Inhalt

LG Coburg, Endurteil v. 19.04.2024 – 24 O 555/22
Titel:

Verletzung der Räum- und Streupflicht durch den Träger einer Kindertagesstätte

Normenkette:
BGB § 823 Abs. 1
Leitsätze:
1. Grundsätzlich ist die Räum- und Streupflicht der Gemeinden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit auf Straßen, Wegen und Plätzen gem. Art. 69 BayStrWG öffentlich-rechtlich geregelt. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtlich ausgestaltete Amtspflicht, deren Verletzung zu Amtshaftungsansprüchen aus § 839 BGB führt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Gemeinde selbst Eigentümerin des betroffenen Grundstücks ist und sie die Räum- und Streupflicht von Straßen und Gehwegen auf die Anlieger übertragen hat. In diesem Fall haftet die Gemeinde bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht nach den Grundsätzen der Amtshaftung, sondern nach allgemeinem Deliktsrecht gem. § 823 BGB und muss sich wie ein Privatanlieger behandeln lassen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, dh eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer "allgemeinen Glätte" und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Für die Räum- und Streupflicht im Fußgängerbereich gilt, dass häufig beschrittene verkehrswichtige Fußgängerbereiche immer ausreichend geräumt sein müssen. Das bedeutet, dass dem Fußgänger im Winter jedenfalls ein Weg zur Verfügung stehen muss, um sein Ziel zu erreichen. Umwege sind in vertretbarem Umfang hinzunehmen. Je stärker frequentiert der Fußgängerbereich ist, desto höher sind die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht. Weiter hängt der Umfang der Verkehrssicherungspflicht vom möglichen Nutzerkreis des gegenständlichen öffentlichen Verkehrsraums ab. Bereiche, die regelmäßig von besonders sturz- und verletzungsgefährdeten Personen wie Kleinkindern oder Menschen mit Bewegungseinschränkungen benutzt werden, müssen in besonderer Weise gesichert werden. Dabei gilt ein abstrakt-genereller Maßstab, es kommt also nicht darauf an, ob im konkreten Fall der Geschädigte tatsächlich dem Kreis der besonders gefährdeten Personen angehört. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
5. Für die Frage der Verkehrssicherungspflicht kommt es aber nicht auf die Größe oder Belegenheit der Straße an, sondern auf die Tatsache, ob dieser Erschließungsfunktion zukommt. An die Sicherung des Fußgängerverkehrs sind aufgrund des Gefahrenpotentials dabei strengere Anforderungen zu stellen als an die des Fahrverkehrs. Fußwege müssen gestreut werden, soweit auf ihnen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfindet. Dass es sich bei einer Kindertagesstätte um eine besonders gefahrenträchtige Stelle handelt, steht dabei außer Frage, weil die Verkehrsflächen von einer Vielzahl besonders sturzgefährdeter kleiner Kinder und deren Eltern benutzt werden müssen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Deliktsrecht, Gemeinde, Schadensersatz, Verkehrssicherungspflicht, Kindertagesstätte, Räum- und Streupflicht
Rechtsmittelinstanz:
OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 13.02.2025 – 5 U 68/24 e
Fundstelle:
BeckRS 2024, 42538

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Schadensfall vom 06.04.2021 vor der Kinderkrippe „G...“, K. 1, ... R1., zu ersetzen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 75.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um Schadensersatz wegen eines Sturzes infolge Eisglätte.
2
Die Beklagte ist Eigentümerin des Gebäudes K. 1, ... R.. In diesem Gebäude befindet sich der Kindergarten „...“, der vom Bayerischen Roten Kreuz Kreisverband C. betrieben wird. Der Überlassung des Gebäudes an das Bayerische Rote Kreuz liegt ein Betriebsträgervertrag zugrunde, der in § 1 Abs. 2 Satz 3 bestimmt, dass der Träger der Kindertageseinrichtung die Verkehrssicherungs- und Aufsichtspflichten übernimmt. Auf den Betriebsträgervertrag wird im Übrigen verwiesen (Anlage B 3).
3
Für das Gemeindegebiet der Beklagten besteht eine von dieser erlassene „Verordnung über die Reinhaltung und Reinigung der öffentlichen Straßen und der Sicherung der Gehbahnen im Winter.“ Diese enthält unter anderem folgende Regelungen:
„§ 2 Begriffsbestimmungen
(2) Gehbahnen sind
a) Die für den Fußgängerverkehr bestimmten, befestigten und abgegrenzten Teile der öffentlichen Straßen oder
b) In Ermangelung einer solchen Befestigung oder Abgrenzung die dem Fußgängerverkehr dienenden Teile am Rande der öffentlichen Straßen in der Breite von 1,00 m, gemessen von der Straßengrundstücksgrenze aus.
(…)
§ 10 Sicherungsarbeiten
(1) Die Vorder- und Hinterlieger haben die Sicherungsfläche an Werktagen ab 7.00 Uhr und an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen ab 9.00 Uhr von Schnee zu räumen und bei Schnee-, Reif- oder Eisglätte mit geeigneten abstumpfenden Stoffen (z.B. Sand, Splitt), nicht jedoch mit Tausalz oder ätzenden Mitteln zu bestreuen oder das Eis zu beseitigen. Bei besonderer Glättegefahr (z.B. an Treppen oder starken Steigungen) ist das Streuen mit Tausalz zulässig. Diese Sicherungsmaßnahmen sind bis 20.00 Uhr so oft zu wiederholen, wie es zur Verhütung von Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder Besitz erforderlich ist.
(…)
§ 11 Sicherungsfläche
(1) Sicherungsfläche ist die vor dem Vorderliegergrundstück innerhalb der Reinigungsfläche liegende Gehbahn. (…)“
4
Auf die Verordnung wird im Übrigen verwiesen (Anlage K 9).
5
Die Beklagte hielt im Winter 2020/2021 einen Winterdienst vor. Sie stellte den Bereitschaftsdienst für den Winterdienst ab 21.03.2021 aufgrund der zu diesem Zeitpunkt herrschenden milden Witterung ein.
6
Am Morgen des 06.04.2021 herrschten winterliche Verhältnisse mit Glätte. Bei Schichtbeginn um 7:00 Uhr wurden die Fahrzeuge im Bauhof der Beklagten umgerüstet, um Salz laden zu können. Ab 7:30 Uhr begann der Winterdienst gemäß einer Prioritätenliste.
7
Der Kläger behauptet, schon am 05.04.2021 habe nachmittags heftiger Schneefall eingesetzt und die Temperaturen hätten sich konstant unter Null Grad befunden. In der Nacht zum Folgetag 06.04.2021 habe es nicht mehr geschneit. Am 06.04.2021 um 08:30 Uhr sei auf der Zufahrtstraße zum Kindergarten noch kein Schnee geräumt worden. Der Kläger habe zu diesem Zeitpunkt seinen Sohn in die Kinderkrippe bringen wollen. Dabei habe er profiliertes Schuhwerk getragen und sich überaus vorsichtig bewegt. Er sei mit seinem Sohn auf dem Arm entlang des Grundstücks des Kindergartens gegangen, wo er auf eine Glättestelle ausgerutscht sei. Hierdurch habe er eine trimalleoläre Sprunggelenksluxationsfraktur am linken Fuß erlitten, unter deren Folgen er noch immer leide. Es müsse von einer dauerhaften Beeinträchtigung ausgegangen werden. Der Schneefall sei bereits vorher angekündigt gewesen.
8
Der Kläger ist der Ansicht, ihm stehe abhängig vom weiteren Verlauf ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 30.000 € zu. Ihm werde ein Haushaltsführungsschaden in Höhe von mindestens 30.000 € entstehen. Hinzu kämen künftige Verdienstausfallschäden und vermehrte Bedürfnisse, die er mit 15.000 € schätzt.
9
Der Kläger beantragt:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Schadensfall vom 06.04.2021 vor der Kinderkrippe „G...“ zu ersetzen.
10
Die Beklagte beantragt
die Klageabweisung.
11
Die Beklagte bestreitet, dass der Kläger aufgrund von Schnee- und Eisglätte gestürzt sei. Sie behauptet, am Morgen des 06.04.2021 sei es zu einem plötzlichen Wintereinbruch gekommen, der zu Blitzeis geführt habe. Allgemeine Glätte habe nicht geherrscht, sondern nur einzelne Glättestellen. Am 05.04.2021 habe es noch keinen Niederschlag gegeben und es hätten Plusgrade geherrscht. Erst in der Nacht zum 06.04.2021 habe leichter Nieselregen eingesetzt. Erst am Morgen des 06.04.2021 seien die Temperaturen unter Null Grad gefallen, sodass ab ca. 6:30 Uhr der Regen in Schnee übergegangen sei. Für die Beklagte sei der Wintereinbruch nicht vorhersehbar gewesen. Gegen 9:00 Uhr sei vom Winterdienst der Beklagten im Bereich der Kindertagesstätte geräumt und gestreut worden.
12
Die Beklagte ist der Ansicht, die erhobene Feststellungsklage sei mangels feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses und mangels Feststellungsinteresses unzulässig. Ein Anspruch stehe dem Kläger auch in der Sache nicht zu, weil keine allgemeine Glätte geherrscht habe, die aber Voraussetzung für eine die winterliche Räum- und Streupflicht auslösende konkrete Gefahrenlage sei. Der Kläger hätte sich selbst schützen können und müssen. Zudem könne innerhalb des Zumutbaren von der Beklagten nicht verlangt werden, dass die betroffene untergeordnete Nebenstraße zum vermeintlichen Schadenszeitpunkt schon geräumt und gestreut werden musste. Den Kläger treffen jedenfalls ein ganz überwiegendes Mitverschulden, weil er den verschneiten Zustand erkannt habe. Zudem hätte der Kläger mit dem Auto auch bis nach unten fahren können.
13
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … und … Diesbezüglich wird auch die Sitzungsprotokolle vom 11.07.2023 und vom 27.02.2024 verwiesen. Des Weiteren hat es ein Gutachten des Deutschen Wetterdienstes eingeholt. Auf dessen schriftliches Gutachten vom 07.11.2023 wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
14
Die Klage ist zulässig.
15
Der erhobenen Feststellungsklage fehlt es nicht am erforderlichen Feststellungsinteresse. Eine Feststellungsklage ist trotz der Möglichkeit, Leistungsklage zu erheben, zulässig, wenn die Durchführung des Feststellungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass dann, wenn eine Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, der Kläger in vollem Umfang Feststellung der Ersatzpflicht begehren kann (BGH, Urteil vom 19.04.2016 – VI ZR 506/14, NJW-RR 2016, 759 Rn. 6 m.w.N.).
16
Der Kläger hat vorliegend vorgetragen, ein sich künftig vergrößernder Schaden sei wahrscheinlich, weil mit einer dauerhaften Beeinträchtigung zu rechnen sei. Die Beklagte hat dies zwar bestritten. Die Möglichkeit dieses Schadenseintritts ist nur dann zu verneinen, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines derartigen Schadens wenigstens zu rechnen (BGH, Urteil vom 16.01.2001 – VI ZR 381/99, VersR 2001, 874). Mit welchen weiteren Schäden zu rechnen ist, hat der Kläger vorzutragen (BGH, Urteil vom 05.10.2021 – VI ZR 136/20, NJW-RR 2022, 23 Rn. 28). Das hat der Kläger getan. Er hat dargelegt, dass er in der Zukunft wahrscheinlich ein künstliches Sprunggelenk benötigen werde (Protokoll vom 11.07.2023, S. 2). Zudem ergibt sich aus dem Arztbericht vom 06.09.2021 (Anlage K 4), dass auch eine Verhinderung von Arthrose nicht garantiert werden könne.
II.
17
Die Klage ist begründet.
18
Der Kläger kann wegen seines Sturzes am 06.04.2021 von der Beklagten Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB fordern.
19
1. Grundsätzlich ist die Räum- und Streupflicht der Gemeinden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit auf Straßen, Wegen und Plätzen gemäß Art. 69 BayStrWG öffentlich-rechtlich geregelt. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtlich ausgestaltete Amtspflicht, deren Verletzung zu Amtshaftungsansprüchen aus § 839 BGB führt (BGH, Urteil vom 18.12.1972 – III ZR 121/70, NJW 1973, 460, 461).
20
Anders verhält es sich jedoch, wenn die Gemeinde selbst Eigentümerin des betroffenen Grundstücks ist und sie die Räum- und Streupflicht von Straßen und Gehwegen auf die Anlieger übertragen hat. In diesem Fall haftet die Gemeinde bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht nach den Grundsätzen der Amtshaftung, sondern nach allgemeinem Deliktsrecht gemäß § 823 BGB und muss sich wie ein Privatanlieger behandeln lassen (BGH, Urteil vom 05.12.1991 – III ZR 31/90, NVwZ-RR 1992, 604, 605).
21
So verhält es sich hier. Die Beklagte hat durch Rechtsverordnung die Sicherung der Gehbahnen im Winter auf die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke übertragen, wozu sie aufgrund von Art. 51 Abs. 5 BayStrWG ermächtigt war. Unstreitig ist die Beklagte Eigentümerin des Gebäudes, in dem der Kindergarten betrieben wird.
22
2. Zur Überzeugung des Gerichts (§ 286 ZPO) ist der Kläger am 06.04.2021 gegen 8:30 Uhr vor der Kindertagesstätte infolge Schneeglätte gestürzt. Dies folgt aus dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme. Der Kläger hat in seiner informatorischen Anhörung glaubhaft angegeben, dass er am Schadenstag seinen Pkw an der Straße oberhalb des Kindergartens abgestellt habe und seinen Sohn auf dem Arm zu Fuß die Straße hinunter Richtung Eingang des Kindergartens gebracht habe. Dabei sei er „ganz links“ an der Grundstücksgrenze entlanggelaufen. Kurz vor dem Eingang habe er seinen Sohn abgesetzt, weil er ins Rutschen gekommen sei und sei gestürzt.
23
Diese Angaben wird durch die Aussage der Zeugin … bestätigt. Diese sagte aus, am Schadenstag habe jemand zwischen 8:30 Uhr und 8:45 Uhr außerhalb der Krippe, in der sie gearbeitet habe, geschrien. Sie habe dann den Kläger etwas rechts vom Eingang auf der Straße liegend aufgefunden. Sie habe auch eine Rutschspur wahrgenommen, die sie auf der Skizze der Anlage B 2 markiert habe. Die Zeugin konnte die Rutschspur auch auf dem Lichtbild der Anlage K 1, Bild 2 eindeutig zuordnen und mitteilen, dass der Kläger in der Nähe der Rutschspur gelegen habe. Auch die Zeugin R2. machte auf dem Bild eine Glättestelle aus, auf der ihr Kind nur einige Minuten vor dem Kläger ausgerutscht sei (Protokoll vom 27.02.2024, S. 3). Das Gericht hat somit keinen Zweifel, dass sich der Sturz des Klägers tatsächlich an der vom Kläger angegebenen Stelle ereignet hat.
24
Auch die sturzbedingten Verletzungen des Klägers stehen zur Überzeugung des Gerichts fest. Der Kläger hat die Sprunggelenksluxationsfraktur hinreichend durch den Arztbericht vom 12.04.2021, in dem auf einen Sturz am 06.04.2021 Bezug genommen wird, nachgewiesen. Das Bestreiten der Beklagten ist vor diesem Hintergrund unbeachtlich.
25
3. Die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht hat die Beklagte verletzt, indem die Sturzstelle am 06.04.2021 nicht rechtzeitig von Glätte befreit wurde. Auf eine Übertragung der Räum- und Streupflicht auf das Bayerische Rote Kreuz kann sich die Beklagte indes nicht berufen.
26
a) Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d.h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer „allgemeinen Glätte“ und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen (BGH, Urteil vom 14.02.2017 – VI ZR 254/16, NJW-RR 2017, 858 Rn. 7 m.w.N.).
27
Eine solche konkrete Gefahrenlage war vorliegend gegeben. Der Kläger hat angegeben, schon auf dem Weg zur Kindertagesstätte Glättestellen wahrgenommen zu haben (Protokoll vom 11.07.2023, S. 2). Seit dem 05.04.2021 sei eine geschlossene Schneedecke entstanden, die bis zum 06.04.2021 erst einmal liegen geblieben sei (Protokoll vom 11.07.2021, S. 5). Das erfüllt die Anforderungen an eine allgemeine Glätte. Der behauptete Sachverhalt wird bestätigt von der Zeugin L., die ebenfalls von einer Schneeschicht sprach (Protokoll vom 11.07.2021, S. 6), was auch eindrucksvoll vom Lichtbild der Anlage K 1, Bild 2 bestätigt wird, welches am Schadenstag gefertigt wurde. Auf diesem Bild ist deutlich eine vorhandene Schneeschicht am Rande des Grundstückes der Kindertagesstätte zu erkennen. Auch das eingeholte Wettergutachten des Deutschen Wetterdienstes schildert die Bildung einer örtlich vorhandenen 1 bis cm hohe Neuschneedecke in den frühen Morgenstunden des 06.04.2021 (Gutachten vom 07.11.2023, S. 11). Das Gutachten legt zudem dar, dass bereits am 05.04.2021 schauerartige Niederschläge begonnen hätte, die aufgrund mäßigem Frostes „sehr wahrscheinlich verbreitet“ zu Eisglätte geführt hätten. Der später einsetzende Schnee habe die Eisglättestellen teils überdecken können (Gutachten vom 07.11.2023, S. 12).
28
Die Feststellungen des Gutachtens lassen sich mit den Angaben des Klägers und der Zeugin L. ohne Weiteres in Übereinstimmung bringen. Für das Vorliegen einer allgemeinen Glätte am 06.04.2021 spricht letztlich der vom Kläger vorgelegte Zeitungsartikel (Anlage K 7), der über eine Vielzahl von glättebedingten Verkehrsunfällen am 06.04.2021 berichtet. Letztlich spricht auch die von der Beklagten vorgetragene Umrüstung ihrer Einsatzfahrzeuge am Schadenstag für eine groß angelegte Glättesituation. Das vom Zeugen M. vorgelegte Protokoll über „Winterdienst-Einsatz“ (Anhang zum Protokoll vom 27.02.2024) enthält ebenfalls den Eintrag „Schneeglätte, vereiste Straßen“.
29
b) Die Räum- und Streupflicht wäre an besagter Stelle zum Zeitpunkt des Sturzes auch bereits zu erfüllen gewesen. Die Beklagte kann sich weder darauf berufen, dass es sich bei der Unfallörtlichkeit um eine nachrangige Stelle handelt noch dass sie von der Wettersituation überrascht worden sei.
30
aa) Für die Räum- und Streupflicht im Fußgängerbereich gilt, dass häufig beschrittene verkehrswichtige Fußgängerbereiche immer ausreichend geräumt sein müssen. Das bedeutet, dass dem Fußgänger im Winter jedenfalls ein Weg zur Verfügung stehen muss, um sein Ziel zu erreichen; Umwege sind in vertretbarem Umfang hinzunehmen. Je stärker frequentiert der Fußgängerbereich ist, desto höher sind die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht. Weiter hängt der Umfang der Verkehrssicherungspflicht vom möglichen Nutzerkreis des gegenständlichen öffentlichen Verkehrsraums ab. Bereiche, die regelmäßig von besonders sturz- und verletzungsgefährdeten Personen wie Kleinkindern oder Menschen mit Bewegungseinschränkungen benutzt werden, müssen in besonderer Weise gesichert werden. Dabei gilt ein abstrakt-genereller Maßstab, es kommt also nicht darauf an, ob im konkreten Fall der Geschädigte tatsächlich dem Kreis der besonders gefährdeten Personen angehört (OLG Koblenz, Urteil vom 02.10.2014 – 1 U 210/14, BeckRS 2015, 15926).
31
Zwar handelt es sich bei der Straße der Kindertagesstätte um eine untergeordnete Nebenstraße. Für die Frage der Verkehrssicherungspflicht kommt es aber nicht auf die Größe oder Belegenheit der Straße an, sondern auf die Tatsache, ob dieser Erschließungsfunktion zukommt. An die Sicherung des Fußgängerverkehrs sind aufgrund des Gefahrenpotentials dabei strengere Anforderungen zu stellen als an die des Fahrverkehrs. Fußwege müssen gestreut werden, soweit auf ihnen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfindet (OLG Hamm, Urteil vom 30.09.2003 – 9 U 86/03, NZV 2004, 645; OLG Celle, Urteil vom 18.06.2015 – 8 U 288/14, BeckRS 2016, 6874 Rn. 18). Dass es sich bei einer Kindertagesstätte um eine besonders gefahrenträchtige Stelle handelt, steht dabei außer Frage, weil die Verkehrsflächen von einer Vielzahl besonders sturzgefährdeter kleiner Kinder und deren Eltern benutzt werden müssen. Hinzu kommt, dass die Zufahrt zur Kindertagesstätte erkennbar steil bergab geht, was eine zusätzliche Gefahrenquelle bei Eisglätte bedeutet. Dass die Beklagte einen anderen Zuweg zur Kindertagesstätte am Schadenstag geräumt und gestreut hätte, hat diese nicht vorgetragen, sodass offenbleiben kann, ob es einen solchen Weg überhaupt gibt.
32
bb) Auch in zeitlicher Hinsicht war die Verkehrssicherungspflicht am Schadenstag eröffnet. Winterdienstmaßnahmen müssen morgens so rechtzeitig begonnen werden, dass glatte und streupflichtige Verkehrsflächen zu Beginn des Hauptberufsverkehrs, d.h. an Werktagen in der Regel zwischen 7:00 Uhr und 8:00 Uhr, abgestreut sind (BGH, Beschluss vom 20.12.1984 – III ZR 19/84, BeckRS 2010, 11386 Rn. 4; OLG Hamm, Urteil vom 13.09.2002 – 9 U 49/02, NVwZ-RR 2003, 885, 886). Das war vorliegend unstreitig nicht der Fall.
33
Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass der Wintereinbruch für sie völlig überraschend gekommen sei. Zwar verfügt die Beklagte über einen Winterdienst, der nachts die Notwendigkeit einer Räumung beurteilt (vgl. zu diesem Erfordernis: OLG Hamm, Urteil vom 13.09.2002 – 9 U 49/02, a.a.O.). Unstreitig hatte die Beklagte den Winterdienst aber bereits im März eingestellt. Ihren auferlegten Verkehrssicherungspflichten ist sie damit nicht in gebotener Weise nachgekommen. Es mag zutreffen, dass es einer Gemeinde bei Vorliegen einer Extremwettersituation nicht zumutbar ist, eine rechtzeitige Sicherung der Verkehrsflächen zu gewährleisten. Dass es sich bei Glättebildung Anfang April um ein völlig unerwartetes Ereignis handelt, ist indes nicht anzunehmen. Insoweit wird etwa Autofahrern angeraten, den Wechsel auf Winterreifen erst nach Ostern vorzunehmen. Dass für die Bereithaltung des Winterdienstes anderes zu gelten hätte, ist aufgrund der vergleichbaren Sachlage nicht einzusehen.
34
Unabhängig hiervon war das Wetter am 06.04.2021 auch vorhersehbar. Der Zeuge M. hat eine Wettervorhersage für den Schadenstag vorgelegt (Anlage zum Protokoll vom 27.02.2024). Daraus lässt sich ersehen, dass es am 05.04.2021 abends zu Niederschlägen kommen sollte und die Temperaturen in der Nacht zum 06.04.2021 unter den Gefrierpunkt fallen würden. Des Weiteren wurde Neuschnee für den 06.04.2021 vorhergesagt. Auf der Vorschau, ausgestellt am 05.04.2021 heißt es gar unter dem Stichwort „Schneeglätte“ ausdrücklich für den Zeitraum 06.04.2021, 2:00 Uhr bis 08:00 Uhr „verbreitet“ bzw. „gebietsweise“. Der Einwand der Beklagten, der Wintereinbruch sei plötzlich, unangekündigt und nicht vorhersehbar gekommen (Klageerwiderung, S. 5), ist damit nicht in Einklang zu bringen.
35
c) Die vertragliche Übertragung der Räum- und Streupflicht auf das Bayerische Rote Kreuz für den Bereich der Sturzstelle entlastet die Beklagte nicht. Der Zeuge M. hat ausgesagt, die Beklagte verrichte den Winterdienst für die Straße vor der Kindertagesstätte. Er hat auch den Streifen unmittelbar vor der Grundstücksgrenze einbezogen. Das Räumfahrzeug streue diesen Bereich bei der Fahrt zurück ab.
36
Die Aussage deckt sich mit den Angaben der Zeugin …. Diese sagte aus, dass die Mitarbeiter der Kindertagesstätte die Weisung hätten, nur den Bereich unmittelbar am Eingang zu räumen und streuen, nicht aber dort, wo der Sturz gewesen sei. Damit hat die Beklagte die Räum- und Streupflicht faktisch wieder selbst übernommen, sodass die gelebte Vereinbarung von der schriftlichen Vereinbarung in relevanter Weise abwich mit der Folge, dass die Beklagte die Verkehrssicherungspflicht an der genannten Stelle hatte.
37
Selbst wenn man annähme, dass die Verkehrssicherungspflicht für den Gehweg beim Bayerischen Roten Kreuz verblieben wäre, läge eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten durch mangelnde Überwachung der Räum- und Streupflicht vor. Denn trotz Delegation der Verkehrssicherungspflicht auf einen Dritten verbleibt eine Überwachungspflicht beim Eigentümer des Grundstücks (BGH, Urteil vom 27.11.1984 – VI ZR 49/83, NJW 1985, 484, 485). Da das Bayerische Rote Kreuz den Winterdienst auf der Gehbahn direkt neben dem Grundstück der Kindertagesstätte zu keinem Zeitpunkt verrichtet hat, wie die Zeugin L. glaubhaft ausgesagt hat, hätte dies der Beklagten jedenfalls auffallen müssen. Dass Überwachungsmaßnahmen der Beklagten erfolgt sind, hat diese nicht vorgetragen.
38
4. Ein Mitverschulden des Klägers gemäß § 254 Abs. 1 BGB ist nicht anzunehmen. Die bloße Tatsache des Sturzes stellt noch kein hinreichendes Indiz für eine Unachtsamkeit des Klägers dar (OLG Hamm, Urteil vom 13.09.2002 – 9 U 49/02, a.a.O.). Es ist deshalb zu untersuchen, aus welchen besonderen Umständen des Falles das Mitverschulden hergeleitet werden soll (OLG Celle, Urteil vom 18.06.2015 – 8 U 288/14, BeckRS 2016, 6874 Rn. 27).
39
Anhaltspunkte für ein Mitverschulden hat die Beklagte nicht dargelegt. Der Kläger hat vorgetragen, er habe Wanderschuhe mit gutem Profil getragen. Dies wurde von der Beklagten nicht widerlegt. Zwar steht schon nach den eigenen Angaben des Klägers fest, dass er die Glätte wahrgenommen hat. Dass der Kläger in irgendeiner Weise den Gang über die glatte Stelle vermeiden konnte, ist aber nicht erkennbar. So war der Kläger darauf angewiesen, seinen Sohn in der Kindertagesstätte abzuliefern. Der Kläger gab an, eigens den Weg über den Schnee gegangen zu sein, weil ihm dieser Bereich sicherer erschienen sei als die Reifenspuren in der Mitte der Fahrbahn. Das ist aus der Betrachtung ex-ante nachvollziehbar und nicht zu beanstanden. Auch die Tatsache, dass der Kläger nicht mit dem Pkw weiter bergab gefahren ist, begründet kein Mitverschulden. Nach den unwiderlegten Angaben des Klägers wäre der Weg dort nicht weniger gefährlich gewesen (Protokoll vom 11.07.2023, S. 4). Dies gilt zumal, weil der Sturz ohnehin dicht am Eingang des Gebäudes geschah.
40
Nach dem Vorstehenden hat die Beklagte für den Schaden des Klägers in vollem Umfang einzustehen.
III.
41
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.