Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 22.01.2024 – Ws 1178/23
Titel:

Mitwirkungsrecht der Staatsanwaltschaft in Strafvollstreckungssachen

Normenkette:
StPO § 33 Abs. 2, § 311 Abs. 3 S. 2, § 454 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3
Leitsätze:
Bei der mündlichen Anhörung der Sachverständigen vor Aussetzung eines Strafrests zur Bewährung nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO soll der Sachverhalt umfassend erörtert und aufgeklärt werden. Das Mitwirkungsrecht der Staatsanwaltschaft bei der mündlichen Anhörung geht über das Anhörungsrecht gemäß § 454 Abs. 1 S. 2 StPO hinaus. Eine Verletzung des Mitwirkungsrechts wird durch die Möglichkeit, Vorbringen der Staatsanwaltschaft im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen, nicht geheilt. (Rn. 15 und 16)
Eine Zurückweisung der Sache an das untere Gericht kommt in Betracht, wenn ein durch das Beschwerdegericht nicht behebbarer Verfahrensmangel vorliegt, wie es mit der mündlichen Anhörung der Sachverständigen unter Verletzung der Teilnahme- und Mitwirkungsrechte der Staatsanwaltschaft bei relevantem neuen Vorbringen der Staatsanwaltschaft und der Vollzugsanstalt der Fall ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafvollstreckung, Anhörung, Staatsanwaltschaft, Sachverständiger, Heilung, Beschwerdeverfahren, Mitwirkungsrecht, Vollzugsanstalt
Vorinstanz:
LG Regensburg, Beschluss vom 12.12.2023 – SR StVK 583/23
Fundstellen:
StV 2025, 42
BeckRS 2024, 4236
FDStrafR 2024, 004236
LSK 2024, 4236

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 12.12.2023 aufgehoben.
2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an die auswärtige kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Die Verurteilte verbüßt zurzeit in der Justizvollzugsanstalt St. die mit Urteil des Landgerichts Landshut vom 27.04.2018 wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 32 Fällen, des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und des sexuellen Missbrauchs eines Kindes gegen ihn verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren neun Monaten. Der Zweidrittelzeitpunkt war am 30.07.2023 erreicht, das Strafende ist für den 31.10.2025 vorgemerkt.
2
Mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 06.06.2023 hat der Verurteilte beantragt, die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung auszusetzen.
3
Die Staatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 16.06.2023 beantragt, die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen, da dies in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt St. vom 20.04.2023 unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht verantwortet werden könne.
4
Mit Beschluss vom 11.08.2023 hat die Strafvollstreckungskammer gemäß § 454 Abs. 2 StPO ein externes Sachverständigengutachten zur „Persönlichkeit und Gefährlichkeit“ des Verurteilten in Auftrag gegeben.
5
Das Sachverständigengutachten vom 28.11.2023 ist am 01.12.2023 bei Gericht eingegangen. Mit Verfügung vom 05.12.2023 wurde es an die Verfahrensbeteiligten mit einer Stellungnahmefrist von zwei Wochen hinausgegeben. Mit Verfügung vom 07.12.2023 hat das Landgericht Termin zur Anhörung der Sachverständigen bestimmt auf 12.12.2023 und eine Terminsmitteilung an die Verfahrensbeteiligten versandt. Die Sachverständige wurde im mündlichen Anhörungstermin vom 12.12.2023 in Anwesenheit des Verurteilten und seiner Verteidigerin zum Gutachten gehört. Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft oder der Vollzugsanstalt war nicht anwesend.
6
Das Schreiben des Landgerichts vom 05.12.2023 war bei der Staatsanwaltschaft am 08.12.2023 eingegangen, die Terminsmitteilung betreffend den Anhörungstermin vom 12.12.2023 am 12.12.2023.
7
Mit Beschluss vom 12.12.2023 hat die auswärtige kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von mehr als Zweidrittel der Verurteilung ab Rechtskraft des Beschlusses zur Bewährung ausgesetzt.
8
Gegen diesen ihr am 18.12.2023 zugestellten Beschluss richtet sich die am 18.12.2023 eingegangene sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landshut, die damit begründet wird, dass die Staatsanwaltschaft zum Sachverständigengutachten nicht gehört wurde und sie auch nicht rechtzeitig vom mündlichen Anhörungstermin vom 12.12.2023 in Kenntnis gesetzt wurde. Das Gericht habe daher ohne Berücksichtigung der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft und der von ihr eingeholten Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt St. vom 12.12.2023 vor Ablauf der durch das Landgericht gesetzten Stellungnahmefrist entschieden. Die Staatsanwaltschaft habe keine Gelegenheit gehabt, Fragen an die Sachverständige zu richten. Letztere habe weder die Therapieakten der Justizvollzugsanstalt noch die Ermittlungsakten zur Erstellung des Gutachtens beigezogen, deren Inhalte sich auf die Prognose und Nachsorgeempfehlungen hätten auswirken können. Der Verurteilte sei ein unbehandelter Sexualstraftäter mit Sozialtherapieindikation, wobei ein erneuter stationärer Sozialtherapieversuch bis zum Strafende zeitlich möglich wäre.
9
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, auf die sofortige Beschwerde den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Restfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen. Die Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs der Staatsanwaltschaft seien nicht heilbar. Das Gericht habe die Möglichkeit der außerordentlichen Abhilfe nach § 311 Abs. 3 S. 2 StPO nicht erkannt.
10
Der Verurteilte hat sich mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 18.01.2024 zum Antrag der Generalstaatsanwaltschaft geäußert.
II.
11
Die zulässige sofortige Beschwerde (§§ 454 Abs. 3 Satz 1, 311 StPO) der Staatsanwaltschaft hat auch in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.
12
1. Die fehlende Erklärungsmöglichkeit der Staatsanwaltschaft vor der Entscheidung (§§ 33 Abs. 2, 454 Abs. 1 S. 2 StPO) führt nicht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
13
Zwar erging der Beschluss vom 12.12.2023 vor Ablauf der der Staatsanwaltschaft mit gerichtlicher Verfügung vom 05.12.2023 für die Abgabe einer Stellungnahme eingeräumten zweiwöchigen Frist. Die unterlassene Anhörung der Staatsanwaltschaft wird aber durch ihre Anhörung im Beschwerdeverfahren geheilt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 454 Rn. 47 m.w.N.). Das Beschwerdegericht entscheidet in der Sache vollumfänglich.
14
Damit kommt es auch nicht darauf an, dass die Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit, gemäß § 311 Abs. 3 S. 2 StPO der Beschwerde abzuhelfen, nicht geprüft hat.
15
2. Das Landgericht hat das Mitwirkungsrecht der Staatsanwaltschaft bei der nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO gebotenen mündlichen Anhörung der Sachverständigen in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Dies wird mit der Anhörung der Staatsanwaltschaft im Beschwerdeverfahren nicht geheilt, so dass der angefochtene Beschluss aufzuheben ist.
16
Es handelt sich bei dem Mitwirkungsrecht zwar um eine Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das jedoch über ein bloßes Anhörungsrecht hinausgeht. Mit der mündlichen Erörterung des Gutachtens soll der Sachverhalt umfassend aufgeklärt werden. Die gesetzlich geregelten Teilnahme- und Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten dienen dazu, das Sachverständigengutachten – gegebenenfalls unter Einführung und Vorhalt des Inhalts der Ermittlungsakten oder Therapieakten – zu diskutieren und zu hinterfragen, wobei nicht auszuschließen ist, dass dies im Einzelfall zu einer Änderung der Prognoseeinschätzung der Sachverständigen führen kann. Das Mitwirkungsrecht der Staatsanwaltschaft geht über die Berücksichtigung des Vorbringens im Beschwerdeverfahren hinaus, so dass der Verfahrensverstoß damit nicht geheilt wird.
17
3. Die Sache wird wegen der erforderlichen weiteren Sachaufklärung durch erneute Anhörung der Sachverständigen unter Beachtung der gesetzlichen Mitwirkungsrechte zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen, weil aufgrund des Verfahrensmangels eine Beschwerdeentscheidung in der Sache nicht möglich ist.
18
Zwar ist eine Zurückweisung der Sache an das untere Gericht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig. Sie kommt aber in Betracht, wenn ein durch das Beschwerdegericht nicht behebbarer Verfahrensmangel vorliegt, wie es mit der mündlichen Anhörung der Sachverständigen unter Verletzung der Teilnahme- und Mitwirkungsrechte der Staatsanwaltschaft bei relevantem neuen Vorbringen der Staatsanwaltschaft und der Vollzugsanstalt der Fall ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rdn. 9 m.w.N.).