Titel:
Freispruch durch Rechtsbeschwerdegericht wegen Änderung des THC-Nachweisgrenzwerts nach § 24a Abs. 1a StVG n.F. bei Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG
Normenketten:
OWiG § 4 Abs. 1
OWiG § 4 Abs. 3
OWiG § 46 Abs. 1
OWiG § 74 Abs. 2
OWiG § 79 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2
OWiG § 79 Abs. 3 S. 1
OWiG § 79 Abs. 3
OWiG § 79 Abs. 5
StVG § 2a Abs. 1
StVG § 24a Abs. 1a
StVG a.F. § 24a Abs. 2, § 24a Abs. 3
StVG § 24c
StVG § 25 Abs. 2a
StPO § 467 Abs. 1
StPO § 354a
StPO § 354 Abs. 1
StPO § 346 Abs. 2 S. 1
StPO § 329 Abs. 1
StPO § 206b
StGB § 2 Abs. 3
6. Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 16.08.2024
Leitsätze:
1. Eine nach § 4 Abs. 3 OWiG bedeutsame Gesetzesänderung ist in jeder Lage des Verfahrens durch das Rechtsbeschwerdegericht auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen, wenn der dem Betroffenen zur Last gelegte Sachverhalt nach dem zum Zeitpunkt der Rechtsbeschwerdeentscheidung geltenden Recht nicht mehr ordnungswidrig ist. Die Gesetzesänderung entfaltet dieselbe Wirkung wie ein Verfahrenshindernis.
2. § 354a StPO i.V.m. §§ 4 Abs. 3 OWiG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG ist deshalb auch anwendbar, wenn ein Urteil vorliegt, durch welches der Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid ohne Verhandlung zur Sache gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen worden ist.
Schlagworte:
Berauschendes Mittel, Bußgeldbescheid, Einspruch, Freispruch, Gesetzesänderung, Grenzwert, Mildestes Gesetz, Prozessurteil, Rechtsänderung, Rechtsbeschwerde, Sachrüge, Rechtsbeschwerdegericht, Rechtsgedanke, Rechtsprechung, THC-Konzentration, Verfahrenshindernis, Verfahrenslage, Verfahrensgrundlage, Verwerfung, Wegfall der Bußgelddrohung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 42341
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 15.07.2024 aufgehoben.
II. Der Betroffene wird freigesprochen.
III. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
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Mit Urteil vom 15.07.2024 verwarf das Amtsgericht den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt vom 15.02.2024, mit dem wegen fahrlässigen Verstoßes gegen § 24a Abs. 2 StVG eine Geldbuße in Höhe von 500 Euro festgesetzt und ein mit einer Anordnung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot von einem Monat angeordnet worden war, gemäß § 74 Abs. 2 OWiG. Nach dem Bußgeldbescheid steuerte der Betroffene am 10.12.2023 einen Klein-LKW im Straßenverkehr unter Wirkung eines berauschenden Mittels. Zum Zeitpunkt der Fahrt hatte der Betroffene in seinem Blut Tetrahydrocannabinol (THC) in einer Konzentration von 1,2 ng/ml.
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Hiergegen wendet sich der Betroffene nach Zustellung des Urteils am 18.07.2024, der mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23.07.2024, eingegangen am 24.07.2024, zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (nach § 74 Abs. 4 OWiG) beantragt und Rechtsbeschwerde eingelegt hat. Der Betroffene macht geltend, ihn treffe kein Verschulden an der Versäumung des Termins. Das Amtsgericht hätte dem Verlegungsantrag des Verteidigers stattgeben müssen. Zudem habe der Betroffene keine Ordnungswidrigkeit begangen, da er aus medizinischen Gründen Marihuana einnehme.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 26.11.2024 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts vom 15.07.2024 aufzuheben, den Betroffenen freizusprechen und die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Es liege ein Verfahrenshindernis vor, weil die Tat nach Inkrafttreten des 6. Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (BGBl. I 2024 Nr. 266) nicht mehr geahndet werden könne.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist bereits auf die Sachrüge hin begründet. Sie führt neben der Aufhebung des angefochtenen Urteils zum Freispruch des Betroffenen. Auf die Verfahrensrügen kommt es nicht mehr an.
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1. Der Betroffene ist aus Rechtsgründen freizusprechen. Die dem Bußgeldbescheid zugrundeliegende Tat kann nach Inkrafttreten des 6. Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 16.08.2024 (BGBl. I 2024 Nr. 266) nicht mehr geahndet werden.
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a) Zur Zeit des Erlasses des Bußgeldbescheids am 15.02.2024 und beim Verwerfungsurteil vom 15.07.2024 wurde davon ausgegangen, dass der Betroffene, weil er zur Tatzeit eine Konzentration von 1,2 ng/ml THC im Blutserum hatte, den Bußgeldtatbestand des § 24a Abs. 2 StVG in der damals geltenden Fassung verwirklicht hat. Beim Fahren unter dem Einfluss der in der Anlage zu § 24a StVG aufgeführten Betäubungsmittel kann ab einer bestimmten analytischen Konzentration im Blut auf ein objektiv und subjektiv sorgfaltswidriges Verhalten im Sinne des § 24a Abs. 2 und 3 StVG a.F. geschlossen werden, ohne dass der Tatrichter einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Konsum und Fahrtantritt feststellen muss. Dieser Grenzwert lag in Bezug auf den Konsum von Cannabis in st. Rspr. der Oberlandesgerichte bei 1 ng/ml THC im Blutserum.
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Allerdings hat der Gesetzgeber im Zuge der zwischenzeitlich am 22.08.2024 in Kraft getretenen Neuregelung Cannabis aus der Anlage zu § 24a StVG gestrichen und mit § 24a Abs. 1a StVG n.F. für das Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr unter dem Einfluss von Cannabis einen eigenen Bußgeldtatbestand geschaffen, wobei er den Wirkungsgrenzwert gesetzlich auf 3,5 ng/ml THC oder mehr im Blutserum festgelegt hat. Dieser Wert wird vorliegend nicht erreicht, so dass das festgestellte Verhalten weder dem Tatbestand des § 24a Abs. 2 StVG n.F. noch dem des § 24a Abs. 1a StVG n.F. unterfällt. Der Betroffene war zur Tatzeit 26 Jahre alt; für das Vorliegen einer Fahrerlaubnis auf Probe i.S.v. § 2a Abs. 1 StVG bestehen keine Anhaltspunkte, nachdem der Betroffene seinen ständigen Wohnsitz in Polen hat und nur über eine ausländische Fahrerlaubnis verfügt, sodass auch der Tatbestand des § 24c StVG nicht erfüllt ist.
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b) Gemäß § 4 Abs. 1 OWiG bestimmt sich die Geldbuße nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Handlung gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden (§ 4 Abs. 3 OWiG); die äußerste Milderung ist der Wegfall der Ahndbarkeit (BGHSt 20, 116, 119 zu § 2 Abs. 3 StGB, dem § 4 Abs. 3 OWiG entspricht). Zwar beruhte der bisherige analytische Grenzwert von 1,0 ng/ml THC im Blutserum nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern war von der Rechtsprechung als maßgeblich entwickelt worden. Gleichwohl ist zumindest der Rechtsgedanke des § 4 Abs. 3 OWiG heranzuziehen (OLG Oldenburg, Beschluss vom 29.08.2024 – 2 ORbs 95/24 (1537 Js 37043/23) bei juris). Maßgebend ist hier die Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung, weil das neue Recht für den Betroffenen günstiger ist; § 354a StPO i.V.m. §§ 4 Abs. 3 OWiG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG (BGH, Beschluss vom 29.04.2024 – 6 StR 117/24, BeckRS 2024, 14690; BayObLG, Beschluss vom 10.10.2024 – 202 ObOWi 989/24 bei juris). Die nach § 4 Abs. 3 OWiG bedeutsame Gesetzesänderung ist in jeder Lage des Verfahrens durch das Rechtsbeschwerdegericht auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen (Göhler OWiG 19. Aufl. § 4 Rn. 9; KK/Rogall OWiG 5. Aufl. § 4 Rn. 27). Im Rechtsbeschwerdeverfahren ist für eine Anwendung von § 206b StPO nach zutreffender Ansicht im Schrifttum kein Raum, da bei einer Rechtsänderung, die während der Rechtsbeschwerde eintritt, § 354a als speziellere Regelung greift (OLG Oldenburg a.a.O.; BGH, Beschluss vom 03.07.2024 – 4 StR 109/24, BeckRS 2024, 18605; KG NStZ 2023, 253, 254; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 67. Aufl. § 206b Rn. 6, KK/Schneider StPO 9. Aufl. § 206b Rn. 7; KK/Rogall a.a.O. § 4 Rn. 27; MüKo/Knauer/Kudlich StPO 2. Aufl. § 206b Rn. 16). § 354a StPO bezieht sich ausdrücklich auf eine Entscheidung des Revisionsgerichts bei Gesetzesänderung.
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c) § 354a StPO i.V.m. §§ 4 Abs. 3 OWiG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG ist auch hier anwendbar, obwohl ein Urteil vorliegt, durch das der Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid ohne Verhandlung zur Sache gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen worden ist, und damit ein reines Prozessurteil, das keine Feststellungen materiell-rechtlicher Art zur Schuld- und Rechtsfolgenfrage enthält. § 354a StPO ist anwendbar, wenn die Sache irgendwie beim Revisions-/Rechtsbeschwerdegericht anhängig ist, und sei es nur durch einen Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO oder durch die zulässige Revision gegen ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO bzw. die zulässige Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG (LR/Franke StPO 26. Aufl. § 354a Rn. 9).
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Es ist davon auszugehen, dass die nach § 4 Abs. 3 OWiG bedeutsame Gesetzesänderung in jeder Verfahrenslage, vom Rechtsbeschwerdegericht jedenfalls auf die hier erhobene allgemeine Sachrüge zu berücksichtigen ist, wenn die dem Betroffenen zur Last gelegte Sachverhalt nach dem zum Zeitpunkt der Rechtsbeschwerdeentscheidung geltenden Recht nicht mehr ordnungswidrig ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.10.1969 – RReg. 4a St 78/69, NJW 1970, 262, 263 = BayObLGSt 1969, 142).
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Die Generalstaatsanwaltschaft führt dazu aus:
„Die § 206b StPO zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers, wonach der vollständige Wegfall der Bußgelddrohung in jeder Lage des Verfahrens zu beachten ist, muss vielmehr auch bei der Auslegung des § 354a StPO Berücksichtigung finden. Der Wortlaut des § 354a StPO steht nicht entgegen; dieser enthält insoweit für den Fall des mit der allgemeinen Sachrüge anfechtbaren Verwerfungsurteils keine Einschränkung. Zudem stünde im Fall eines Sachurteils nach allgemeiner Meinung, etwa im Fall der beschränkten Anfechtung, selbst dessen Teilrechtskraft im Schuldspruch der Berücksichtigung der Rechtsänderung nicht entgegen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 01.12.1964 – 3 StR 35/64; BGHSt 20, 116, 118f.; BayObLG, Urt. v. 19.01.1961 – RReg. 4 St 9/61, NJW 1961, 688; Beschluss vom 17.07.2024 – 204 StRR 215/24, StraFo 2024, 353, 354f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.05.2024 – 2 ORs 370 SRs 247/24, juris Rn. 8ff.; Fischer StGB 71. Aufl. § 2 Rn. 12 m.w.N.). Entsprechendes muss daher auch dann gelten, wenn noch überhaupt keine Rechtskraft eingetreten ist und durch die Entscheidung über das Verwerfungsurteil erst herbeigeführt werden soll (ebenso LR/Franke a.a.O.). Hinzu kommt, dass das Rechtsbeschwerdegericht den Bußgeldbescheid, aus dem sich der Tatvorwurf ergibt, als Verfahrensvoraussetzung auch nach Ergehen eines Verwerfungsurteils – jedenfalls auf die Sachrüge hin – ohnehin von Amts wegen zur Kenntnis nehmen muss.“
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Diese in jeder Hinsicht zutreffenden rechtlichen Erwägungen macht sich der Senat nach eigener Sachprüfung zu eigen. Ein Bußgeldbescheid, dem eine Tat zugrunde liegt, die infolge Gesetzesänderung keine Ordnungswidrigkeit mehr darstellt und deshalb nicht mehr verfolgbar ist, kann nicht Verfahrensgrundlage sein, da der Richter sonst ein Gesetz anwenden müsste, zu dessen Existenzberechtigung bzw. Strenge der Gesetzgeber sich im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bekennt (Schönke/Schröder/Hecker StGB 30. Aufl. § 2 Rn. 14). Die Gesetzesänderung entfaltet dieselbe Wirkung wie ein Verfahrenshindernis.
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2. Anlass zu einer Divergenzvorlage an den BGH besteht nicht. Zwar haben die Oberlandesgerichte Frankfurt (NJW 1963, 460), Köln (JMBlNRW 1963, 96) und Hamm (MDR 1973, 694) jeweils entschieden, dass im Fall des Urteils nach § 329 StPO eine materielle Entscheidung über den Sachverhalt des erstinstanzlichen Urteils nicht zulässig ist. Diese Entscheidungen sind aber zeitlich ergangen vor der Einführung des § 206b StPO, der mit Wirkung vom 28.11.1973 durch Gesetz v. 23.11.1973 (BGBl. I 1973 S. 1731) eingeführt wurde. § 206b StPO gebietet die Verfahrensbeendigung, weil infolge der in § 2 Abs. 3 StGB angeordneten Rückwirkung die Tat nicht mehr als strafbar behandelt wird, und ist daher der Sache nach ein Freispruch (LR/Stuckenberg StPO 27. Aufl. § 206b Rn. 3). Dieser Rechtsgedanke muss auch für § 354a StPO gelten.
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Nach alledem ist der Betroffene unter Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts vom 15.07.2024 freizusprechen (§ 79 Abs. 3, 5 und 6 OWiG i.V.m. §§ 349 Abs. 4, 354a, 354 Abs. 1 StPO).
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Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.
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Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 und Abs. 6 OWiG.
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Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet die Einzelrichterin.