Titel:
Sekundärmigration Bulgarien, Familie mit Kleinkindern, (keine) unmenschlichen Lebensverhältnisse in Bulgarien, (keine) extreme materielle Not, Aufenthaltsgestattung eines Mitglieds der Kernfamilie im Bundesgebiet, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis bei laufendem Asylverfahren eines weiteren Kindes
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4
AsylG § 35
AsylG § 55
AsylG § 77 Abs. 2
AufenthG § 11
GRC Art. 4
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Sekundärmigration Bulgarien, Familie mit Kleinkindern, (keine) unmenschlichen Lebensverhältnisse in Bulgarien, (keine) extreme materielle Not, Aufenthaltsgestattung eines Mitglieds der Kernfamilie im Bundesgebiet, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis bei laufendem Asylverfahren eines weiteren Kindes
Fundstelle:
BeckRS 2024, 42775
Tenor
1. Ziffer 3 Satz 1 bis 3 und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25.09.2024 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner zu ¾ und die Beklagte zu ¼.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger sind syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Sie reisten am 07.05.2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 10.07.2023 Asylanträge.
2
Die „EURODAC-Trefferabfrage“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ergab Treffer der „Kategorie 1“ (* …, … und …*) wonach der Kläger zu 1 am 30.09.2021 und die Klägerinnen zu 2 und 3 am 27.09.2022 in Bulgarien internationalen Schutz beantragt haben. Nach Mitteilung der bulgarischen Behörden vom 27.05.2024 wurde daraufhin dem Kläger zu 1 am 17.02.2022 und den Klägern zu 2 und 3 am 20.02.2023 in Bulgarien der subsidiäre Schutzstatus („subsidiary protection“) zuerkannt.
3
Bei den Befragungen am 10.07.2023, 26.02.2024 und 17.06.2024 trug der Kläger zu 1 gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen vor, er habe Syrien am 18.08.2021 erstmals verlassen und sei über die Türkei am 01.09.2021 nach Bulgarien eingereist. In Bulgarien habe er sich von September 2021 bis Mai 2023 in einer Flüchtlingsunterkunft in Sofia aufgehalten. Eigentlich habe er in Bulgarien keine Fingerabdrücke abgeben wollen. Er sei aber dazu gezwungen worden. Sein Bein sei damals gebrochen gewesen, weshalb er zunächst in Bulgarien habe bleiben müssen. Auf die Asylantragstellung in Bulgarien hin, habe er dann eine Anerkennung sowie einen Pass und einen Aufenthaltstitel bekommen.
4
Bulgarien habe er verlassen, weil sein Ziel von Anfang Deutschland gewesen sei. In Bulgarien gebe es keine Integrationsmöglichkeiten. Den Sprachkurs hätte er selbst zahlen müssen und ohne Sprache habe er nicht arbeiten können. Zudem habe es in Bulgarien kaum Arbeit gegeben. Er habe seinen Lebensunterhalt nicht finanzieren können und sich die ganze Zeit Geld von Bekannten leihen müssen. Beim Aufgriff in Bulgarien sei er festgenommen und gezwungen worden, einen Asylantrag zu stellen. Bei der Festnahme sei er geschlagen worden und dabei sei sein Bein gebrochen. Als die Klägerinnen zu 2 und 3 im Rahmen der Familienzusammenführung nach Bulgarien gekommen seien, habe man ihnen gesagt, sie sollten Bulgarien verlassen. In Bulgarien seien sie auch rassistisch behandelt worden, da seine Frau ein Kopftuch trage. Die Lage in Bulgarien sei so schlecht gewesen, dass er dort nicht habe länger bleiben wollen. Man habe die Klägerin zu 3 in Bulgarien in den Kindergarten schicken wollen. Dies sei zunächst abgelehnt worden. Später hätten sie 3.000 EUR für den Kindergarten bezahlen sollen. Er habe inzwischen eine Familie mit zwei Kindern. In Bulgarien könne er dort den Unterhalt nicht leisten. Dazu gebe es in Bulgarien keine Krankenversicherung. Er habe dort auch keine Verwandten. Als sein Bein in Bulgarien gebrochen gewesen sei, habe er keine medizinische Behandlung erhalten, weil er nicht versichert gewesen sei. Daraufhin habe ein Kumpel, der sich mit Brüchen auskenne, sein Bein behandelt. Als dies nicht geklappt habe, habe er einen Arzt aufgesucht, der ihn behandelt und erklärt habe, dass er einen Physiotherapeuten benötige. Diesen habe er sich aber in Bulgarien nicht leisten können. In Deutschland sei er in physiotherapeutischer Behandlung. Er müsse noch weiter Termine wahrnehmen. Sonstige Beschwerden oder Gebrechen habe er nicht. Er nehme ein Medikament für Knochen, die Betreuung seiner Kinder sei ihm aber wichtiger als seine eigene Behandlung.
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Die Klägerin zu 2 führte am 10.07.2023, 26.02.2024 und 17.06.2024 gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen aus, sie habe Syrien am 08.08.2022 im Rahmen der Familienzusammenführung mit der Klägerin zu 3 verlassen und sei am 27.09.2022 nach Bulgarien eingereist. Dort habe sie sechs Monate in einer Flüchtlingsunterkunft in Sofia gelebt. Während ihres Aufenthalts in Bulgarien habe sie nichts gemacht. Die Klägerin zu 3 habe den Kindergarten nicht besuchen können. Sie selbst habe auch keinen Sprachkurs besucht. Für den Lebensunterhalt habe sich ihr Mann Geld von einem Freund geliehen. In Bulgarien habe sie zwar eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, sie habe aber in Bulgarien nicht bleiben wollen, die Situation dort schlecht gewesen sei. Sie und ihr Mann seien auf der Straße beschimpft worden. Die Polizei in Bulgarien habe ihrem Mann das Bein gebrochen. Es gebe dort auch keine Arbeit. Die Schulkosten für ihre Kinder könne sie nicht aufbringen. Vor allem hätten sich die Leute aber über sie lustig gemacht, weil sie ein Kopftuch trage. In Bulgarien habe sie keine Verwandten. Sie wolle in Deutschland bleiben, da dies von Anfang an ihr Ziel gewesen sei. Beschwerden, Erkrankungen oder Gebrechen habe sie nicht. Sie nehme auch keine Medikamente. Sie sei aber gegenwärtig (17.06.2024) mit dem dritten Kind ca. in der achten Woche Schwanger. Neben der Klägerin zu 3 sei bereits ein weiteres Kind in Deutschland geboren, welches unter dem Aktenzeichen … ein eigenes Asylverfahren betreibe.
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Für die Klägerin zu 3 wurden von den Klägern zu 1 und 2 keine weitergehenden Gründe vorgetragen.
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Mit Bescheid vom 25.09.2024 wurden die Asylanträge als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Den Klägern wurde die Abschiebung nach Bulgarien angedroht (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
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Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Asylanträge seien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da den Klägern bereits in Bulgarien internationaler Schutz gewährt worden sei. Die bulgarischen Behörden hätten insoweit das Bundesamt mit Schreiben vom 27.05.2024 über die erfolgte Schutzgewährung informiert. Die Asylanträge würden daher in Deutschland nicht materiell geprüft und seien daher als unzulässig abzulehnen.
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Der Entscheidung der Asylanträge als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stehe auch nicht entgegen, dass der EuGH mit Urteil vom 19.03.2019 (Az. C-297/10) entschieden habe, dass die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig, weil den Klägern in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bereits internationaler Schutz gewährt worden sei, nur dann möglich sei, wenn die Kläger keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt seien, aufgrund der Lebensumstände, die sie im Mitgliedsstaats erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC zu erfahren. Derartige Menschenrechtsverletzungen drohten den Klägern jedoch in Bulgarien nicht. Die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem internationalen Schutz in Bulgarien seien ausreichend. Weder sei eine Verletzung der in Art. 26 ff. der RL 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar, noch herrschten in Bulgarien derartig eklatante Missstände, welche die Annahme rechtfertigten, anerkannte Flüchtlinge seien einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt (wird umfassend unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Auskünften ausgeführt). Es sei den Klägern somit möglich mit der erforderlichen Eigeninitiative zu vermeiden, dass sie in eine Situation extremer materieller Not geraten, die es ihnen nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Im Rahmen der vorliegenden ausländerrechtlichen Konstellation sei es den Klägern zumutbar und sogar für die spätere Asylantragstellung erforderlich, mit den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates zum Zwecke einer erfolgreichen Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung zu kooperieren. Der Umstand, dass die zuständigen Beschäftigten bei einer wiederholten Verweigerung des illegal eingereisten Ausländers Zwangsmaßnahmen androhten oder umsetzten, sei insbesondere im Vorfeld einer formellen Asylantragstellung nicht als Verfahrensmangel zu werten, sondern diene der Gefahrenabwehr. Anhaltspunkte, wonach diesbezügliche Maßnahmen unverhältnismäßig oder aus sonstigen Gründen widerrechtlich gewesen seien, lägen nicht vor. Der Kläger zu 1 habe diesbezüglich keine konkreten Angaben gemacht, obwohl dies zumutbar gewesen sei. Insofern sei das Unterlassen eines solchen Vortrags als Beleg dafür zu werden, dass das Vorbringen in diesem Punkt nicht begründet sei. Soweit vorgetragen worden sei, es habe Bestechungsgeld gezahlt werden müssen, damit die Klägerin zu 2 einen Asylantrag stellen könne, lägen hinsichtlich solcher Umstände weder Anhaltspunkte noch Erkenntnisse vor. Vielmehr sei davon auszugehen, dass Bulgarien der Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Prüfung des Asylbegehrens nachkomme. Ferner könne aus diesen Angaben nicht hergeleitet werden, dass eine Unzumutbarkeit des Aufenthalts in Bulgarien gegeben sein werde. Daneben sei nicht ersichtlich, dass in Bulgarien ein Schulbesuch verwehrt werde. Bulgarien gewähre Kindern mit internationalen Schutz einen unbeschränkten Zugang zu kostenlosem Unterricht in Regelschulen und auch Maßnahmen zur Berufsausbildung nach den für bulgarische Kinder geltenden Regeln und Bedingungen. Es seien ferner keine Hinweise darauf gegeben, dass es seitens der bulgarischen Behörden zu körperlichen Übergriffen gegenüber Schutzberechtigten komme. Soweit die Kläger Bezug auf Übergriffe Dritter genommen hätten, stehe es ihnen frei, sich an staatliche Behörden, insbesondere die Polizei, zu wenden. Übergriffe einzelner Amtswalter führten nicht zu einer Beweislastumkehr für die Frage des Vorliegens systemischer Mängel. Es sei jedenfalls nicht davon auszugehen, dass den Klägern bei einer nunmehrigen Überstellung nach Bulgarien eine menschenunwürdige oder verfahrenswidrige Behandlung drohe. Der Verweis auf Rassismus und Diskriminierung in Bulgarien könne ebenfalls nicht dazu führen, ein Abschiebungsverbot zu begründen. Aus den genannten Erfahrungswerten könne nicht hergeleitet werden, dass eine Unzumutbarkeit des Aufenthalts in Bulgarien gegeben sein werde. Insoweit sei festzuhalten, dass auch keine genaueren Angaben von den Klägern gemacht worden seien. Zudem sei nach gegenwärtiger Informationslage davon auszugehen, dass eine Diskriminierung beziehungsweise rassistische Behandlung nicht systematisch stattfinde und von den Sicherheitsbehörden bei Bekanntwerden etwaiger Vorfälle zügig und wirksam abgestellt werde. Auch der Umstand, generell in Deutschland bleiben zu wollen, begründe keinen systemischen Mangel. Persönliche Präferenzen könnten im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht berücksichtigt werden. Eine Überstellung sei nur für solche Fälle ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorlägen, dass die dortigen Lebensbedingungen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC führten. Diese Schwelle sei selbst bei größter Armut oder einer starken Verschlechterung der Lebensverhältnisse nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sei. Dies sei bei den hiesigen Klägern nicht ersichtlich. Ihnen hätte es zudem oblegen, sich um die Inanspruchnahmen der ihnen im schutzgewährenden Mitgliedsstaat zustehenden Leistungen zu bemühen und auch aus eigener Initiative nach anderer staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Hilfe oder Unterstützung zu suchen. Hinsichtlich derartiger Bemühungen seien keine Hinweise ersichtlich.
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Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK seien ebenfalls nicht gegeben. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bewertet werden. Hinsichtlich der Situation, in der die Kläger im schutzgewährenden Staat leben werden, könne keine andere Wertung erfolgen, als schon zu den Voraussetzungen der Unzulässigkeit anhand der Anforderungen des EuGHs erfolgt sei.
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Es drohten auch keine individuellen Gefahren für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen. Die Schwangerschaft der Klägerin zu 2 stelle per se kein Überstellungshindernis dar. Die Abschiebung scheide grundsätzlich sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt aus. In diesem Zeitraum sei wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von einer Reiseunfähigkeit auszugehen. Im Übrigen sei eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, gegeben. Die Kläger haben in ihrem Vortrag in keiner Weise dargelegt, inwiefern die angegebenen gesundheitlichen Beschwerden eine erhebliche konkrete Gefahr für sie darstellten. Zudem seien keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Kläger als anerkannt Schutzberechtigte von einer medizinischen Versorgung in Bulgarien ausgeschlossen seien.
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Im Falle der Kläger lägen auch keine überwiegend schutzwürdigen familiären Belange vor, die wegen der möglicherweise aus der Asylentscheidung folgenden (räumlichen) Trennung von Teilen der Kernfamilie einer künftigen Abschiebung der Kläger entgegenstehen könnten. Bezüglich der in Deutschland lebenden Familienangehörigen sei festzustellen, dass diese über kein gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügten. Eine bloß vorübergehende verfahrensbegleitende Aufenthaltsgestattung sei nicht ausreichend und könne dem Erlass der Rückkehrentscheidung der Kläger nicht entgegenstehen. Bei den übrigen angegebenen Familienmitgliedern handle es sich insoweit nicht um Mitglieder der Kernfamilie. Diese könnten damit ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Mangels zureichender Erkenntnisse zu berücksichtigungsfähigen Individualinteressen der Kläger könne daher nicht festgestellt werden, dass das staatliche Interesse an einer Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung in den Hintergrund trete. Ferner lägen dem Bundesamt im Zeitpunkt der Asylentscheidung keine Anhaltspunkte zum Gesundheitszustand der Kläger vor, die als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen würden, weil bei einer künftigen Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung die Realisierung einer unmenschlichen Behandlung beziehungsweise eine Suizidgefährdung drohen könnte. Insoweit sei festzuhalten, dass bereits die fehlende Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG als starkes Indiz dafür gelte, dass nicht von der Realisierung einer unmenschlichen Behandlung beziehungsweise einer Suizidgefährdung bei einer künftigen Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung ausgegangen werden könne.
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Die Ausreisefrist von einer Woche folge aus § 36 Abs. 1 AsylG. Um eine mit der Rückführungsrichtlinie zu vereinbarende modifizierende Anwendung zu erreichen, erfolge die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO. Hierdurch beginne die Ausreisefrist nicht vor Ablauf der Klagefrist zu laufen, im Falle der fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht vor Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts über diesen.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Befristung auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder ausreichend vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Die Kläger verfügten nach eigenen Angaben über keine wesentlichen Bindungen im Bundesgebiet, die im Rahmen der Ermessenprüfung zu berücksichtigen seien. Die Brüder seien keine Angehörigen der Kernfamilie. Das nachgeborene Kind könne gemeinsam mit der Familie überstellt werden und bliebe somit nicht in Deutschland zurück.
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Im Übrigen wird auf den Bescheid vom 25.09.2024 verwiesen.
16
Mit Schriftsatz vom 02.10.2024 erhob der Bevollmächtigte der Kläger Klage und beantragt,
- 1.
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Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25.09.2024 wird aufgehoben.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG für die Kläger vorliegen.
- 3.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf null befristet.
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Zur Begründung wurde im Rahmen eines gleichzeitig gestellten Eilantrags (B 7 S 24.32847) im Wesentlichen ausgeführt, den Klägern drohe bei einer Rückführung nach Bulgarien ein Verfahren und eine Unterbringung, die nicht mehr den europäischen Standards entspreche. Bei der Familie mit mehreren minderjährigen Kindern handle es sich um einen besonders schutzwürdigen und vulnerablen Personenkreis. Ihnen werde es nicht gelingen, in Bulgarien ihr Existenzminimum zu erwirtschaften. Die Familie bestehe neben den Klägern noch aus einem einjährigen Kind (geboren am 23.08.2023). Die Kinder seien minderjährig und könnten zur Erwirtschaftung des Familieneinkommens, wenn überhaupt, allenfalls ganz am Rande beitragen. Mit Blick darauf, dass die Kinder nicht einmal schulpflichtig seien, werde auch eine (zumindest vollschichtige) Berufstätigkeit eines der beiden Elternteile nicht in Frage kommen. Unter Verweis auf den Beschluss des VG Saarland vom 20.07.2023 (3 L 1057/23), dem Urteil des VG Oldenburg vom 02.03.2023 (12 A 849/22) und weiterer Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2013 und 2014 tätigte der Klägerbevollmächtigte weitere Ausführungen zur Wohn- und Unterkunftssituation, zur Gesundheitsversorgung sowie zum Arbeitsmarkt in Bulgarien. Im Ergebnis sei die auf Grundlage des „§ 27a AsylVfG“ getroffene Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags rechtswidrig und entsprechend der Empfehlung des UNHCR vom 02.01.2014 von Abschiebungen nach Bulgarien derzeit Abstand zu nehmen. Daher seien Abschiebungsverbote für die Kläger festzustellen.
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Mit Schriftsatz vom 11.10.2024 beantragt das Bundesamt für die Beklagte,
19
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 14.10.2024 ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage vom 02.10.2024 gegen die unter Ziffer 3 des Bescheids vom 25.09.2024 erlassenen Abschiebungsandrohung an, da sich gegenwärtig ein weiteres Kind der Familie in Deutschland im Asylverfahren befinde und daher im Hinblick auf die hiesigen Kläger ein innerstaatliches Abschiebungshindernis gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG bestehe.
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Mit Beschluss der Kammer vom 13.11.2024 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Ferner wurde den Beteiligten mit gerichtlichem Schreiben vom 14.11.2024 mitgeteilt, dass das Gericht beabsichtigt, gem. § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG über die Klage im schriftlichen Verfahren durch Urteil zu entscheiden. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht wurde von Klägerseite daraufhin nicht gestellt. Die Beklagte verzichtete mit Schriftsatz vom 14.11.2024 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
22
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen. Die Bundesamtsakte des weiteren Kindes der Kläger zu 1 und 2 bzw. des Bruders der Klägerin zu 3 (Gz. …*) wurde beigezogen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage kann das Gericht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden. Der Klägerbevollmächtigte wurden mit gerichtlichem Schreiben vom 14.11.2024 darauf hingewiesen, dass das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG beabsichtigt, über die Klage im schriftlichen Verfahren durch Urteil zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wurde auch auf § 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG hingewiesen, wonach auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG). Die Klägerseite hat – weder bis zum Ablauf der vom Gericht gesetzten Frist (02.12.2024), noch bis zum Zeitpunkt des Urteilerlasses – die mündliche Verhandlung beantragt (vgl. hierzu auch VG Gießen, U.v. 21.2.2023 – 8 K 218/22.GI.A – juris; VG Bayreuth, U.v. 6.11.2023 – B 7 K 23.30771 – juris; Redeker in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.1.2024, § 77 AsylG Rn. 4a ff.). Letztlich sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegeben, da es sich bei der vorliegenden Klage gegen einen „Drittstaatenbescheid“ um keinen Fall des § 38 Abs. 1 AsylG bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und die Kläger anwaltlich vertreten sind. Die Beklagte verzichtete mit Schriftsatz vom 14.11.2024 ausdrücklich auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Abschiebungsandrohung – soweit nicht lediglich festgestellt wurde, dass die Kläger nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen – und die Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Unzulässigkeitsentscheidung unter Ziffer 1 des Bescheids sowie die Ablehnung der Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote (Ziffer 2) sind hingegen gerichtlich nicht zu beanstanden.
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1. Die in zulässigerweise erhobene Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris) gegen die Ziffer 1 des Bescheids vom 25.09.2024 bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Die „Unzulässigkeitsentscheidung“ ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag in Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach Mitteilung der bulgarischen Behörden wurde den Klägern am 17.02.2022 (Kläger zu 1) bzw. am 20.02.2023 (Klägerinnen zu 2 und 3) in Bulgarien der subsidiäre Schutzstatus („subsidiary protection“) – und damit internationaler Schutz im Sinne des. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – gewährt.
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b) Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist im Falle der Kläger auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen ausgeschlossen.
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Liegen die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des EuGHs aus Gründen des vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die die Kläger als anerkannt Schutzberechtigte in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, diese der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540.17 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297-17 – juris; BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK (vgl. SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris) im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten bzw. einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris).
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Den hiesigen Klägern droht jedoch nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („ernsthafte Gefahr“, vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris) eine derartige Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC in Bulgarien zu erfahren. Insoweit schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst den Gründen des angefochtenen Bescheides an (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
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aa) Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRC kommt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten grundlegende Bedeutung zu. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat grundsätzlich, dass dieser davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris). Diese Vermutung beansprucht nur dann keine Geltung, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris). Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen damit nach der Rechtsprechung des EuGHs nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris). vgl. auch: BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris). Bei der für Art. 4 GRC maßgeblichen Bewertung der Lebensverhältnisse, die einen Kläger im Falle seiner Rückkehr erwarten, sind zunächst seine Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, zu berücksichtigen. Insoweit ist es den Betroffenen gegebenenfalls auch zumutbar, eine wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden kann (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21- juris). Bei der Bewertung sind ferner die staatlichen Unterstützungsleistungen und auch die – alleinigen oder ergänzenden – dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris).
33
bb) In der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich das erkennende Gericht angeschlossen hat, ist geklärt, dass Asylanträge von Ausländern, die arbeitsfähig und nicht vulnerabel sind und denen die Republik Bulgarien bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat, nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden dürfen (BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris; VGH Mannheim, U.v. 19.7.2024 – A 4 S 257/24 – juris; vgl. auch OVG Münster, B.v. 22.8.2023 – 11 A 3374/20.A – juris m.w.N.; OVG Münster, U.v. 14.2.2024 – 11 A 1440/23.A – juris; OVG Magdeburg, B.v. 12.9.2022 – 3 L 198/21 – juris m.w.N.; OVG Bautzen, U.v. 7.9.2022 – 5 A 153.17.A – juris m.w.N.; VG Bayreuth, U.v. 18.1.2023 – 3 K 22.30076 – juris; VG Bayreuth, B.v. 18.3.2024 – B 7 S 24.30556). Selbst wenn diesen Personenkreis unmittelbar nach Rückkehr schwierige Lebensbedingungen erwarten, geht damit keine mit Art. 4 GRC unvereinbare Situation extremer materieller Not einher. Für anerkannt Schutzberechtigte ist es unter Zuhilfenahme von vorhandenen Unterbringungs- und Unterstützungsangeboten nämlich grundsätzlich möglich, ihre elementarsten Bedürfnisse zu erfüllen (BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris). Zur gegenwärtigen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, insbesondere im Hinblick auf Unterbringung, Arbeitsperspektiven, Hilfsangebote und medizinischer Versorgung verweist das Gericht vollumfänglich auf die Ausführungen des BayVGH (U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris m.w.N.) und des OVG Münster (B.v. 22.8.2023 – 11 A 3374/20.A – juris m.w.N) sowie auf die bisherige Rechtsprechung des hiesigen Gerichts (vgl. z.B. VG Bayreuth, B.v. 18.3.2024 – B 7 S 24.30556; VG Bayreuth, U.v. 30.11.2023 – B 3 K 23.30659 – juris).
34
Auch Familien mit kleinen bzw. kleineren Kindern droht zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Bulgarien nicht ohne weiteres eine Situation extremer materieller Not, in der sie nicht in der Lage wären, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (OVG Münster, B.v. 22.8.2023 – 11 A 3374/20.A – juris m.w.N.; VG Bayreuth, U.v. 18.1.2023 – B 3 K 22.30076 – juris; VG Bayreuth, B.v. 17.7.2024 – B 7 S 24.31749 – juris; VG Bayreuth, U.v. 3.7.2024 – B 7 K 24.30947). Daher ist auch bei Familien mit Kindern stets die individuelle Situation im konkreten Einzelfall zu berücksichtigen (VG Bayreuth, U.v. 10.2.2021 – B 7 K 20.31318 – juris m.w.N.; VG Bayreuth, U.v. 10.2.2021 – B 7 K 20.30929 – juris m.w.N.).
35
cc) Bei Berücksichtigung der individuellen Situation und der Umstände des Einzelfalls (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 25.3.2020 – 21 ZB 19.32508 – juris) besteht nach Überzeugung des Einzelrichters keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verelendung der Kläger in Bulgarien.
36
Insoweit verkennt das Gericht nicht, dass die Kläger in der hier streitgegenständlichen Konstellation (noch) nicht allzu lang in Bulgarien als Familie zusammengelebt haben. Der Kläger zu 1 hielt sich jedoch bereits rund eineindreiviertel Jahre in Bulgarien auf, ohne dass dieser ersichtlich in eine Situation extremer materieller Not geraten ist. Im Herbst 2022 reisten die Klägerinnen zu 2 und 3 im Rahmen der Familienzusammenführung zum Kläger zu 1 nach Bulgarien und lebten fortan als Familie für rund acht Monate in Sofia. Auch in dieser Zeit ist es ersichtlich nicht zu einer drohenden Verelendung der Familie gekommen. Daneben verkennt das Gericht nicht, dass bei der Prüfung, ob einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ausnahmsweise die Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC im schutzgewährenden Mitgliedsstaat entgegensteht, im Regelfall davon auszugehen ist, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverbund in den anderen Mitgliedsstaat zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 1 C 8/23 – juris). Dementsprechend geht auch das hiesige Gericht bei der vorzunehmenden Prognose im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG davon aus, dass die hiesigen drei Kläger zusammen mit dem im Jahr 2023 geborenen weiteren Kind der Familie nach Bulgarien zurückkehren werden. Ferner wird nicht verkannt, dass die Familie aufgrund der Schwangerschaft der Klägerin zu 2 demnächst fünfköpfig sein wird. Auch unter Berücksichtigung dieser familiären Konstellation erachtet das Gericht es jedoch nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass die Familie ihr absolutes Existenzminimum in Bulgarien nicht sichern könnte. Insbesondere erweist sich der Kläger zu 1 als jung, gesund und erwerbsfähig. Er berichtete zwar von einer Beinverletzung und der Notwendigkeit von Physiotherapie. Aus diesem Vortrag – und insbesondere mangels Vorlage ärztlicher Unterlagen – kann aber nicht geschlossen werden, dass der Kläger zu 1 nicht erwerbsfähig wäre. Der Kläger zu 1 verfügt zudem über eine überdurchschnittliche Bildung, indem er in Syrien das Abitur ablegte und anschließend ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat. Trotz seiner Vorbildung ist es ihm auch möglich und zumutbar, einer schlichten Hilfstätigkeit zur Sicherung des absoluten Existenzminiums der Familie nachzugehen. Andererseits ist es der jungen und gesunden Klägerin zu 2 möglich und zumutbar während der Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1 sich um die drei Kinder der Familie zu kümmern. Daneben verweist das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zutreffend auf die in Bulgarien zur Verfügung stehenden Unterstützungsleistungen. Es kann von den Klägern erwartet werden, dass diese sich aktiv um die Gewährung solcher Leistungen kümmern. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dahingehend vor, dass den Klägern zustehende „Sozialleistungen“ willkürlich nicht gewährt werden würden. Daneben war es der Familie offensichtlich bereits in der Vergangenheit möglich, finanzielle Unterstützung durch Bekannte zu rekurrieren. Es ist weder gar getan, noch anderweitig ersichtlich, warum dies – zumindest in der Anfangs- bzw. Übergangszeit – bei einer Rückkehr nach Bulgarien nicht erneut möglich sein soll. Das Gericht sieht daher keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Kläger als Familie in Bulgarien – insbesondere unter Berücksichtigung der Arbeitskraft des Klägers zu 1 und der durch die Klägerin zu 2 in dieser Zeit möglichen Betreuung der Kinder, sowie ggf. unter Inanspruchnahme der ihnen in Bulgarien zustehenden staatlichen Leistungen – ihr absolutes Existenzminimum nicht sichern könnten. Es ist zwar menschlich nachvollziehbar, dass die Familie wegen der besseren Lebens- und Bildungschancen nicht in Bulgarien bleiben wollte und ihr Ziel von Anfang an Deutschland gewesen ist. Diese „Wunschvorstellung“ der Kläger ist aber im Rahmen des maßgeblichen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems rechtlich irrelevant. Die schlechtere Wohnsituation bzw. die schlechteren Arbeits-, Sozial- und Bildungsbedingungen in Bulgarien führen für sich genommen jedenfalls zu keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GRC.
37
Die beim Bundesamt darüber hinaus vorgetragenen Gründe führen ebenfalls zu keiner anderen Einschätzung. Wegen des angeblichen Rassismus kann sich die klägerische Familie an die Polizei wenden. Es ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass insoweit keine Hilfe erfolgt ist bzw. erfolgen wird. Es ferner stellt es sich als bloße Behauptung dar, dass – abgesehen davon, dass die Klägerin zu 3 erst drei Jahre alt ist – der Schulbesuch in Bulgarien kostenpflichtig sei.
38
Letztlich wird noch darauf hingewiesen, dass die von der Klägerin zu 2 geschilderten angeblichen Kosten für die Stellung des Asylantrags schon deswegen im derzeitigen Verfahrensstand der klägerischen Familie zu keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Bulgarien führen, da die hiesigen Kläger das Asylverfahren bereits durchlaufen haben und ihnen internationaler Schutz zuerkannt worden ist.
39
2. Soweit die Kläger die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten unter Ziffer 2 des Bescheids für fehlerhaft erachten und in Bezug auf den Abschiebezielstaat Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG sehen, bleibt das Verpflichtungsbegehren auf Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes ebenfalls ohne Erfolg. Selbst wenn man zugunsten der Kläger davon ausgeht, dass der Klageantrag insoweit in zulässigerweise nur als „Hilfsantrag“ gestellt ist (vgl. BVerwG, B.v. 3.4.2017 – 1 C 9/16 – juris; Berlit, Anmerkung zum B.v. 3.4.2017 – 1 C 9/16 vom 10.7.2017, jurisPR-BVerwG, 114/2017, Anm. 1 – juris), haben die Kläger jedenfalls inhaltlich keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im Hinblick auf Bulgarien festzustellen.
40
a) Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG liegen nicht vor. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der rechtliche Maßstab für eine Verletzung des hier allein in Betracht kommenden Art. 3 EMRK ist im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG identisch mit dem oben unter 1. dargelegten Maßstab im Rahmen der Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris; BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris). Wie ausgeführt, droht den Klägern bei einer Rückkehr nach Bulgarien jedoch keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
41
b) Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht festzustellen. Individuelle Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, insbesondere lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich alsbald nach der Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG), sind nicht glaubhaft gemacht. Der Kläger zu 1 hat beim Bundesamt zwar Probleme mit dem Bein angesprochen. Nähere Einzelheiten blieb der Kläger zu 1 jedoch schuldig, insbesondere wurden keinerlei ärztliche Atteste vorgelegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger zu 1 unter keiner lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich alsbald nach der Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Hinsichtlich der Klägerinnen zu 2 und 3 liegen ersichtlich keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen vor.
42
3. Die erlassene Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheids), die in zulässiger Weise mit der Anfechtungsklage angegriffen wurde, ist jedoch – mit Ausnahme von Ziffer 3 Satz 4 des Bescheids (keine Abschiebung in das Herkunftsland) – rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), da dieser ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG entgegensteht.
43
Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt u.a. in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Der mit Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21.02.2024, BGBl I Nr. 54) mit Wirkung vom 27.02.2024 eingefügte § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG dient der Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vom 15.02.2023 (Az. C-484/22) zur RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie), sodass nunmehr die in Art. 5 Rückführungsrichtlinie genannten Belange bereits bei der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung zu prüfen sind. Da die Rückführungsrichtlinie nicht nur auf Rückführungen in das Herkunftsland Anwendung findet, sondern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Rückführungsrichtlinie insoweit auch auf die angedrohte Abschiebung in einen Mitgliedstaat (Sekundärmigration/Drittstaatenbescheide), sind die nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG zu prüfenden Belange auch bei einer Abschiebungsandrohung i.S.v. § 35 AsylG zu prüfen (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris).
44
Vorliegend hat die Beklagte das im Jahr 2023 geborene weitere Kind der Kläger zu 1 und 2 bzw. den Bruder der Klägerin zu 3 im Rahmen des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG unzutreffend gewürdigt. Die Beklagte meint insoweit, das weitere Kind, welches derzeit in der Bundesrepublik ein Asylverfahren durchläuft, verfüge mit der bloßen Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG über kein gesichertes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Inzwischen ist jedoch bereits obergerichtlich geklärt, dass das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds im Bundesgebiet „nur“ gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist.
45
Das OVG Lüneburg – dessen Auffassung das hiesige Gericht folgt – führte insoweit mit Beschluss vom 27.06.2024 – 4 LA 21/24 – juris Rn. 15 f. aus:
„Die so verstandene Rechtsfrage lässt sich aber ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten (vgl. zur fehlenden Klärungsbedürftigkeit z.B. BVerwG, Beschluss vom 19.1.2022 – 1 B 83.21 –, juris Rn. 21). Denn sie ist bereits in der Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt (so schon Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 1.2.2024 – 10 LA 44/24 –, juris Rn. 14; siehe auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 1.8.2023 – 6 ZB 22.31073 –, juris Rn. 28 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.4.2024 – OVG 12 N 25/24 –, n.v.). Ihre Bejahung ergibt sich aus dem von der Beklagten selbst angeführten Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris), nach dem es aus unionsrechtlicher Sicht gerade nicht genügt, wenn das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen erst in einem dem Erlass der Rückkehrentscheidung nachfolgenden Verfahren Berücksichtigung finden können. Zwar betraf das der Entscheidung des Gerichtshofs zugrundeliegende Ausgangsverfahren das Schutzbegehren eines Kindes, für dessen Vater und dessen ebenfalls noch minderjährige Schwester ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt worden war, weswegen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden war (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 –, juris Rn. 2). Diesen Umstand nahm die zur Auslegung von Art. 5 RL 2008/115/EG formulierte Vorlagefrage aber nicht auf, sondern stellte allgemein darauf ab, dass „aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil“ des Kindes in sein Herkunftsland oder ein anderes aufnahmebereites Drittland „rückgeführt werden“ könne und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedsstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden“ könne (BVerwG, Tenor der EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 –, juris). Auch in der Begründung der Vorlage wurde generell als zweifelhaft angesehen, „ob die deutsche Rechtslage, nach der eine Rückkehrentscheidung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergeht und diese in einem gesonderten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind“, mit dem Unionsrecht vereinbar sei (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 –, juris Rn. 26). Demgemäß betreffen auch die im Rahmen der Beantwortung der Vorlagefrage erfolgten Ausführungen des Gerichtshofs, nach denen Art. 5 RL 2008/115/EG im Hinblick auf seinen Zweck, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte – u.a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes – zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden darf und konkret der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung dessen Situation vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen muss (EuGH, Beschluss vom 15.2.2023 – C-484/22 –, juris Rn. 23 u. 26), allgemein den Fall, dass es zwischen einem Kind und seinen Eltern bzw. innerhalb einer schutzwürdigen familiären Gemeinschaft aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit zu einer Trennung kommen könnte. Diese Situation kann aber auch eintreten, wenn der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds in Deutschland „nur“ gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist.
Dass ein Rechtsgrund für den Aufenthalt im Bundesgebiet auch die Durchführung eines Asylverfahrens ist, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG und entspricht darüber hinaus auch allgemeiner Auffassung (siehe Amir-Haeri, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 55 AsylG Rn. 1; Bender/Bethke/Dorn, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 55 AsylG Rn. 7; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 14. Aufl. 2022, § 55 AsylG Rn. 5; Röder, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Werkstand 15.1.2024, § 55 AsylG Rn. 6). Insoweit handelt es sich, wie die Beklagte in ihrem Zulassungsantrag selbst einräumt, um einen rechtmäßigen Aufenthalt. Warum, wie die Beklagte allerdings weiter meint, nur ein dauerhafter rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik berücksichtigungsfähig sein soll, erschließt sich nicht (so im Ergebnis auch die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung; vgl. die Nachweise bei VG Gießen, Beschluss vom 18.4.2024 – 1 L 1041/24.GI.A –, juris Rn. 15 und 16). Für die Entscheidung, ob dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, ist nicht erheblich, ob der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds dauerhaft rechtmäßig oder – jedenfalls zunächst – nur auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt rechtmäßig ist (ähnlich bereits OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.4.2024 – OVG 12 N 25/24 –, n.v., Beschlussabdruck, S. 3). Denn es ist gerade nicht ausgeschlossen, dass auch der unterschiedliche Verlauf der Asylverfahren von Familienmitgliedern zu einer Trennung auf unabsehbare Zeit führen kann. Dies zeigt beispielhaft der dem Zulassungsantrag zugrundeliegende Fall, in dem die Klägerin gemeinsam mit ihrem damals erst zwei Jahre alten Sohn nach Deutschland einreiste, den nur auf die für sich selbst geltend gemachten Gründe gestützten Asylantrag für ihr Kind kurze Zeit nach ihrem eigenen stellte, eine Entscheidung darüber aber auch zwei Jahre nach der Ablehnung des Schutzgesuchs der Klägerin noch nicht vorlag, obgleich auch der Asylantrag des Kindesvaters schon vor der Einreise von Mutter und Sohn abgelehnt worden war. Dem von der Beklagten zur Untermauerung ihrer Argumentation angeführten Beschleunigungsgebot des Art. 31 Abs. 2 RL 2013/32/EU, nach dem die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass das Prüfverfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird, wurde im Fall des Kindes der Klägerin, ohne dass Gründe dafür ersichtlich wären, gerade nicht Rechnung getragen. Im Übrigen können zwar in die Prüfung, ob der Abschiebung eines Ausländers gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, auch die für die Verstetigung des rechtmäßigen Aufenthalts maßgebenden Erfolgsaussichten des Asylverfahrens des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds eingestellt werden. Dies ändert allerdings nichts daran, dass, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, die Trennung eines erst vierjährigen Kindes von seiner Mutter auf nicht absehbare Zeit zwingend zu verhindern ist. Davon war das Bundesamt in seinem Bescheid vom 2. August 2021 auch selbst ausgegangen und hatte auf die Möglichkeit der Aussetzung der Abschiebung nach § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG verwiesen. Zu der von der Beklagten angestrebten „zeitnahen Rückführung nach Abschluss des Asylverfahrens“ wäre es im Fall der Klägerin daher ohnehin nicht gekommen. Ungeachtet dessen greift der Verweis der Beklagten auf das Beschleunigungsgebot des Art. 31 Abs. 2 RL 2013/32/EU, wenn man es denn auch auf den Erlass der Rückkehrentscheidung bezieht, auch deswegen nicht durch, weil die ausdrücklich unbenommen gelassene „angemessene und vollständige Prüfung“ in diesem Fall auch die Anforderungen von Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG zu berücksichtigen hat.“
46
Vorliegend ist auch keine abweichende Beurteilung im Hinblick auf § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG angezeigt, weil das im Jahr 2023 geborene Kind, das gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland sein Asylverfahren durchläuft, ein in Deutschland nachgeborenes Kind ist, dessen Eltern und Schwester bereits in Bulgarien internationaler Schutz zuerkannt wurde. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass für das nachgeborene Kind (zeitnah) ebenfalls eine „Unzulässigkeitsentscheidung“ bzw. eine Abschiebungsandrohung nach Bulgarien erlassen werden wird. Dass das nachgeborene Kind – unter Wahrung der Familieneinheit – mit den hiesigen Klägern nach Bulgarien abgeschoben werden könnte, ist damit derzeit nicht annähernd zu erwarten. Die Bundesrepublik Deutschland ist nämlich für die Prüfung des Asylantrags eines hier nachgeborenen Kindes von Eltern, denen ein anderer EU-Mitgliedstaat bereits Schutz gewährt hat, jedenfalls dann zuständig, wenn es den anderen Mitgliedstaat nicht fristgerecht um Aufnahme des Kindes ersucht hat. In diesem Fall geht die Zuständigkeit nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin-III-VO auf Deutschland über (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – juris). Ausweislich der Behördenakte des in Deutschland im Jahr 2023 nachgeborenen Kindes, welches bereits am 30.08.2023 einen Asylantrag gestellt hat, wurde Bulgarien bislang nicht einmal um Aufnahme dieses Kindes ersucht, so dass die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen und über dessen Asylbegehren im nationalen Verfahren zu entscheiden sein dürfte.
47
4. Infolge der Aufhebung der Abschiebungsandrohung ist auch die Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 4 des Bescheids) aufzuheben, da es nunmehr an den erforderlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage (§ 11 Abs. 1 und 2 AufenthG) fehlt.
48
5. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 155 Abs. 1 Satz 1, § 159 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VwGO und den § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.