu Gefahren für Leib, Leben und Freiheit des Klägers führen würde. In Äthiopien herrsche eine katastrophale wirtschaftliche und humanitäre Situation. Die Kriege bzw. Kämpfe sowie Dürren und Flutkatastrophen hätten die Lage weiter verschlechtert. Aktuell werde Äthiopien zudem von einer Choleraepidemie heimgesucht. Hinzu komme ein Masernausbruch in Oromia mit zahlreichen Todesopfern sowie eine Malariaepidemie. Zur Untermauerung seiner Ausführungen verweist der Kläger auf verschiedene Erkenntnismittel. Insoweit wird auf den klägerischen Schriftsatz vom 29. November 2024 Bezug genommen.
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Er beantragt,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. September 2021 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
höchsthilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen,
höchsthilfsweise die Ziffer 6 des Bescheids vom 30. September 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung nimmt sie auf die streitgegenständliche Entscheidung Bezug.
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Mit Beschluss vom 2. April 2024 ist der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
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In der mündlichen Verhandlung am 6. Dezember 2024 ist der Kläger zu den Gründen, aus denen er im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien eine Verfolgung befürchtet, sowie zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen informatorisch angehört worden. Insoweit wird wegen der klägerischen Angaben auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14
Die Entscheidung ergeht durch die Einzelrichterin, nachdem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen hat.
15
Gemäß § 102 Abs. 2 VwGO konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ohne sie verhandelt und entschieden werden; hierauf ist bei der Ladung hingewiesen worden.
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts erweist sich im angegriffenen Umfang im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger stehen die von ihm geltend gemachten Ansprüche nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Dies würde voraussetzen, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb Äthiopiens befindet (§ 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG). Hieran fehlt es sowohl hinsichtlich der vorgetragenen Vorflucht- als auch hinsichtlich der vorgetragenen Nachfluchtgründe.
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Der Kläger trägt vor, Äthiopien vorverfolgt verlassen zu haben. Er habe sich in Äthiopien in den Jahren 2015 und 2016 für die Bewegung Qeerroo engagiert, sei in der Bewegung Vorstand gewesen und habe an Demonstrationen teilgenommen. Die äthiopische Polizei habe deshalb nach ihm gesucht und habe seine Ausweisdokumente weggenommen. Zudem drohe ihm Verfolgung durch die äthiopische Regierung mit Blick auf seine Unterstützung von Oromo-Angelegenheiten sowie deshalb, weil ihm als Rückkehrer aus Europa unterstellt werde, die OLA zu unterstützen, obwohl dies nicht zutreffe.
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Damit hat der Kläger keine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG glaubhaft dargetan. Das Gericht ist davon überzeugt, dass ihm bei seiner Rückkehr nach Äthiopien keine Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift droht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich der Kläger auch auf eine Vorverfolgung beruft und Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert werden. Danach streitet für denjenigen, der bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
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Ausgehend hiervon kann offenbleiben, ob der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien aufgrund seines Engagements für Qeerroo und der Teilnahme an Demonstrationen bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob er deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu seinen Gunsten annimmt, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung.
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Ausgangspunkt für diese Annahme ist die Feststellung, dass seit dem Amtsantritt von Premierminister Abiy im Jahr 2018 eine Reihe von politischen und rechtlichen Änderungen in Äthiopien eingetreten sind. Nach seinem Amtsantritt im April 2018 hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt, altgediente EPRDF-Funktionsträger, insbesondere Mitglieder der TPLF, entmachtet und politische Gefangene aus der Haft entlassen. Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt. Zudem sind seit Anfang 2018 über 7.000 größtenteils offensichtlich aus politischen Gründen Inhaftierte freigelassen worden. Ein Führungsmitglied der seit Juli 2018 nicht mehr als Terrorgruppe angesehenen Organisation „Ginbot 7“ wurde begnadigt, die Anklage gegen den Ginbot 7-Chef wurde fallengelassen. Ein Amnestiegesetz wurde in Kraft gesetzt, welches Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze strafrechtlich verfolgt wurden, die Möglichkeit der Amnestie einräumte (vgl. AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2021, 14.6.2021, S. 8 f.). OLF, ONLF und G7 sind nicht mehr als terroristisch eingestuft. Die OLF wurde als Partei registriert. Im November 2019 beschloss die EPRDF die Auflösung des alten Bündnisses und die Umbenennung in (Ethiopian) Prosperity Party (PP). Die formelle Selbstauflösung der EPRDF erfolgte im Februar 2020 durch die Zulassung der PP durch die dafür zuständige Wahlkommission. Obwohl die OLF die Wahlen 2021 öffentlich boykottiert hatte, wurde OLF-Vizepräsident Kejela Merdasa Minister für Kultur und Sport. Mit Belete und Kejela wurden Oppositionsvertreter der beiden größten Volksgruppen, Oromos und Amharas, in die Regierung eingebunden. Im Übrigen ermöglichen die Entkriminalisierung oppositioneller Bewegungen und das deutlich gewandelte politische Klima politische Aktivitäten (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2023, 10.5.2023, S. 15; Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 16). Einige politische Exilgruppen sind daher seit dem Amtsantritt von Premierminister Abiy nach Äthiopien zurückgekehrt. Zuvor konnte die Betätigung für eine oppositionelle Organisation im Ausland bei Rückkehr nach Äthiopien zu staatlichen Repressionen führen. Dies hing vor allem davon ab, ob diese Organisation von der äthiopischen Regierung als Terrororganisation angesehen wurde, um welche Art exilpolitischer Aktivität es sich handelte (z. B. nachweisliche Mitgliedschaft, führende Position, Organisation gewaltsamer Aktionen) und ob und wie sich eine zurückgeführte Person nach ihrer Rückkehr in Äthiopien politisch betätigte (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 16).
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Bei den Protesten gegen die Regierung zwischen 2014 und 2018, die im Jahr 2018 in dem geschilderten Regierungswechsel mündeten, spielte die Bewegung Qeerroo eine wichtige Rolle (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 10, 27; Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 12 Fn. 10). Die Regierung ging mitunter gewaltsam gegen die Bewegung vor, was Tötungen, Festnahmen und Gewaltanwendungen beinhaltete (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 11). Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2018 ist die Bewegung praktisch von der politischen Bühne verschwunden und organisiert keine Proteste mehr; Aktuell gibt es keine Erkenntnisse über Aktivitäten der Bewegung (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 11, 27; Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 12 Fn. 10). Manche früheren Aktivisten der Bewegung erhielten zur Belohnung ihrer Treue zur neuen Regierung eine Position in der lokalen Verwaltung oder andere Vorteile, andere haben sich entschieden, sich von der Politik fernzuhalten, oder der OLA beizutreten (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 12, Fn. 10). Soweit davon berichtet wird, dass Streitkräfte der äthiopischen Regierung Qeerroo-Mitglieder verfolgen und hinrichten würden, erfolgten diese Maßnahmen vor dem Hintergrund tatsächlicher oder von der Regierung unterstellter Verbindungen der Betroffenen zur OLA. Betroffen hiervon waren insbesondere Oromo, die im Aktionsgebiet der OLA lebten, beispielsweise in Wallega oder Showa (ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 146 f.).
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass aufgrund des grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle in Äthiopien nicht angenommen werden kann, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund oppositioneller Betätigung im Heimatland oder exilpolitischer Betätigung für eine der OLF nahestehende Auslandsorganisation, z.B. TBOJ/UOSG, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind. Berichte über Verhaftungen und außergerichtlichen Tötungen im Zusammenhang mit sich verschärfenden Konflikten innerhalb Äthiopiens beziehen sich primär auf Mitglieder und Unterstützer von Milizen, die sich in bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Regierungsarmee befinden. Nachdem sich nach dem Regierungswechsel im Jahr 2018 der Umgang mit der Opposition – wie bereits ausgeführt – zunächst beruhigte und die Auslandsorganisation der OLF seit Juli 2018 nicht mehr als Terrororganisation in Äthiopien geführt wird (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 17), kam es in diesem Zusammenhang in Oromia in den letzten Jahren wieder vermehrt zur Unterdrückung von Oppositionellen und Oppositionsunterstützenden. Oppositionelle und Personen, die sich gegen die Regierung positionieren, können willkürlichen Verhaftungen bis hin zu Massenverhaftungen und außergerichtlichen Tötungen ausgesetzt sein (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 31). Hiervon sind indes in erster Linie Milizionäre und deren aktive Unterstützer betroffen, beispielsweise in Oromia Mitglieder der als terroristische Organisation eingestuften OLA (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 31; vgl. auch The Danish Immigration Service, COI Report Ethiopia, Oktober 2024, S. 45, Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 23; Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 51-54). Dem niederländischen Außenministerium zufolge sind aber Mitglieder und Unterstützende anderer in Oromia aktiver Oppositionen wie OFC und mittlerweile auch der OLF keiner Bedrohung durch die Regierung mehr ausgesetzt (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 31; Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 54), auch wenn das Verhältnis der gemäßigten OLF und der bewaffneten OLA im Einzelnen unklar ist (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 23). So berichtet das Bundesamt in seinem Länderreport 66, es werde mitunter nicht klar zwischen OLF- und OLA-Unterstützenden unterschieden (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 31). Der insoweit vom Bundesamt in Bezug genommenen Quelle (Landinfo) lässt sich entnehmen, dass sich Verhaftungen und außergerichtliche Tötungen gegen Personen richten, die von äthiopischen staatlichen Stellen dem OLA-Umfeld zugerechnet werden (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 23; ebenso Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 51, 53 f.). Mitglieder und Unterstützer politischer Oppositionsparteien wie OLF hingegen sind derartigen Maßnahmen nicht schon allein aufgrund ihrer politischen Aktivitäten besonders ausgesetzt. Insofern wirkt sich eine frühere oder aktuelle Aktivität oder Unterstützung der OLF für sich allein nicht gefahrerhöhend aus (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 23; Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 52, 54). Die bewaffnete und von der äthiopischen Regierung als terroristische Organisation eingestufte OLA ist formal von der gemäßigten, als politischen Partei registrierten OLF abgespalten. Die äthiopische Regierung bemüht sich, zwischen der OLF und der OLA zu differenzieren (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political oppostion in Oromia, 24.2.2023, S. 23), auch wenn sich insoweit mitunter Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben können und die Schwelle für die Einordnung einer Person als OLA-Unterstützer durch die äthiopische Regierung jedenfalls in Gebieten, in denen die OLA militärisch aktiv ist, niedrig anzusiedeln sein mag (Landinfo, Report Ethiopia – Armed conflict and political opposition in Oromia, 24.2.2023, S. 23-25; Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 51).
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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kann nicht angenommen werden, dass der äthiopische Staat dem Kläger heute noch wegen seiner von ihm behaupteten politischen Betätigung in Äthiopien in den Jahren 2015 und 2016 nachstellen könnte. Es kann daher dahinstehen, ob der diesbezügliche Vortrag des Klägers wahr ist.
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Ebenso wenig ergibt sich nach aktueller Auskunftslage die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund von Umständen nach der Ausreise des Klägers aus Äthiopien (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG). Die exilpolitische Betätigung des Klägers in Deutschland ist infolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nicht geeignet, eine Furcht vor Verfolgung zu begründen. Der Kläger ist nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung kein Mitglied einer exilpolitischen Vereinigung. Er hat lediglich pauschal angegeben, alle Oromo-Angelegenheiten zu unterstützen. Insoweit hat er behauptet, ein bis zweimal im Jahr kleinere Geldbeträge von 10,00 oder 20,00 EUR nach Äthiopien zu überweisen. Nachdem er in der mündlichen Verhandlung zunächst erklärte, mit dem Geld würden Kämpfer unterstützt, hat er sich hiervon im Laufe der mündlichen Verhandlung glaubhaft distanziert und erläutert, dass das Geld nicht an WBO, also die OLA, gehe, sondern an hilfebedürftige Kinder. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger wegen dieser Aktivitäten vom äthiopischen Staat verdächtigt werden könnte, OLA-Sympathisant zu sein und die OLA zu unterstützen. Den Erkenntnismitteln lässt sich auch nicht entnehmen, dass (oromische) Rückkehrer nach Äthiopien unter dem Generalverdacht der Unterstützung der OLA stünden. Das Gericht ist nach alledem nicht überzeugt, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einschließlich der von ihm behaupteten Vorfluchtgeschichte und seiner geschilderten Unterstützung von „Oromo-Angelegenheiten“ aus Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem OLA-Umfeld zugerechnet wird.
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Darüber hinaus droht dem Kläger auch keine flüchtlingsrelevante Verfolgung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit. Es ist nicht von einer (landesweiten) Gruppenverfolgung der Oromo auszugehen. Zwar waren ethnische Oromo in der Vergangenheit immer wieder von Unterdrückung und Ausgrenzung betroffen (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 5). Mit dem Machtwechsel 2018 gelangte jedoch erstmals ein Oromo an die Regierungsspitze, der Reformen im Land anstrebte (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, S. 14). Soweit von willkürlichen Verhaftungen und Gewalt gegen Zivilpersonen einschließlich Tötungen berichtet wird, sind vor allem Personen betroffen, die verdächtigt werden, die OLA zu unterstützen, und politisch Aktive (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 15, 29-31). Hieraus wird deutlich, dass nicht die Volkszugehörigkeit zu den Oromo, sondern vielmehr tatsächliche oder vermeintliche oppositionelle bzw. regierungskritische politische Aktivitäten oder die Zugehörigkeit oder Unterstützung einer von der äthiopischen Regierung als terroristisch eingestuften Organisation wie der OLA maßgeblich sind für die Frage, ob jemand eine Verfolgung durch den äthiopischen Staat zu befürchten haben könnte. Hinzu kommt, dass Premierminister Ahmed Abiy selbst zu dieser Volksgruppe gehört, die im Übrigen mit ca. 35% die größte ethnische Gruppe in Äthiopien darstellt (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 12; Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 4). Gegen eine Verfolgung ethnischer Oromo allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit spricht ferner, dass die äthiopische Regierung im März 2020 vier zusätzliche Arbeitssprachen, darunter auch Afan Oromo, zur Förderung der nationalen Einheit eingeführt hat (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 12). Soweit von der Tötung ethnischer Oromo durch amharische Milizen berichtet wird, existieren keine genauen Angaben zu den Todesopfern. Jedenfalls beschränken sich derartige Angriffe im Wesentlichen auf Distrikte in Wollega-Zonen (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 33), sodass ethnische Oromo ausreichende zumutbare interne Schutzmöglichkeiten haben (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), unabhängig davon, ob die Handlungen der amharischen Milizen überhaupt die Voraussetzungen einer Verfolgung gemäß §§ 3a und 3c AsylG erfüllen. Dies gilt auch für den Kläger, der nicht aus den Wollega-Zonen stammt, sondern vor seiner Ausreise in anderen Teilen Oromias, nämlich in der Bale-Zone, lebte.
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Auch in der Gesamtschau der individuellen Umstände des Klägers ist das Gericht nach alledem davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, von äthiopischen Behörden in asylrelevanter Weise belangt zu werden. Die auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG gerichtete Klage ist somit unbegründet.
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Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG zu, da die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind. Der Kläger hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm in Äthiopien ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Insbesondere droht ihm in Äthiopien aus den bereits dargestellten Gründen weder die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) aufgrund der von ihm geltend gemachten Verfolgungsgründe mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 27.4.2010 – BVerwG 10 C 5.09 – juris Rn. 18 ff., U.v. 17.11.2011 – BVerwG 10 C 13/10 – juris Rn. 20, jeweils mit Verweis auf EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 (Saadi/Italien) – NVwZ 2008, 1330; BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6; VG Halle, U.v. 8.5.2018 – 4 A 111/16 – juris Rn. 15 ff.).
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Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) ist auch nicht etwa mit Blick auf die humanitäre Lage in Äthiopien zu befürchten. Die allgemeine humanitäre Lage kann nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen (vgl. EGMR, U.v. 29.1.2013, S.H.H. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 60367/10, Rn. 75, und vom 28.6.2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u. a., Rn. 218, 241, 278: „in very exceptional cases“ bzw. „in the most extreme cases“; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – BVerwG 10 C 15/12 – juris Rn. 22 ff.). Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – BVerwG 1 C 45/18 – juris Rn. 12 zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots bei „nichtstaatlichen“ Gefahren; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a./Ibrahim – juris Rn. 89 ff. und – C-163/17/Jawo – juris Rn. 90 ff.).
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Ob diese engen Voraussetzungen bezüglich der humanitären Lage in Äthiopien bzw. konkret in Addis Abeba als voraussichtlichen Ankunftsort bei einer Rückkehr nach Äthiopien oder in der Bale-Zone, Oromia, insbesondere der Stadt Bale Robe, der Herkunftsregion des Klägers, vorliegen, kann an dieser Stelle dahinstehen. Denn jedenfalls wäre eine kritische humanitäre Lage nicht auf einen Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c Nr. 1-3 AsylG zurückzuführen.
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Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c Nr. 1-3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat. Es ist demnach ein zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs erforderlich, welches die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – BVerwG 1 B 2/19 – juris Rn. 13; U.v. 20.5.2020 – BVerwG 1 C 11/19 – juris Rn. 12).
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Dies ist nicht der Fall. Es ist auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse nicht ersichtlich, dass die humanitäre Lage in Äthiopien, insbesondere mit Blick auf die Nahrungsmittelversorgung, auf das zielgerichtete Handeln eines Akteurs zurückzuführen ist. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn bestimmte Akteure die Versorgung mit Wasser, Nahrung, Medikamenten usw. gezielt behindern bzw. blockieren würden. Dies ist jedoch zumindest für die Bale-Zone in Oromia sowie für Addis Abeba nicht als maßgeblicher Faktor anzunehmen. Vielmehr liegt in Äthiopien vorrangig ein Zusammenwirken von Konflikten, Dürreperioden und Überflutungen vor (vgl. The Danish Immigration Service, COI Report Ethiopia, Oktober 2024, S. 25 f.; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7).
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Einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes hat der Kläger auch nicht etwa aufgrund einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
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Es ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger beachtlich wahrscheinlich eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
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Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 82 ff. m.w.N.). Bei der Beurteilung dieser Frage ist es nicht Voraussetzung, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht. Vielmehr ist eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslandes kennzeichnenden Umstände erforderlich (EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 37, 45). Liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die eine Person von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil sie von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer eine Person als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (vgl. zum Prüfungsmaßstab BVerwG, U.v. 20.5.2020 – BVerwG 1 C 11.19 – juris Rn. 18 ff.; EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 26 ff.).
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Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sind die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG beim Kläger, der keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht erfüllt. Es fehlt an der erforderlichen Gefahrendichte für die Annahme eines landesweiten bewaffneten Konflikts im dargestellten Sinne. Zwar haben ethnische Spannungen und gewaltsame Auseinandersetzungen in vielen Teilen Äthiopiens besorgniserregend zugenommen. Die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel über ethnische Konflikte und andere Auseinandersetzungen in Äthiopien geben jedoch keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen und gewaltsamen Unruhen in Äthiopien landesweit ein so hohes Niveau erreichen würden, dass der Kläger bei seiner Rückkehr allein durch seine dortige Anwesenheit oder aufgrund gefahrerhöhender persönlicher Umstände tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Sicherheitslage in den Konfliktregionen Tigray, Amhara, Oromia, Benishangul-Gumuz, Gambella, Afar/Somali und Southern Nations, Nationalities and Peoples Region (SNNPR) stellt sich wie folgt dar:
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Mit Blick auf gewalttätige Konflikte in Äthiopien ist zunächst der Tigray-Konflikt hervorzuheben, der in mehreren Phasen unterschiedlicher Stärke verlief und von der UNmandatierten Kommission internationaler Menschenrechtsexperten als einer der tödlichsten Kriege des 21. Jahrhunderts bezeichnet wurde (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 6), bevor Anfang November 2022 ein Abkommen über die Einstellung der Feindseligkeiten vereinbart wurde. Seither ist die militärische Auseinandersetzung zwischen dem äthiopischen Militär und ihren Verbündeten auf der einen und den Tigray Defence Forces (TDF) auf deren Seite in der Region Tigray – jedenfalls vorerst – beendet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 14; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4, 6). Anfang Februar 2024 kam es zu einem ersten offiziellen Treffen zwischen der äthiopischen Regierung und einer Delegation der TIRA unter der Leitung des TIRA-Präsidenten Getachew Reda und führenden Vertretern der TPLF, um über Fortschritte und Defizite bei der Umsetzung des Abkommens über die Einstellung der Feindseligkeiten zu sprechen, insbesondere den Abzug der amharischen Milizen und eritreischen Streitkräfte, die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge, die Aufarbeitung der während des Konflikts begangenen Gräueltaten, die Demobilisierung der TDF, der ungeklärte Status der Western Tigray Zone und die Versorgungslage. Die Gespräche sollen fortgeführt werden (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 15).
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Auch nach dem Waffenstillstand berichteten Medien von anhaltenden Vertreibungen in Tigray. So sollen im Dezember 2023 etwa 7.000 tigrayische Flüchtlinge Zuflucht in Lagern nahe der Stadt Endabaguna (Zone North Western) gesucht haben (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 12). Zudem wird von Übergriffen eritreischer Soldaten (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 14) und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen tigrayischen Milizen und amharischen Streitkräften bzw. Milizen berichtet, welche teilweise erst durch das Eingreifen des äthiopischen Militärs beendet wurden; von Todesfällen wurde jeweils nicht berichtet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Soweit von einem Machtkampf zwischen der Übergangsregierung in Tigray (Tigray Interim Regional Administration, TIRA) und Teilen der TPLF berichtet wird, soll dies zur Entlassung einflussreicher Beamter geführt haben; gewaltsame Konflikte werden insoweit jedoch nicht berichtet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 15). Die West-Zone der Region Tigray ist zwischen Amhara und Tigray umstritten und wird derzeit von amharischen Milizen kontrolliert.
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Infolge der Beilegung des Konflikts im Regionalstaat Tigray mit dem im November 2022 geschlossenen „Abkommen zur Beilegung der Feindseligkeiten“ kam es in anderen Regionen, vor allem in den Regionen Amhara und Oromia und besonders in den dortigen Grenzgebieten, zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen regionalen Milizen und staatlichen Streitkräften mit zahlreichen Toten, Plünderungen und Vertreibungen (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 16; Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, Vorwort und S. 7, 12). Das Bundesamt berichtet in seinem Länderreport 69 zu Äthiopien, dass manche eine Zersplitterung des Landes befürchteten, ähnlich wie im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre, mit blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen, ethnischen Säuberungen bis hin zu einem Bürgerkrieg, der zum Zerfall des Landes führe (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 8).
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In Amhara stieß die Entscheidung der äthiopischen Regierung im April 2023, landesweit alle Milizen zu entwaffnen und die regionalen Spezialeinheiten in die staatliche Polizei und die nationale Armee zu integrieren, auf breite Ablehnung. Die Fano-Milizen, eine ethno-nationalistische Jugendbewegung, die sich seit 2010 aus den Protesten gegen die damals noch von der TPLF dominierten Zentralregierung entwickelte und sich als Vertreterin der ethnischen Amhara sieht, widersetzten sich ihrer Demobilisierung (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 9). Dies führte im April 2023 zu ersten Unruhen in mehreren Städten, die eine militärische Offensive der ENDF auslösten (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10). Nach einer vorübergehenden Beruhigung der Lage kam es im November 2023 in den Zonen South und North Shewa, Central Gondar, North Wollo sowie Eastern und West Gojam erneut zu Kämpfen zwischen Fano und der ENDF (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10). Infolge der Eskalation der Auseinandersetzungen hatte die äthiopische Regierung bereits zuvor im August 2023 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand verhängt, welcher aufgrund der anhaltenden angespannten Situation Anfang Februar 2024 für weitere vier Monate verlängert wurde (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10 f.). Nach zehn Monaten lief der Ausnahmezustand am 6. Juni 2024 aus (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 10.6.2024). Fano hat sich aus den städtischen Gebieten weitgehend zurückgezogen, gleichwohl es auch in Städten noch zu Kämpfen kommen kann (z.B. Anfang März 2024 in der Regionalhauptstadt Bahir Dar, vgl. Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 55). Jedoch operiert Fano weiterhin auf dem Land, wo sie breite Unterstützung durch die Bevölkerung erhalten soll (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 55). Die Kämpfe halten jedenfalls weiter an. Im Rahmen der Auseinandersetzungen kommt es auch unter der Zivilbevölkerung zu Opfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Sicherheitslage, 25.10.2023; Bundesamt, Briefing Notes 18.12.2023, S. 1; Briefing Notes 4.3.2024, S. 1; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Äthiopien: Informationen zur aktuellen Lage der Amharen, insbesondere in Addis Abeba, bestehender Bürgerkrieg zwischen dem Staat und den Amharen, 23.2.2024). Infolge des Konflikts zwischen den Fano-Kräften und den Regierungstruppen sind seit Juli 2023 mehr als 180 Menschen ums Leben gekommen (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Sicherheitslage, 25.10.2023, S. 14; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Äthiopien: Informationen zur aktuellen Lage der Amharen, insbesondere in Addis Abeba, bestehender Bürgerkrieg zwischen dem Staat und den Amharen, 23.2.2024). In den Grenzgebieten zu Oromia (Zone North Shewa) kommt es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der im Jahr 2019 von der OLF abgespaltenen OLA, Fano und äthiopischen Sicherheitskräften, bei denen es auch zur Tötung von Zivilisten und Plünderungen kommt (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 13 f.). Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Amhara halten weiterhin an. Es muss jederzeit mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen lokalen Milizen und Sicherheitskräften gerechnet werden (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 17). Regierungstruppen sollen in der ersten Oktoberhälfte 2024 Fano-Milizen, insbesondere mit Luftangriffen, in Teilen Amharas, darunter Gercheche, Merawi, North Mecha, South Meche und Achefer (Provinz Gojjam, Metekel Zone) attackiert haben. Bei Drohnenangriffen sollen Dutzende Menschen getötet und Schulen zerstört worden sein (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024). Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Regierungstruppen und der Fano-Miliz sind Berichten zufolge am 3. Oktober 2024 mindestens 20 Zivilpersonen in der Nähe von Gondar getötet worden (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 7.10.2024). Bei mehreren Drohnenangriffen in Shoa, Gojjam und Gondar wurden Berichten zufolge am 22. Oktober 2024, 25. Oktober 2024 und 26. Oktober 2024 mindestens 18 Personen, darunter auch Kinder, getötet (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 28.10.2024). Die Bei mehreren Drohnenangriffen auf eine belebte Umgebung mit Märkten, Schulen und Gesundheitseinrichtungen in der Achefa Woreda (North Gojam Zone) sind Berichten zufolge am 5. November 2024 50 Menschen getötet worden. Die Drohnenangriffe werden mit der aktuellen Bekämpfung der Fano-Milizen in Amhara in Verbindung gebracht (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 11.11.2024).
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Im Regionalstaat Oromia kommt es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der OLA und den äthiopischen Sicherheitskräften. Da Opfer der OLA häufig auch ethnische Amhara sind, kommt es im Gegenzug des Weiteren auch zu Angriffen der Fano (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Die OLA verweigert den politischen Diskurs mit der äthiopischen Regierung und fordert – unter Einsatz von Waffen – eine Autonomie des Regionalstaats. Seit November 2022 eskaliert die Gewalt. Nach gescheiterten Friedensverhandlungen in Tansania im April 2023 startete das äthiopische Militär am 17. Mai 2023 eine weitere Offensive gegen die OLA (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Auch weitere Friedensverhandlungen im November 2023 endeten ohne Ergebnis (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4; Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 17; Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17). Es kommt weiterhin zu bewaffneten Zusammenstößen mit Todesopfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4; vgl. zu Konfliktvorfällen zwischen Januar 2020 und Dezember 2023: Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 18 ff.). So sind Berichten zufolge am 10. Oktober 2024 sieben Zivilpersonen in Sadika Karsa, Robe Didea Distrikt (Arsi Zone) getötet worden, acht weitere werden vermisst, als Regierungstruppen Zeugen zufolge nach Mitgliedern der OLA suchten (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024). Im North Shewa Distrikt sollen bei einem Angriff der OLA 48 Menschen getötet und weitere entführt worden sein. Die OLA verübt seit 2018 vermehrt Angriffe in der Region (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 11.11.2024; vgl. insgesamt zur Sicherheitslage in Oromia auch den Länderreport 66 des Bundesamts, Stand 03/2024). Im Februar 2024 berichtete die äthiopische Menschenrechtskommission von schweren und zunehmenden Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen internationales Recht in Oromia, darunter außergerichtliche Tötungen und Gewalt gegen Zivilpersonen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 20). Auch nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen der Regionalregierung in Oromia und einer Splittergruppe der OLA unter Sanyi Nagasa am 1. Dezember 2024 halten die Auseinandersetzungen an (Ethiopia Peace Observatory, Ethiopia Weekly Update, 3.12.2024).
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Auch im Regionalstaat Benishangul-Gumuz sind ethnisch motivierte Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Milizen mit zivilen Opfern zu verzeichnen, dies vor allem zwischen September 2020 und Mitte 2021 (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18). Ende 2020 begannen Friedensverhandlungen zwischen der Regionalregierung, der GPDM und der militanten Gruppe Benishangul People’s Liberation Movement (BPLM). In der Folge kam es zur Demobilisierung der Gruppen und schließlich im Oktober 2022 zu einem Friedensabkommen mit der GPDM. Im Dezember 2022 erklärte schließlich auch die BPLM, den bewaffneten Konflikt beenden zu wollen. Im März 2023 wurden mehr als 370 GPDM-Mitglieder im Rahmen einer Amnestie freigelassen. Aktuell kommt es nur noch vereinzelt zu gewalttätigen Angriffen auf die Zivilbevölkerung und auf staatliche Einrichtungen, auch wenn die Boro Democratic Party (BDP) im März 2024 auf eine zunehmende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vor allem in der Woreda Sedal (Zone Kamashi-Zone) in Form von Überfällen, Entführungen und Tötungen durch bewaffnete Gruppen aus dem Sudan hinwies (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; vgl. ferner AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7).
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Im Regionalstaat Gambella kommt es insbesondere seit dem Jahr 2016 zu gewaltsamen Konflikten zwischen Anuak-Milizen und staatlichen Sicherheitskräften auch mit zivilen Todesopfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Nachdem die Gambella Liberation Front (GLF) 2022 noch auf Seiten der OLA 2022 an Kämpfen mit regionalen Sicherheitskräften und der ENDF beteiligt war, kündigte die GLF im April 2023 nach Friedensgesprächen mit der äthiopischen Zentralregierung und der Regionalregierung von Gambella an, ihren bewaffneten Kampf zu beenden und künftig friedlich für die Interessen der Ethnie der Gambella einzutreten. Auch 2023 und 2024 kam es zu Zusammenstößen bewaffneter Gruppen und Angriffen örtlicher Milizen, bei denen es Todesopfer und Verletzte in der Zivilbevölkerung, vor allem unter Flüchtlingen aus dem Südsudan, gab (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Hintergrund der Gewalt soll u.a. die Ankunft weiterer Flüchtlinge aus Südsudan gewesen sein, vor allem Nuer, die vor den Konflikten in ihrem Land fliehen (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18).
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In der Grenzregion der Regionalstaaten Afar und Somali kommt es aufgrund langjähriger Streitigkeiten über umstrittene Gebiete immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Im Zentrum des Konflikts stehen drei Kebeles, in denen ethnische Somalis des Issa-Clans, einer der mächtigsten somalischen Sub-Clans, leben. Diese drei Kebeles befinden sich in den Afar-Zonen 1 (Awsi) und 3 (Gabi) sowie in der Sitti-Zone Somalis. Die Issa fordern die Wiedereingliederung in die Somali-Region, was die regionalen Behörden der Afar strikt ablehnen. Der gewaltsame Konflikt zwischen den Issa und den Afar begann im Oktober 2019, als in Obno (Woreda Afambo, Zone 1) bei einem Angriff einer unbekannten Gruppe bewaffneter Männer mindestens 17 Zivilistinnen und Zivilisten getötet und 34 weitere verletzt wurden (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Nachdem es auch in den Folgejahren immer wieder zu Zusammenstößen mit Toten kam, erklärten die Präsidenten der beiden Regionen im April 2021, die Gewalt beenden und die aktuellen Grenzen respektieren zu wollen. Im Mai 2022 wurde eine Einigung über den Abzug aller regionalen Spezialeinheiten aus dem umstrittenen Gebiet erzielt. Seither kam es noch zu sporadischer Gewalt, aktuell liegen jedoch keine Berichte über bewaffnete Auseinandersetzungen in der Region vor (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 19). Risikofaktoren stellen neben dem Konflikt zwischen äthiopischen Streitkräften und bewaffneten Gruppen der Zustrom somalischer Flüchtlinge sowie Infiltrationsversuche und Angriffe islamischer Fundamentalisten dar. Vor allem im Grenzgebiet zu Somalia und Kenia besteht die Gefahr von Entführungen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18).
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Des Weiteren kam es in den vergangenen Jahren auch in der multiethnischen Region SNNPR zu ethnischen Konflikten, die sich allerdings spürbar entspannt haben. Allenfalls sporadisch kommt es zu vereinzelten Übergriffen unbekannter Gruppen wie in der Central Region (Woreda Gurage) oder in der South Region (Gamo Zone, Woreda Arba Minch Zuria; Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 19). Das Auswärtige Amt berichtet, dass es in einem ca. 10 km breiten, an Südsudan und Kenia angrenzenden Streifen immer wieder zu Zwischenfällen kommt (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18). Auch aus der Region SWEP wird nur selten über Übergriffe berichtet (Ethiopia Peace Observatory, Ethiopia Weekly Update, 3.12.2024).
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Bei der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung besteht vor diesem Hintergrund kein landesweiter bewaffneter Konflikt mit der im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderlichen Gefahrendichte. Die aufgezeigten ethnischen Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen in vielen Teilen Äthiopiens variieren wie vorstehend dargestellt nach Art, Ausmaß, Intensität, Häufigkeit und ihrer Gefahr für die Zivilbevölkerung. Dass sie landesweit ein so hohes Niveau erreichen würden, dass eine Zivilperson allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, ist mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen zu den Konfliktlagen in den einzelnen Regionen nicht anzunehmen.
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Nachdem ein bewaffneter Konflikt mit der im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderlichen Gefahrendichte nicht landesweit besteht, kommt eine individuelle Bedrohung des Klägers im Sinne dieser Vorschrift nur in Betracht, wenn der Konflikt sich mit der beschriebenen Gefahrendichte auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 17). Dies ist nicht der Fall, und zwar unabhängig davon, ob man abstellt auf Addis Abeba als voraussichtlichen Ankunftsort bei einer Rückkehr nach Äthiopien auf dem Luftweg oder auf Bale Robe in Oromia, wo der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien lebte.
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Für die Hauptstadt Addis Abeba ist nicht von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen (vgl. AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 17). In Addis Abeba gibt es regelmäßig Demonstrationen, Kundgebungen und Proteste, die mitunter gewaltsam von Sicherheitskräften unterbunden werden, wobei es auch zu Todesopfern kommen kann bzw. kam (vgl. Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 12 ff.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Äthiopien, 4.11.2021, S. 5 f., 14). Abgesehen davon gibt es in Addis Abeba jedoch kaum relevante Sicherheitsvorfälle; solche werden nur aus anderen Landesteilen berichtet. Innerstaatliche bewaffnete Konflikte sind daher für Addis Abeba nicht zu verzeichnen, auch wenn Angriffe nach Abschluss des Tigray Friedensabkommens an Reichweite gewonnen haben und es mitunter zu gewaltsamen Zusammenstößen auch nahe der Hauptstadt Addis Abeba kam (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 16). Davon ausgehend liegt nach der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung keine solche Gefahrendichte vor, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Addis Abeba durch seine dortige Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der von ihm angegebenen früheren Unterstützung der Qeeroo-Bewegung, seiner exilpolitischen Betätigung (der Unterstützung von Oromo-Angelegenheiten ohne Mitgliedschaft in einer exilpolitischen Vereinigung) und seiner oromischen Volkszugehörigkeit, die aus den bereits dargestellten Gründen nicht zu einer relevanten Gefahrerhöhung für den Kläger führen.
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Entsprechendes gilt auch für Bale, die Herkunftsregion des Klägers. Die Stadt Bale Robe in der Bale-Zone liegt zwar in der Region Oromia, die von den vorstehend beschriebenen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen OLA und äthiopischen Regierungstruppen sowie besonders im Grenzgebiet zu Amhara auch der Fano betroffen ist. Jedoch finden die Konflikte nicht gleichermaßen überall in Oromia statt und sie verlaufen in Phasen unterschiedlicher Stärke. Die Intensität der Konfliktvorfälle nahm zunächst seit 2020 stetig zu, erreichte im Jahr 2022 ihren Höhepunkt mit 819 registrierten Vorfällen, bevor sie 2023 wieder leicht abgesunken ist (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 19, 24 unter Verweis auf Daten von ACLED; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 54, 68, unter Verweis auf Daten von ACLED und EPO). Bei der Mehrheit der Vorfälle handelt es sich um gewaltsame Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen, gefolgt von Gewaltanwendungen gegen Zivilpersonen (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 21 unter Verweis auf Daten von ACLED; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 75 unter Verweis auf EPO). Auch die Gewalt gegen Zivilpersonen und die Zahl der Todesopfer erreichten 2022 einen Höhepunkt, bevor sie 2023 wieder absank (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 24 f.). Im Verhältnis zur gesamten Anzahl der Konfliktvorfälle lässt sich feststellen, dass es sich im Jahr 2020 bei über 60% der Vorfälle um Angriffe auf Zivilpersonen handelte. In den Folgejahren waren es hingegen 35% bis 42%. Die Angriffe auf zivile Ziele nahmen demnach gemessen an der Gesamtsumme der Konfliktvorfälle ab. Der Rückgang der konfliktbedingten Todesopfer und der Konfliktvorfälle im Jahr 2023 könnte unter anderem auf die Verhandlungsrunden um eine Konfliktlösung zurückzuführen sein (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 25), welche allerdings zu keinem Ergebnis führten.
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Geografisch finden diese Konflikte nicht überall gleichermaßen in Oromia statt. Die Sicherheitslage in Oromia wird besonders durch Konflikte unter Beteiligung der OLA geprägt, auch wenn es eine variierende Anzahl kleinerer lokaler Gruppen von Konfliktakteuren gibt (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 26 ff.). Gewaltanwendungen gegen Zivilpersonen gehen dabei von verschiedenen Konfliktakteuren aus, sowohl der OLA als auch ENDF, föderalen Sicherheitskräften oder amharischen Milizen (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 29). Der Schwerpunkt gewaltsamer (politischer) Auseinandersetzung unter OLA-Beteiligung liegt trotz Vorfällen auch im Süden Oromias vor allem in den nördlichen und westlichen Woredas Oromias (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 22 ff.; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 84). Die meisten Vorfälle mit Gewalt gegen Zivilpersonen sind im Westen Oromias, insbesondere den Shewa- und Wollega-Zonen, zu verzeichnen (Bundesamt, Länderreport 66, Stand 03/2024, S. 26). In der Bale-Zone gibt es demgegenüber Gebiete, die nur in geringem Maße von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffen sind. Der Schwerpunkt insbesondere der OLA-Aktivitäten und der gegen diese gerichteten Maßnahmen von Regierungstruppen liegt wie ausgeführt in anderen Teilen Oromias. Auch die aktuellen Daten des Ethiopia Peace Observatory – EPO – deuten auf keinen anderen Befund hin (EPO, Monthly Update October 2024, 8.11.2024; Weekly Updates, 3.12.2024, 26.11.2024, 19.11.2024, 12.11.2024, 5.11.2024). Unter Berücksichtigung dessen sowie einer Bevölkerung Oromias, die auf ca. 35,5 Mio. Menschen geschätzt wird (s. Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, Februar 2023, S. 104), ist bei einer wertenden Gesamtbetrachtung eine individuelle Betroffenheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr nach Oromia in die Bale-Zone nicht beachtlich wahrscheinlich. Die Situation ist nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Individuelle gefahrerhöhende Umstände sind nicht glaubhaft vorgetragen worden oder sonst erkennbar.
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
52
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Unzulässigkeit der Abschiebung kann sich dabei insbesondere aus Art. 3 EMRK ergeben. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Insbesondere ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 187 bis 191) davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse ausgesetzt sein könnte.
53
Mit Blick auf die allgemeine humanitäre Lage im Herkunftsland ist das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – BVerwG 1 C 45.18 – juris Rn. 12 m.w.N.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 65; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u. a./Ibrahim – juris Rn. 89 ff. und – C-163/17/Jawo – juris Rn. 90 ff.).
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Das dabei maßgebliche Risiko entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Umstände, die für eine mit der EMRK unvereinbare Behandlung sprechen, ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – BVerwG 1 B 2.19 – juris Rn. 6; U.v. 20.2.2013 – BVerwG 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Maßstab für die Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers im Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25).
55
Nach diesem Maßstab ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum nach seiner Rückkehr nach Äthiopien zu befriedigen.
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Äthiopien gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze und das rasche Bevölkerungswachstum trägt zum Verharren in Armut bei (s. BFA, Länderinformationsblatt, 4.11.2021, S. 39). Die wirtschaftliche Lage in Äthiopien stellt sich als schwierig dar; sie ist geprägt von anhaltender Inflation, extremer Devisenknappheit und steigenden Weltmarktpreisen für notwendige Importgüter. Über 20 Mio. Menschen benötigen nach Schätzungen der äthiopischen Regierung humanitäre Hilfeleistungen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4, 21). Laut der VN-Nothilfeorganisation (OCHA) bedürfen etwa 21,4 Mio. Menschen humanitärer Unterstützung aufgrund von konflikt- bzw. klimabedingten humanitären Krisen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). Die Zahl der Binnenvertriebenen ist landesweit zuletzt auf ca. 3,4 Mio. Menschen leicht gestiegen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7, 20). Zudem hat Äthiopien mehr als 1 Mio. Geflüchtete, insbesondere aus den Nachbarländern Südsudan, Somalia und Eritrea aufgenommen (AA, Lagebericht Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7, 20). Die Grundversorgung der registrierten Flüchtlinge wird durch u.a. UNHCR und WFP übernommen, auch wenn diese stark unterfinanziert sind (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 20).
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Äthiopien ist ein Agrarstaat. Mehr als ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes wird in der Landwirtschaft generiert. Die Landwirtschaft und der Bergbau sind die zwei wichtigsten Wirtschaftszweige. Vor diesem Hintergrund sind die Konflikte innerhalb des Landes und das Land wiederholt heimsuchende Naturkatastrophen (Dürren und Überflutungen) zu sehen; diese beeinträchtigen die Volkswirtschaft (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 2; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). So ist die humanitäre Lage seit Ende 2023 von einer Dürre in Nordäthiopien (Tigray, Afar, Amhara und Teile Oromias) geprägt, die die humanitären Bedarfszahlen nach oben treibt. Gleichzeitig wird auch Südäthiopien weiterhin abwechselnd von Dürren und Überflutungen heimgesucht, so dass die – zusätzlich durch die Konflikte in Oromia und Amhara belastete – humanitäre Lage landesweit sehr schlecht ist (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). Das durchschnittliche Monatseinkommen betrug 2023 81 EUR pro Kopf. Die Bezahlung für einfache Tätigkeiten in Äthiopien ist sehr niedrig, mittlere Einkommen gibt es kaum und im Management fallen die Gehälter relativ hoch aus (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 3).
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Demgegenüber ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Äthiopien über einen grundlegenden politischen und rechtlichen Rahmen verfügt, der stark genug ist, um Sozialschutzprogramme wirksam zu fördern. Das Land verfügt über eine nationale Sozialschutzpolitik und -strategie sowie über verschiedene sektorspezifische Strategien wie die Strategie für urbane Ernährungssicherheit und Arbeitsplatzschaffung (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 3). Zudem wurden wegen Zweckmittelentfremdung im Jahr 2023 zeitweise ausgesetzte Lebensmittellieferungen Mitte November 2023 wieder aufgenommen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 5).
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Die Grundversorgung bleibt dennoch vor allem für Rückkehrende lückenhaft (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 2; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21). Rückkehrende können in Äthiopien nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kindergeld o.ä. werden von der äthiopischen Regierung nicht erbracht. Es gibt in Äthiopien weder eine kostenlose medizinische Grundversorgung noch beitragsabhängige Leistungen. Die medizinische Behandlung, die grundsätzlich direkt zu bezahlen ist, erfolgt entweder in staatlichen Gesundheitszentren bzw. Krankenhäusern oder in privaten Kliniken. Die Behandlung einiger akuter Erkrankungen oder Verletzungen ist durch eine medizinische Basisversorgung gewährleistet, jedoch fehlt es an Impfstoffen und Medikamenten. Komplizierte Behandlungen können wegen fehlender Ausstattung mit entsprechendem Gerät nicht durchgeführt werden. Chronische Krankheiten, die auch in Äthiopien weit verbreitet sind, wie Diabetes, aber auch Immunsystemschwächen können eingeschränkt behandelt werden, wobei bestimmte Impfstoffe und Medikamente gegebenenfalls nicht verfügbar sind. Auf dem Land ist die medizinische Versorgung wegen fehlender Infrastruktur erheblich schlechter als in den größeren Städten (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 22).
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Die Versorgung der Rückkehrenden (z.B. Erstunterbringung, medizinische Untersuchung, Familienzusammenführung, Weitertransport in die Heimatregionen) wird großteils durch Organisationen der Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen übernommen. Die äthiopische Regierung übernimmt die Registrierung der Rückkehrenden und unterstützt auch die Erstunterbringung in Addis Abeba und anderen Orten auf den wichtigsten Migrationsrouten, wobei die staatlichen Transitzentren in Addis Abeba nach Auskunft von Nichtregierungsorganisationen massiv überfüllt sind (vgl. zum Ganzen AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21). Für schutzbedürftige Rückkehrende, insbesondere für Minderjährige, gibt es Erstaufnahmeeinrichtungen, die von IOM betrieben werden (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 22).
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Für Rückkehrende aus Europa bestehen allerdings EUfinanzierte Programme zur Reintegration (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21 unter Verweis auf die Informationen unter dem Link vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/ethiopia).
62
In Gesamtschau dieser Umstände ist trotz der allgemein schwierigen humanitären Lage in Äthiopien nicht ersichtlich, dass Rückkehrer überwiegend oder in großer Zahl nicht in der Lage wären, ihr Existenzminimum in Äthiopien zu sichern. Vielmehr wird aus den dargestellten Umständen deutlich, dass es für die Beurteilung dieser Frage auf die konkreten Umstände der Rückkehr, insbesondere die Verhältnisse am Rückkehrort, die Leistungsfähigkeit des Betroffenen sowie die Zahl der in einem Haushalt zu versorgenden Personen ankommt. Besonders betroffen von den schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnissen sind vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Alleinerziehende ohne familiäre Unterstützung, Familien mit mehreren Kindern, nicht arbeitsfähige, ältere oder kranke Personen (zur Gefahr stark vulnerabler Gruppen wie Binnenvertriebenen Opfer von Menschenhandel und Gewalt zu werden vgl. AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21).
63
Hiervon ausgehend erscheint es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, dort seine Existenz zu sichern. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich der Kläger das notwendige Existenzminimum auch ohne verwandtschaftlichen Rückhalt selbst erwirtschaften kann. Es kann daher dahinstehen, ob der Kläger nicht sogar auf familiären Rückhalt in Äthiopien, etwa durch seine in Bale lebenden Eltern, zurückgreifen kann.
64
Der Kläger ist jung und erwerbsfähig. Gesundheitliche Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit hat der Kläger nicht glaubhaft dargelegt oder etwa durch ein aktuelles ärztliches Attest belegt. Ein ärztliches Attest vom 3. September 2021 bescheinigte dem Kläger Arbeitsfähigkeit. Sonstige durchgreifende Anhaltspunkte für eine fehlende Erwerbsmöglichkeit in Äthiopien sind nicht ersichtlich. Auch wenn der Kläger keine Berufsausbildung hat, sondern in Äthiopien die Schule ca. bis zur zehnten Klasse besucht und dann in der Landwirtschaft gearbeitet hat, ist daher zu erwarten, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst ohne familiären Rückhalt in Äthiopien im Rahmen einer Erwerbstätigkeit sichern kann. Dabei ist es dem Kläger zumutbar, auch schlichte Hilfstätigkeiten, gegebenenfalls im Niedriglohnsektor, zur Sicherung des Existenzminimums auszuüben. Insoweit ist zwar zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Vergangenheit in der Landwirtschaft tätig war, mithin in einem Wirtschaftszweig, der besonders von den Folgen der Heuschreckenplagen, Dürren und Überschwemmungen betroffen ist. Jedoch hat er dort nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung in erster Linie an Maschinen gearbeitet und Führerscheine für sowohl Pkw als auch Lkw und Maschinen. In Deutschland hat er einfache Tätigkeiten bei einem Autozulieferer ausgeübt. Es ist daher davon auszugehen, dass er trotz der geschilderten Schwierigkeiten mit Blick auf seine Vorkenntnisse, Erfahrungen und seine Fähigkeit, sich – wie in Deutschland – flexibel in neue Tätigkeiten einzufinden, in der Lage sein wird, sich sein Existenzminimum im Rahmen einer Erwerbstätigkeit in Äthiopien zu sichern. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger Äthiopien nach seinen Angaben bereits im Januar 2016 verlassen hat und sich bei einer Rückkehr dort erneut zurechtfinden und einleben muss. Dies ist ihm auch nach seiner Ankunft in Deutschland, einem für ihn bis dahin völlig unbekannten Land, gelungen. So hat er in Deutschland bei einem Autozulieferer gearbeitet und dort einfache Tätigkeiten ausgeübt. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ihm dies bei einer Rückkehr nach Äthiopien, also in ein ihm bereits aus der Vergangenheit bekanntes Land mit einer ihm bekannten Kultur und Sprache, nicht gelingen sollte.
65
Zudem besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann dann, wenn der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen kann, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer bzw. der Ausländerin nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25). Der Kläger könnte bei einer freiwilligen Rückkehr auf Rückkehr- und Reintegrationsprogramme zurückgreifen: Im Rahmen der Programme „Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany“ (REAG) sowie „Government Assisted Repatriation Programme“ (GARP) kommen insbesondere eine Reisebeihilfe sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe in Höhe von 1.000,00 EUR in Betracht (s. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp). Eine zweite Starthilfe nach sechs bis acht Monaten kommt im Rahmen des Programms StarthilfePlus in Betracht (s. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp).
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Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Kläger keinerlei Unterhaltsverpflichtungen glaubhaft dargelegt hat; er muss allein für seinen eigenen Unterhalt aufkommen. Seine Eltern und sein Bruder leben nach den Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung von den Einkünften der Eltern aus ihrer Tätigkeit als Bauern mit eigenem kleinen Ackerland, seine Schwestern sind verheiratet.
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Bei zusammenfassender Würdigung ist daher festzustellen, dass aufgrund der hier gegebenen Umstände des konkreten Einzelfalls des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Kläger trotz der insgesamt schwierigen humanitären Verhältnisse in Äthiopien nicht in der Lage sein wird, das notwendige Existenzminimum zu sichern. Dabei wird nicht übersehen, dass viele Menschen in Äthiopien auf Hilfe von dritter Seite angewiesen sind und das Land sich mit zahlreichen Problemen wie z.B. Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit, eingeschränkter Gesundheitsversorgung, Fortbestehen ethnischer Konflikte und Folgen des Ukrainekriegs, konfrontiert sieht. Gleichwohl gibt es auch unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten beim Kläger hinsichtlich Bildung, körperlicher Verfassung und Familienhintergrund keine durchgreifenden Hinweise darauf, dass ihm bei einer Rückkehr der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden infolge von Mangelernährung drohten. Die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzulegende Gefahrenschwelle wird nach alledem nicht erreicht.
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Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass für den Kläger in Äthiopien eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahr ergibt sich insbesondere nicht aus den schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.
70
Nach diesen Maßstäben ist bei dem Kläger ein nationales Abschiebungsverbot nach dieser Bestimmung im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend.
71
Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist gemäß Satz 4 der Vorschrift nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, die insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
72
Derartige erhebliche konkrete Gefahren für die Klagepartei sind im streitgegenständlichen Fall nicht erkennbar. Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger Krankheiten in lebensbedrohlichem Ausmaß hätte oder dass sich eine schwerwiegende Erkrankung durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Dies gilt auch soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, unter Asthma und Rückenschmerzen zu leiden. Insoweit fehlt es bereits an einer ärztlichen Bescheinigung, die den Anforderungen nach § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genügen würde. Es liegen keinerlei aktuelle Atteste oder vergleichbare aktuelle Nachweise über gesundheitliche Beeinträchtigungen vor. Ein im Asylverfahren vorgelegter Arztbericht vom 2. September 2021 enthält die Diagnose Rhinitis vasomotorica bds. (J30.0GB) und äußert im Übrigen lediglich einen Verdacht (auf chronische Sinusitis (J32.9V)). Ein konkreter, noch jetzt bestehender Behandlungsbedarf, ein lebensbedrohliches Ausmaß oder eine schwerwiegende Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, lässt sich dem nicht entnehmen.
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Die vom Bundesamt in Ziffer 5 des angegriffenen Bescheids verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen vor.
74
Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den § 11 Abs. 2, § 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besondere Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind beim Kläger nicht ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
76
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.