Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 02.12.2024 – Au 9 K 23.1537
Titel:

Anfechtungsklage, Rückerstattung von gewährten Vergütungen nach der TestV, Betrieb einer Teststation in der Corona-Pandemie, Ermessensausfall, Rückwirkung

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
TestV § 7 Abs. 1
TestV § 7a Abs. 5 S. 2
BayVwVfG Art. 48
Schlagworte:
Anfechtungsklage, Rückerstattung von gewährten Vergütungen nach der TestV, Betrieb einer Teststation in der Corona-Pandemie, Ermessensausfall, Rückwirkung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 42355

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 17. April 2023 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich als Rechtsnachfolgerin des „Corona-Testzentrums ...“ gegen eine Rückforderung der Beklagten in Höhe von insgesamt 19.025,07 EUR.
2
Mit Schreiben des Landratsamts ... vom 14. April 2021, 11. Mai 2021 und 14. Mai 2021 wurde das „Corona-Testzentrum ...“ als Leistungserbringer mit der Durchführung von PoC-Antigentests (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 Corona-Virus-Testverordnung – TestV) beauftragt.
3
In den unterzeichneten Vereinbarungen ist die Beauftragung und Abrechnung wie folgt geregelt:
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„Wir erteilen Ihnen hiermit den Auftrag, Antigen-Schnelltests vorzunehmen. Nach der TestV können die Beschaffung der Antigen-Schnelltests gemäß § 11 TestV und das Gespräch, die Entnahme von Körpermaterial, die Ergebnismitteilung und die Ausstellung eines Zeugnisses über das Vorliegen oder das Nichtvorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus Sars-Cov-2 im Zusammenhang mit einer Testung gemäß § 12 Abs. 2 TestV abgerechnet werden. Die Abrechnung der von ihnen erbrachten Leistungen erfolgt allein gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) nach den Regelungen der TestV. Weder der Freistaat Bayern noch das beauftragende Gesundheitsamt werden durch diese Vereinbarungen zur Erbringung von Leistungen verpflichtet.“
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Der Betrieb der Teststellen wurde am 21. Mai 2021 am ...ring ... (Drivein) und am, ...-...-Weg in ... aufgenommen. Der Betrieb beider Teststellen wurde am 19. Juni 2021 abgemeldet.
6
Mit Schreiben vom 16. August 2021 rechnete die Beklagte mit dem damaligen „Corona Testzentrum ...“ eine Honorarsumme in Höhe von 45.225,00 EUR (14.580,00 EUR für Mai 2021 und 30.645,00 EUR für Juni 2021 abzüglich Verwaltungskosten in Höhe von 510,30 EUR bzw. 612,90 EUR) ab. Für Sachkosten für die PoC-Antigentests im Mai 2021 wurde ein Betrag von 38.384,64 EUR ausgezahlt. Der Gesamtabrechnungsbetrag betrug 82.486,44 EUR.
7
Mit Schriftsatz der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) vom 30. November 2022 wurde gegenüber dem „Corona-Testzentrum ...“ mitgeteilt, dass im Rahmen von nachgelagerten Qualitätssicherungsprüfungen bei der Abrechnung Implausibilitäten aufgefallen seien. Insbesondere handele es sich hierbei um eine Diskrepanz zwischen den abgerechneten Leistungen nach § 12 TestV und den abgerechneten Sachkosten nach § 11 TestV. Gemäß § 11 TestV und den Vorgaben der kassenärztlichen Großbundesvereinigung (Vorgaben KVB-LE mit Wirkung zum 1. Juli 2021) würden für Testungen nach § 4a TestV lediglich die tatsächlich genutzten POC-Antigen-Tests abgerechnet. Darüber hinaus dürften Sachkosten für POC-Tests nur für die tatsächlich verbrauchten Tests und nur bis zur Höhe der vom öffentlichen Gesundheitsdienst genehmigten Menge abgerechnet werden. Für den Monat Mai 2021 seien lediglich 1.111 Bürgertest-Abstriche nach § 12 Abs. 1 i.V.m. 4a TestV nachgewiesen worden. Die Anzahl der beschafften Test-Kits betrage jedoch 6.400, sodass sich eine Differenz im Umfang von 5.389 Tests ergebe. Für Juni 2021 seien 2.216 Test-Durchführungen nachgewiesen worden. Ein Beschaffungsnachweis sei hierfür nicht erfolgt. Insgesamt ergebe sich damit eine Differenz von 3.123 zu viel abgerechneter Test-Kits.
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Das damalige „Corona-Testzentrum ...“ berief sich dagegen auf die Aussagen seitens der KVB, des zuständigen Ministeriums und des Landratsamts bezüglich der korrekten Abrechnungsmodalitäten, wonach man wirtschaftlich planen solle und alle beschafften Test-Kits erstattet würden. Deshalb sei eine entsprechend erhöhte Menge an Test-Kits beschafft worden. Die Anzahl der beschafften Test-Kits für einen Monat habe der internen Kalkulation entsprochen. Im Juni 2021 sei aufgrund der sinkenden Inzidenz und des damit verbundenen Wegfalls der Testpflicht eine Fortführung des Testzentrums nicht mehr wirtschaftlich sinnvoll gewesen. Die für Mai und Juni 2021 eingereichten Testabrechnungen seien erst im August nach mehrmaliger Nachfrage beglichen worden. Sowohl die angeschafften wie auch die Anzahl der durchgeführten Tests sei eingereicht und genehmigt worden. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe es Qualitätssicherungen und Nachkontrollen gegeben. Die nicht verbrauchten Test-Kits seien der KVB nach Schließung zur Rücknahme angeboten worden. Dies sei abgelehnt worden.
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Die Beklagte verwies darauf, dass nach den Vorgaben der KVB-LE vom 19. März 2021 Leistungserbringer nach § 6 Abs. 1 TestV, die Testungen gemäß §§ 2, 3 und 4 Abs. 1 Nr. 1 und § 4a TestV nach den tatsächlich genutzten PoC-Antigentests abrechneten. Die KVB sei zur Umsetzung der TestV gegenüber dem erlassenden Bundesministerium für Gesundheit verantwortlich.
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Mit Schriftsätzen vom 30. November 2022, 3. Januar 2023 und vom 17. April 2023 forderte die Beklagte das „Corona-Testzentrum ...“ auf, aufgrund der zu viel abgerechneten Test-Kits eine Rückzahlung in Höhe von insgesamt 19.025,07 EUR an die Beklagte zu veranlassen.
11
Mit Schriftsatz vom 25. April 2023 wurde die Rückforderung der Beklagten in vollem Umfang zurückgewiesen. Gegen das Schreiben vom 17. April 2023 wurde Widerspruch eingelegt.
12
Die Beklagte teilte unter dem 23. August 2023 mit, dass gegen die Entscheidung vom 17. April 2023 der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei. Ein Widerspruchsverfahren sei demnach nicht statthaft. Es wurde Gelegenheit gegeben, den Widerspruch zurückzunehmen. Dem kam der Bevollmächtigte der Klägerin im Folgenden nicht nach.
13
Mit Schriftsatz vom 22. September 2023 hat der Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt zuletzt,
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Die Bescheide der Beklagten vom 30. November 2022, 3. Januar 2023 und 17. April 2022 werden aufgehoben.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Beklagte einen formellen Widerspruchsbescheid nicht erlassen habe. Nach Auffassung der Klägerin sei zunächst das formelle Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die Klageerhebung sei vorsorglich im Hinblick auf den Schriftsatz der Beklagten vom 23. August 2023 erhoben worden.
16
Mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 11. April 2024 wurde der Widerspruch des Corona-Testzentrum ... „zurückgewiesen“. Zur Begründung ist ausgeführt, dass der Widerspruch bereits unzulässig sei. Das Widerspruchsverfahren sei gemäß § 68 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 Bayerisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) im verwaltungsrechtlichen Verfahren bezüglich der Abrechnung nach der TestV unstatthaft. Ein Fall des Art. 12 Abs. 1 AGVwGO liege gerade nicht vor. Folglich sei das Widerspruchsverfahren bereits unzulässig. Die erhobenen Widersprüche seien trotz des erfolgten Hinweises auf deren Unzulässigkeit aufrechterhalten worden. Daher sei der Widerspruch zurückzuweisen gewesen.
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Zur weiteren Begründung der Klage ist mit Schriftsatz vom 30. April 2024 ausgeführt, dass die Beklagte der Klägerin bzw. deren Rechtsvorgängerin die Abrechenbarkeit der Sachkosten zugesichert habe und die letztendlich nicht verbrauchten Test-Kits im Vertrauen auf die Abrechenbarkeit der Sachkosten bestellt worden seien. Überdies seien die geltend gemachten Sachkosten in der bis Juni 2021 geltenden Fassung der TestV zweifelsfrei abrechenbar gewesen. Die Klägerin habe in Verbindung mit der entsprechenden Zusicherung der Beklagten und dem beauftragenden Landratsamt ... hierauf vertraut. Die Abrechenbarkeit der Test-Kits ergebe sich aus der beigezogenen Akte des Landratsamts .... Die Abrechnung der Beschaffungskosten durch die Klägerin bzw. das „Corona-Test Zentrum ...“ habe der TestV bis Juni 2021 entsprochen. Die KVB-LE enthielten hinsichtlich der Beschaffungskosten keine Bindungswirkung. Das Landratsamt ... habe ausdrücklich klargestellt, dass entsprechend der Testverordnung, die Beschaffung der Antigen-Schnelltests gemäß § 11 TestV abgerechnet werden könne. Nach § 11 TestV seien für selbstbeschaffte PoC-Antigen-Tests die Sachkosten in Höhe der tatsächlich entstandenen Beschaffungskosten bis zu einem Betrag von höchstens neun Euro (bis 31. März 2021) bzw. ab dem 1. April 2021 von höchstens sechs Euro je Test zu bezahlen. Dem würden die Vorgaben der KVB-LE widersprechen, auf die sich die Beklagte berufe. Bei der TestV handele es sich um eine Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums, bei der KVB-LE um eine reine Verwaltungsvorschrift mit allenfalls mittelbarer Außenwirkung. Darüber hinaus genieße die Klägerin Vertrauensschutz. Die Vereinbarung mit dem Landratsamt ... sei bezüglich der Abrechenbarkeit der Beschaffungskosten ohne Rücksicht auf die insoweit anderslautenden Abrechnungsvorgaben der KVB-LE bindend. Jedenfalls sei durch die Vereinbarung vom 14. April 2021 ein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Dieses Vertrauen sei aufgrund der Sondersituation der Pandemie auch schutzwürdig. Überdies sei durch die dreimonatige Prüfung der Abrechnung vor der Auszahlung durch die Beklagte selbst ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, auf den sich die Klägerin berufe. Schließlich habe die Klägerin das Gebot der wirtschaftlichen Planung in der TestV im besonderen Maße ernst genommen und beachtet. Dementsprechend habe die Klägerin bzw. das „Corona-Testzentrum ...“ lediglich Testmaterial für zwei Monate beschafft. Der Wegfall der Testpflicht sei zum Zeitpunkt der Beschaffung nicht vorherzusehen gewesen.
18
Mit Schriftsatz vom 26. September 2024 wurde dem Gericht mitgeteilt, dass die ehemalige Mitgesellschafterin Dr. F.K. die Gesellschaft verlassen habe. Das Gericht hat daraufhin einen Parteiwechsel vorgenommen und das Klageverfahren mit der verbliebenen Gesellschafterin Dr. I.R. fortgeführt.
19
Die Beklagte ist der Klage mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2024 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
21
Zur Begründung ist ausgeführt, dass der Bescheid vom 17. April 2023 in rechtmäßiger Weise erlassen worden sei. Gemäß Art. 12 Abs. 2 AGVwGO sei kein Vorverfahren durchzuführen. Im Bescheid vom 17. April 2023 sei die mit Bescheid vom 16. August 2021 festgesetzte Vergütung für Sachkosten teilweise zurückgenommen und auf insgesamt 3.277,00 EUR neu festgesetzt worden. Bereits § 7a Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Satz 3 TestV berechtige die Beklagte zur Rücknahme der Zahlungsbescheide sowie zur Rückforderung der gewährten Vergütung. § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV sei eine abschließende Regelung hinsichtlich der Rücknahme als auch hinsichtlich der Rückforderung. Der Verordnungsgeber habe eine Rückforderung vorgesehen, wenn die Leistung nicht oder nicht ordnungsgemäß erbracht wurde, die Dokumentationspflichten nicht oder nicht vollständigen erfüllt wurden oder die geltend gemachten Kosten nicht den tatsächlichen Kosten entsprochen haben. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 7a Abs. 5 Satz 3 TestV müsse die Beklagte zwingend den ausgezahlten Betrag zurückfordern; es handele sich hierbei um eine gebundene Entscheidung. Nichts anderes ergebe sich aus Art. 48 Abs. 1 i.V.m. Art. 48 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG). Die Klägerin habe durch die unrichtige Angabe zur Abrechnung von Sachkosten einen rechtswidrigen Verwaltungsakt erwirkt. Im Rahmen der Abrechnungsprüfung nach § 7a Abs. 1 TestV sei der Beklagten die Implausibilität aufgefallen. Bezüglich der zu hohen Abrechnung von Sachkosten liege ein Verstoß gegen Ziffer 1.3.1 Nr. 4 der Vorgaben der KVB-LE vor. Damit bestehe ein Rückforderungsanspruch gemäß § 7a Abs. 5 Satz 2 und 3 Variante 3 TestV. Die Klägerin habe nur die Sachkosten abrechnen dürfen, die auch tatsächlich verbraucht worden seien. Die geltend gemachten Kosten hätten aber nicht den tatsächlichen Kosten entsprochen. Die Sachkosten seien nicht losgelöst von den erbrachten Leistungen. Auch sei in § 11 TestV von vornherein beabsichtigt gewesen, eine Begrenzung der Abrechenbarkeit zu gewährleisten. Es habe seitens des Verordnungsgebers gerade keine Rechtsgrundlage dafür geschaffen werden sollen, PoC-Antigen-Tests in unbegrenztem Umfang zu beschaffen und vergütet zu bekommen. Einer solchen Auslegung sei § 11 TestV nicht zugänglich. Die Klage sei daher abzuweisen.
22
Auf den weiteren Vortrag im Klageerwiderungsschriftsatz vom 23. Oktober 2024 wird ergänzend verwiesen.
23
Mit Schriftsatz der Klägerin vom 4. November 2024 wurde beantragt, die ehemalige Mitgesellschafterin Dr. F.K. als Zeugin zu laden.
24
Die Beklagte verwies darauf, dass das Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend substantiiert sei. Es sei bereits nicht ersichtlich, wann und durch welchen Mitarbeiter der Beklagten eine Zusicherung erteilt worden sein solle. Auch sei die Voraussetzungen des Art. 38 Abs. 1 BayVwVfG nicht erfüllt. Hiernach bedürfe es einer Zusage von der zuständigen Behörde in schriftlicher Form. Eine solche sei vorliegend nicht gegeben. Etwaige Auskünfte des Landratsamts ... als nicht zuständige Behörde für die Abrechnung nach TestV könnten bereits mangels Zuständigkeit keine Zusicherung begründen. Auch wäre es im Mai 2021 nicht zulässig gewesen, die Gesamtzahl der bestellten Test-Kits abzurechnen. Insoweit werde auf die maßgeblichen Vorgaben der KVB-LE verwiesen. Bereits mit Wirkung zum 15. Oktober 2022 sei auf die tatsächlich genutzten PoC-Antigen-Tests abzustellen gewesen. Somit hätten diese auch zum Zeitpunkt der Bestellung und Leistungserbringung für die Klägerin gegolten.
25
Am 2. Dezember 2024 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
26
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, auf die von der Beklagten vorgelegte elektronische Verfahrensakte und die vom Landratsamt ... beigezogene Behördenakte betreffend die Beauftragung zur Leistungserbringung verwiesen.

Entscheidungsgründe

27
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 17. April 2023 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
28
1. Die Klage ist zulässig.
29
Insbesondere ist der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Der Rechtsstreit ist öffentlich-rechtlicher Natur und nicht verfassungsrechtlicher Art. Er ist auch nicht ausdrücklich einem anderen Gericht zugewiesen (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 21.3.2024 – 3 B 12.23 – juris Rn. 6) ist für die Klage eines vom öffentlichen Gesundheitsdienst beauftragten Betreibers einer Coronavirus-Teststelle auf Vergütung von Leistungen nach der Coronavirus-Testverordnung (TestV) der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Gleiches hat demnach auch für eine Rückforderung der Leistungen als „actus contrarius“ zu gelten. Die Voraussetzungen für eine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten nach § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.
30
2. Die Klage ist begründet. Der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 17. April 2023 ist rechtswidrig und die Klägerin hierdurch in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.1 Da das Bürgertestzentrum lediglich im Zeitraum zwischen dem 21. Mai 2021 und dem 19. Juni 2021 betrieben wurde, ist für die Sach- und Rechtslage des geltend gemachten Anspruchs der Beklagten auf Rückforderung gewährter Vergütungen auf die Fassung der Coronavirus-Testverordnung (TestV) vom 8. März 2021 abzustellen, die nach § 19 Abs. 2 der Coronavirus-Testverordnung (TestV) vom 24. Juni 2021 mit Ablauf des 30. Juni 2021 außer Kraft getreten ist.
32
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich die Frage des richtigen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach dem Prozessrecht, so dass die Klägerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit einem Aufhebungsbegehren wie mit einem Verpflichtungsbegehren nur dann Erfolg haben kann, wenn sie im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die erstrebte Aufhebung des Verwaltungsakts bzw. einen Anspruch auf die erstrebte Leistung hat. Ob ein solcher Anspruch jedoch besteht, das heißt, ob ein belastender Verwaltungsakt die Klägerin im Sinne des § 113 Abs. 1 VwGO rechtswidrig in ihren Rechten verletzt oder die Ablehnung eines begehrten Verwaltungsakts im Sinne des § 113 Abs. 5 VwGO rechtswidrig ist, beurteilt sich nach dem materiellen Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermächtigungsgrundlage oder eines Anspruchs selbst, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen (stRspr., vgl. BVerwG, U.v. 31.3.2004 – 8 C 5.03 – juris Rn. 35). Insbesondere bei zeitgebundenen Ansprüchen, d.h. bei Ansprüchen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen oder die sich auf einen bestimmten Zeitraum beziehen, ergibt sich der zeitliche Bezugspunkt nach dem Fachrecht, weil es andernfalls die Behörde oder das Gericht allein durch die Steuerung der Bearbeitungszeit in der Hand hätte, einen zunächst begründeten Antrag unbegründet werden zu lassen oder umgekehrt (vgl. VG Hannover, U.v. 1.10.2008 – 11 A 7719.06 – juris).
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2.2 Nach der im Zeitpunkt der Leistungserbringung maßgeblichen Fassung der TestV vom 8. März 2021 rechnen die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 TestV berechtigten Leistungserbringer die von ihnen erbrachten Leistungen und die Sachkosten nach den §§ 9 bis 11 TestV mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab, in deren Bezirk der Leistungserbringer seinen Sitz hat (§ 7 Abs. 1 TestV in der Fassung vom 8. März 2021). § 11 TestV in der Fassung vom 8. März 2021 bestimmt weiter, dass an die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 TestV berechtigten Leistungserbringer für selbst beschaffte PoC-Antigen-Tests eine Vergütung für die Sachkosten in Höhe der entstandenen Beschaffungskosten, und zwar bis zum 31. März 2021 höchsten 9,00 EUR je Test und ab dem 1. April 2021 höchstens 6,00 EUR je Test, zu zahlen ist.
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Auf diesen Grundlagen erfolgte mit Schreiben der Beklagten vom 16. August 2021 eine Sachkostenabrechnung zugunsten des Corona-Testzentrums ... in Höhe von insgesamt 82.486,44 EUR.
35
2.3 Im Gegensatz zu der am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Fassung der Coronavirus-Testverordnung (TestV) vom 24. Juni 2021, die in § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV eine ausdrückliche Regelung der Rückerstattung zu viel gezahlter Vergütungen enthält, ist der für die Leistungserbringung im Mai/Juni 2021 maßgeblichen Fassung der TestV vom 8. März 2021 eine die Beklagte zur Rückerstattung zu viel gezahlter Vergütungen berechtigende Vorschrift nicht zu entnehmen. § 7a Abs. 5 Satz 2 der TestV in der Fassung vom 24. Juni 2021 mit Gültigkeit ab 1. Juli 2021 bestimmt, dass die Leistungserbringer und die sonstigen abrechnenden Stellen nach den §§ 7 und 13 TestV die abgerechnete und ausbezahlte Vergütung an die Kassenärztliche Vereinigung zurückzuerstatten haben, soweit die Kassenärztliche Vereinigung im Rahmen der Prüfung nach den Absätzen 1 und 2 feststellt, dass die Vergütung zu Unrecht gewährt wurde. Eine solche, als gebundene Entscheidung ausgestaltete Norm der Berechtigung zur Rückforderung war in der hier im Zeitpunkt der Leistungserbringung maßgeblichen Fassung der Coronavirus-Testverordnung (TestV) vom 8. März 2021 nicht enthalten. Eine spezielle Vorschrift zur Rückforderung von Leistungen wurde erstmalig mit der Coronavirus-Testverordnung (TestV) vom 24. Juni 2021 anknüpfend an die ebenfalls neu geschaffenen Möglichkeiten der Beklagten zur Abrechnungsprüfung in § 7a TestV geregelt.
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Damit kann aber die von der Beklagten im Gerichtsverfahren zur Begründung der Rückforderungsentscheidung herangezogene Rechtsgrundlage des § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV in der Fassung vom 24. Juni 2021 nicht anspruchsbegründend herangezogen werden. Diese Vorschrift hatte nach § 19 Abs. 1 TestV erst ab dem 1. Juli 2021 Rechtsgültigkeit und kann für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der Leistungserbringung (Mai/Juni 2021) nicht als Rechtsgrundlage für die Zahlungsrückforderung dienen.
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Es ist auch ausgeschlossen, die erst am 1. Juli 2021, d.h. nach erfolgter Leistungserbringung in die TestV erstmalig aufgenommene Rückerstattungsverpflichtung auf der Grundlage des neu geschaffenen § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV auf den Zeitpunkt der hier maßgeblichen Leistungserbringung im Mai/Juni 2021 zu erstrecken. Die zum 1. Juli 2021 eingeführte Vorschrift des § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV beansprucht aufgrund ihrer ausdrücklichen Regelung zum Inkrafttreten in § 19 Abs. 1 TestV selbst keine Rückwirkung und gilt nur für die Zukunft (ab dem 1. Juli 2021). Überdies würde es sich bei einer Anwendung von § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV in der Fassung ab dem 1. Juli 2021 um eine echte Rückwirkung handeln, die grundsätzlich verfassungswidrig ist (vgl. OVG SH, U.v. 9.10.2024 – 6 LB 6/24 – juris Rn. 82; OLG Düsseldorf, U.v. 21.10.2024 – VI 5 U 3/23 u.a. – juris Rn. 47 f.).
38
2.4 Da somit die Vorschrift des § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV für die von der Beklagten begehrte Rückerstattung zu viel gewährter Vergütungen nicht anspruchsbegründet herangezogen werden kann, ist bei tatbestandlich rechtswidrig erfolgter Gewährung einer Vergütung auf die allgemeine Vorschrift des Art. 48 BayVwVfG zurückzugreifen. Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Da es im hier zu entscheidenden Fall um die Rückgewähr zu Unrecht gewährter Vergütungen auf der Grundlage des § 7 Abs. 1 TestV in der Fassung vom 8. März 2021 geht, unterliegt die Rücknahme weiter den Einschränkungen aus Art. 48 Abs. 2 BayVwVfG, wonach ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, nicht zurückgenommen werden darf, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interessen an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Satz 1). Gemäß Art. 48 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG ist das Vertrauen in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Art. 48 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG nennt Tatbestände, in denen kein Vertrauensschutz des Begünstigten besteht.
39
Der Rückforderungsentscheidung der Beklagten vom 17. April 2023 ist nicht zu entnehmen, auf welche Rechtsgrundlage diese gestützt sein soll. Das als einfaches Schreiben gestaltete Rückforderungsbegehren nennt keine Rechtsvorschrift. Dem Schreiben kann auch keine rechtliche Bewertung des Sachverhalts oder eine Begründung der Rückforderungsentscheidung entnommen werden. Insoweit leidet die Rückforderung an einem Begründungsmangel (Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG).
40
Da Art. 48 Abs. 1, 2 BayVwVfG gesetzlich als Ermessensvorschrift konzipiert ist, fehlt dem Rückforderungsbescheid vom 17. April 2023 auch die erforderliche Ermessensbetätigung. Die Entscheidung des Beklagten leidet somit an einem Ermessensausfall, was auch eine Nachholung im gerichtlichen Verfahren auf der Grundlage des § 114 VwGO ausschließt. Eine Ermessensreduktion auf Null zugunsten der Beklagten ist ebenfalls nicht gegeben, zumal die Rückforderungsentscheidung die einschränkenden Anspruchsvoraussetzungen aus Art. 48 Abs. 2, 3 BayVwVfG zu beachten hat. In Fällen der Gewährung von Geldleistungen (Art. 48 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG) ist im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung über die Rücknahme zwingend ein eventueller Vertrauensschutz des Begünstigten zu berücksichtigen. Auch diesbezüglich enthält der streitgegenständliche Bescheid keinerlei Erwägungen, die das Gericht im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht ersetzen kann.
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2.5 Lediglich ergänzend, ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankäme, weist die Kammer darauf hin, dass vorliegend auch ein Austausch der Rechtsgrundlage des Art. 48 BayVwVfG in eine Entscheidung nach § 7a Abs. 5 Satz 2 TestV in der Fassung vom 24. Juni 2021 ausgeschlossen ist. Eine solche würde mit den Grundsätzen der Unzulässigkeit einer echten Rückwirkung für in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte und einem damit einhergehenden Vertrauensschutz der Klägerin in die zum Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden Vorschriften der TestV in der Fassung vom 8. März 2021 widersprechen. Auch ist es begrifflich ausgeschlossen, eine in der Sache gebotene Ermessensentscheidung (Art. 48 BayVwVfG) in eine rechtlich gebundene Entscheidung umzuwandeln. Dieser Umstand steht auch einer Umdeutung auf der Grundlage von Art. 47 BayVwVfG entgegen. Art. 47 Abs. 3 BayVwVfG bestimmt insoweit, dass eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann.
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Damit führt die im streitgegenständlichen Bescheid fehlende Ermessensbetätigung unter Berücksichtigung von Vertrauensgesichtspunkten auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG zur Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts.
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3. Im Übrigen verweist die Kammer auch darauf, dass sich die geltend gemachte Rückforderung in Höhe von 19.025,07 EUR als rechnerisch fehlerhaft erweist. Ausweislich der Abrechnung vom 16. August 2021 wurden dem Corona-Testzentrum ... für die Monate Mai und Juni 2021 Sachkosten für PoC-Antigen-Tests in Höhe von 38.384,64 EUR gewährt. Der hier streitgegenständliche Rückforderungsbescheid geht hingegen von einer gewährten Vergütung in Höhe von 38.834,64 EUR aus. Die dem Corona-Testzentrum ... für tatsächliche Testungen zustehende Vergütung (§ 7 Abs. 1 TestV) wird in der Abrechnung auf 19.025,07 EUR festgesetzt. Dieser Betrag kann damit jedoch nicht der festgesetzten Rückforderung entsprechen. Der Rückforderungsbetrag wäre vielmehr rechnerisch richtig zu ermitteln gewesen zwischen der dem Corona-Testzentrum gewährten Vergütung am 16. August 2021 in Höhe von 38.384,64 EUR und der tatsächlich zustehenden Vergütung im Umfang von 19.025,07 EUR. Hiervon ausgehend kann die Rückforderung jedenfalls nicht im Umfang, der der Klägerin tatsächlich zustehenden Vergütung für ihre Leistungserbringung bestehen. Vielmehr wären die im August 2021 gewährten Sachkosten zu den der Klägerin für durchgeführte Testungen zustehenden Vergütung nach § 11 TestV ins Verhältnis zu setzen gewesen. Auch dies ist im streitgegenständlichen Bescheid fehlerhaft erfolgt.
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4. Nach allem war der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 17. April 2023 demnach antragsgemäß aufzuheben. Auf eine isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides hat die Kammer verzichtet, da dieser ohne die zugrundeliegende aufzuhebende Grundentscheidung ohnehin keinen Bestand haben kann. Überdies wurde der Widerspruch ohnehin zu Recht zurückgewiesen, da dieser gemäß Art. 12 Abs. 2 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) unstatthaft war.
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5. Der Klage war daher mit ihrem zuletzt gestellten Antrag stattzugeben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenforderung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).