Titel:
Ausweisung, Afghanischer Staatsangehöriger, Erhebliche Straffälligkeit, Versuchter Totschlag, Abschiebungsverbot, Widerruf, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Befristung
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1
AufenthG § 53 Abs. 2
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a
AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1
Schlagworte:
Ausweisung, Afghanischer Staatsangehöriger, Erhebliche Straffälligkeit, Versuchter Totschlag, Abschiebungsverbot, Widerruf, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Befristung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 42309
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, nach eigenen Angaben ein am ... geborener afghanischer Staatsangehöriger, wendet sich mit seiner Klage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet und den Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 25. September 2015 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen in den Jahren 2002 und 2011 geborenen Geschwistern in das Bundesgebiet ein und stellte wie diese am … … … einen Asylantrag, welchen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 19. Dezember 2016 bestandskräftig ablehnte. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Der Kläger hat drei weitere Geschwister; seine Eltern und seine Geschwister halten sich in Deutschland auf.
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Erstmals am … … … erhielt der Kläger eine bis zum … … … gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, zuletzt verlängert bis zum … … …
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Im Juli 2020 machte der Kläger den Mittelschulabschluss. Einen Ausbildungsplatz als Kfz-Mechatroniker konnte er aufgrund der Corona-Pandemie nicht antreten. Im August 2021 nahm er eine Beschäftigung im Bereich Lagerlogistik auf.
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Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I vom 29. Juli 2022 wurde der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt (Az. 3 J KLs 121 Js 197647/21 jug). Der Kläger hatte am 4. November 2021 den Geschädigten nach einer verbalen Auseinandersetzung an einem U-Bahnhof zusammengeschlagen. Er versetzte dem im Zuge der Attacke reglos am Boden liegenden Geschädigten sieben Schläge auf den Kopf, floh im Anschluss und ließ den reglos in einer Blutlache um den Kopf liegenden Geschädigten liegen. Dieser erlitt mehrere Verletzungen im Gesichtsbereich, insbesondere eine dislozierte Nasenbeinfraktur, Hautunterblutungen und Schürfungen, und wurde im bewusstlosen und zu seinem Schutz intubierten Zustand in das Klinikum rechts der Isar verbracht, wo er mehrere Tage stationär behandelt wurde. Der Kläger schloss mit dem Geschädigten im Zuge des strafgerichtlichen Verfahrens eine Vereinbarung, welche unter anderem die Leistung einer Ausgleichszahlung des Klägers an den Geschädigten in Höhe von 4.000 Euro enthielt, und welche das Strafgericht als Vereinbarung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs wertete.
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Der Kläger war in dieser Sache am 5. November 2021 vorläufig festgenommen worden und befand sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 6. November 2021 bis zum 10. Januar 2023 in Untersuchungshaft, zunächst in der Justizvollzugsanstalt ... und seit dem 30. August 2022 in der Justizvollzugsanstalt … Seit dem 11. Januar 2023 befindet er sich dort in Strafhaft. Das Haftende ist für den … … … vorgesehen.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 2. März 2023 wurde der Kläger zu der beabsichtigten Ausweisung aus dem Bundesgebiet angehört. Er äußerte sich hierzu mit Schreiben vom 10. März 2023 und brachte unter anderem vor, in Afghanistan keine Verwandten zu haben. Er bereue seine Tat zutiefst, habe an den Geschädigten 4.000 Euro gezahlt und in der Justizvollzugsanstalt … an einem Anti-Aggressionskurs teilgenommen. In der Justizvollzugsanstalt … absolviere er derzeit eine Ausbildung als Schreiner und stehe auf der Warteliste für eine Therapie in der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter (SothA-G). Er wolle sich bessern und bitte darum, von einer Abschiebung abzusehen und ihm eine Chance zu geben.
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In dem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt … vom 16. März 2023 wird der Kläger als natürlich, ungezwungen, ruhig, diszipliniert, offen, gesprächig, humorvoll, zuverlässig und selbständig beschrieben. Sein Verhalten gegenüber den Bediensteten sei freundlich, höflich und respektvoll. Er sei einer der vernünftigsten Gefangenen, es habe noch nie eine Disziplinarmaßnahme gegen ihn ausgesprochen werden müssen. Seit dem 19. Februar 2022 besuche er den Grundlehrgang Holztechnik im zweiten Lernfeld. Er erbringe hervorragende fachgerechte Arbeitsleistungen. Es sei eine behandlungsbedürftige Gewaltproblematik bei dem Kläger festgestellt worden; er stehe auf der Warteliste der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter (SothA-G).
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Mit streitgegenständlichem Bescheid der Beklagten vom 31. März 2023 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik ausgewiesen (Nr. 1), ihm eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach Vollziehbarkeit des Bescheids gesetzt und dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht (Nr.2) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und unter der Bedingung des Nachweises von Straf- und Drogenfreiheit auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise, andernfalls auf die Dauer von neun Jahren ab Ausreise befristet (Nr. 3). Vollzugsmaßnahmen bezüglich des Herkunftslands Afghanistan würden aufgeschoben, solange ein Abschiebungsverbot in Bezug auf das Herkunftsland des Klägers besteht (Nr. 4). Die Beklagte stützte die getroffenen Verfügungen im Wesentlichen auf §§ 53, 54 Abs. 1 Nr. 1a, Nr. 1 Buchst. a und Buchst. b AufenthG sowie § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass eine konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger gegeben sei, da bei ihm eine noch nicht behandelte Gewaltproblematik bestehe. Die Ausweisung werde auf spezial- und generalpräventive Gründe gestützt. Das Ausweisungsinteresse sei als besonders schwerwiegend einzustufen. Das Bleibeinteresse wiege besonders schwer, da der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis besitze, als Minderjähriger eingereist sei und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Die Abwägung ergebe das Überwiegen des Ausreiseinteresses. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird Bezug genommen.
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Am 5. Mai 2023 hat der Kläger beim Bayerischen Verwaltungsgericht München durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage erheben lassen mit dem sinngemäßen Antrag,
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den Bescheid der Beklagten vom 31. März 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen.
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Zur Klagebegründung verwies der Klägerbevollmächtigte auf das durch das Bundesamt zugunsten des Klägers ausgesprochene Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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Die Beklagte legte am 17. Mai 2023 die Behördenakte vor und beantragte mit Schriftsatz vom 13. Juni 2023,
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Zur Begründung wurde vorgebracht, dass der Kläger Gewalttäter sei; es bestehe offenkundig Wiederholungsgefahr.
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In der mündlichen Verhandlung am 12. Dezember 2024 erklärte die Vertreterin der Beklagten, ihres Wissens habe das Bundesamt das Abschiebungsverbot durch Bescheid vom 25. September 2023 widerrufen und den Widerruf für sofort vollziehbar erklärt. Die von dem Kläger hiergegen erhobene Klage entfalte keine aufschiebende Wirkung; ein Eilantrag sei nicht gestellt worden, weshalb von der Vollziehbarkeit des Widerrufs auszugehen sei. Der Klägerbevollmächtigte bestätigte diese Angaben. Ferner erklärte die Beklagtenvertreterin, dass es einen weiteren Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt … vom … … … gebe, in welchem zwar die Leistungen des Klägers im Grundlehrgang „Holztechnik“ als grundlegend positiv bewertet würden, gleichzeitig jedoch mitgeteilt werde, dass der Kläger den Platz in der SothA-G aufgrund Fehlverhaltens verloren habe und sich die Justizvollzugsanstalt gegen eine vorzeitige Entlassung des Klägers ausspreche.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Bescheid der Beklagten vom 31. März 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die beantragte Verpflichtung der Beklagten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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1. Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides verfügte Ausweisung des Klägers ist zum für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. insoweit BVerwG v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12) rechtmäßig.
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a) Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei der vorzunehmenden Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsland oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.
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Die von § 53 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger ist nach Auffassung des Gerichts gegeben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (Vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob die Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 32 m.w.N.; B.v. 2.11.2016 – 10 ZB 15.2656 – juris Rn. 10 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
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aa) Gemessen an diesen rechtlichen Vorgaben besteht zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zur Überzeugung der Kammer eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger die öffentliche Sicherheit und Ordnung erneut durch vergleichbare Straftaten beeinträchtigen wird. Es muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass der Kläger erneut Straftaten begehen wird und er damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Anlass für die von der Beklagten verfügte Ausweisungsentscheidung war die Verurteilung des Klägers durch das Landgericht München I wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Die von dem Kläger verübte Straftat ist im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln.
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Zwar hat der Kläger die abgeurteilte Tat im strafgerichtlichen Verfahren vollständig gestanden und mit dem Geschädigten eine Vereinbarung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs geschlossen. In dem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt … vom … … … wird zudem auf das zu diesem Zeitpunkt bestehende gute Vollzugsverhalten hingewiesen. Bei Gewaltstraftaten ist die Annahme des Wegfalls einer Wiederholungsgefahr jedoch erst gerechtfertigt, wenn eine Therapie zur Gewaltprävention abgeschlossen ist und sich der Ausländer für eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt hat (BayVGH, B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – juris Rn. 10). Dies ist bei dem Kläger nicht der Fall. Das Landgericht München I hat in seinem Urteil vom 29. Juli 2022 auf die Brutalität und hohe Aggressivität des Klägers hingewiesen. Im Rahmen der Strafzumessung hat das Strafgericht ferner festgestellt, dass die bisherige schulische und berufliche Entwicklung des Klägers insbesondere im Hinblick auf die verlorene Lehrstelle im Jahr 2020 Anlass zur Sorge gibt, dass sein Leben künftig keinen stabilen Verlauf nehmen wird und ohne die erforderliche Gesamterziehung weitere erhebliche Straftaten des Klägers befürchten lässt. Entsprechend hat eine Indikationsprüfung der Justizvollzugsanstalt … bei dem Kläger eine behandlungsbedürftige Gewaltproblematik ergeben. Eine Therapie zur Gewaltprävention hat der Kläger bislang nicht abgeschlossen. Einen Platz in der SothA-G hat er nach Auskunft der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung aufgrund Fehlverhaltens wieder verloren. In einer derartigen Konstellation kann von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden.
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bb) Die Ausweisung lässt sich zudem auf generalpräventive Gründe stützen; im Fall des Klägers besteht ein aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse. Das Gericht sieht insoweit von einer weiteren Darstellung ab und folgt den nicht zu beanstandenden generalpräventiven Erwägungen (S. 11 f. des Bescheids) der Beklagten (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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b) Die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers in Deutschland erfolgt auf der Tatbestandsseite einer gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen sind weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23 f.; U.v. 25.7.2017 – 1 C 12.16 – juris Rn. 15). Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nicht als abschließend zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 25).
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Unter Heranziehung dieses Maßstabes ergibt die vorzunehmende Abwägung des Ausreiseinteresses mit dem Bleibeinteresse des Klägers unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Überwiegen des Ausreiseinteresses. Die umfangreiche Abwägung in dem streitgegenständlichen Bescheid ist rechtlich nicht zu beanstanden.
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Ergänzend ist lediglich Folgendes festzustellen: Das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Kläger wiegt besonders schwer gemäß 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da dieser durch das Landgericht München I rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist. Zudem sind § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a und Buchst. b AufenthG erfüllt, da dieser Verurteilung eine Straftat gegen das Leben und gegen die körperliche Unversehrtheit zugrunde lag. Dem gegenüber steht ein vertyptes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, da der Kläger im Besitz einer zuletzt bis zum 24. Mai 2023 befristeten Aufenthaltserlaubnis war, als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
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In die Gesamtabwägung einzustellen sind ferner die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewähren zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Gleichwohl ist die Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 5.3.2024 – 10 CE 24.384 – juris Rn. 7). Voraussetzung ist eine schutzwürdige echte familiäre Beziehung im Sinne einer Beistandsgemeinschaft. Der Kläger ist jedoch bereits volljährig. Es ist nicht ersichtlich, dass die im Bundesgebiet lebenden Eltern und Geschwister des Klägers auf seine Anwesenheit im Bundesgebiet angewiesen wären. Ebenso wenig ist der Kläger auf den Beistand seiner Eltern und Geschwister angewiesen. Den Kontakt zu seiner Familie kann der Kläger ferner durch die Nutzung moderner Fernkommunikationsmittel aufrechterhalten. Außerdem konnten die Bindungen zu den im Bundesgebiet aufhältigen Familienangehörigen den Kläger nicht davon abhalten, massiv straffällig zu werden.
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Der Kläger ist zudem nicht als faktischer Inländer zu qualifizieren. Die „Eigenschaft eines sogenannten faktischen Inländers“ (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 16) haben solche Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind („Verwurzelung“) und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“) und die daher faktisch zum Inländer geworden sind und die nur noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbindet (BVerfG, B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 21). Beide Elemente müssen kumulativ vorliegen. Fehlt es also an einer tiefgreifenden Integration im Aufenthaltsstaat, kommt es auf eine Entwurzelung nicht mehr an. Für den Grad der Verwurzelung des Ausländers sind insbesondere die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet, sein rechtlicher Aufenthaltsstatus, das Ausmaß der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Integration und die Rechtstreue seines Verhaltens in der Vergangenheit von Relevanz (BayVGH, B.v. 22.11.2024 – 19 ZB 23.1416 – juris Rn. 13 ff.)
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Gemessen hieran ist der Kläger nicht als faktischer Inländer zu betrachten. Eine tiefgreifende Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland hat nicht stattgefunden. Der Kläger lebt erst seit neun Jahren im Bundesgebiet und ist in dieser Zeit massiv straffällig geworden. Eine nennenswerte wirtschaftliche Integration des Klägers im Bundesgebiet ist nicht erkennbar. Seine vormalige Arbeitsstelle hat er aufgrund der Inhaftierung verloren, eine Ausbildung hat er bislang nicht abgeschlossen.
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Das Gericht verkennt nicht, dass die Ausweisung für den Kläger mit besonderen Härten verbunden ist, da er im Iran aufgewachsen ist und nach eigenen Angaben keine Verwandten in Afghanistan, dem Land seiner Staatsangehörigkeit, hat. Zudem wurde das zu seinen Gunsten ausgesprochene Abschiebungsverbot mit Bescheid des Bundesamts vom 25. September 2023 widerrufen, sodass – anders als noch in dem streitgegenständlichen Bescheid angenommen – nicht davon ausgegangen werden kann, dass keine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland erfolgt.
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Zu sehen ist jedoch, dass sich die von dem Kläger begangene Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Opfers gerichtet hat, mithin gegen Rechtsgüter, die in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einen hohen Rang einnehmen (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 9.10.2024 – 19 ZB 23.1101 – juris Rn. 8). Die Bewahrung des menschlichen Lebens gehört zum Kernbestand des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Es besteht ein außerordentlich hohes Interesse daran, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Allgemeinen, aber auch zum Schutz der körperlichen Integrität des Einzelnen Gewalttaten zu unterbinden, die auf die Vernichtung menschlichen Lebens zielen (VGH BW, U.v. 10.12.2024 – 11 S 1306/23 – juris Rn. 64).
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Eine indizierte Gewalttherapie hat der Kläger nicht abgeschlossen. Einen Platz in der SothA-G hat er aufgrund Fehlverhaltens verloren. Ferner ist davon auszugehen, dass dem Kläger als volljährigem, erwerbsfähigen Mann eine Integration in Afghanistan gelingen wird.
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Angesichts dieser Gesamtumstände, insbesondere des hohen Rangs der von der Straftat des Klägers beeinträchtigten Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit und der von dem Kläger ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, überwiegt das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Bleibeinteressen des Klägers.
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Auch die sonstigen persönlichen Umstände des Klägers stehen der getroffenen Ausweisungsentscheidung nicht entgegen. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnis- und rechtmäßig.
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Im Übrigen verweist die Kammer nach § 117 Abs. 5 VwGO auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids.
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2. Rechtliche Bedenken gegen die dem Kläger in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids gesetzte Ausreisefrist und die verfügte Abschiebungsandrohung bestehen nicht, insbesondere wurde das durch das Bundesamt ausgesprochene Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan nach übereinstimmenden Aussagen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung bereits mit Bescheid des Bundesamts vom 25. September 2023 sofort vollziehbar widerrufen, sodass sich die Frage, ob Art. 5 der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) einer solchen Rückkehrentscheidung im Fall der Zuerkennung eines Abschiebungsverbots entgegensteht (vgl. EuGH, U.v. 6.7.2023 – C-663/21 – juris Rn. 52) und die sich anschließende weitere Frage, ob die Ausnahmeregelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bereits deshalb nicht anwendbar ist, weil die Abschiebungsandrohung vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 27. Februar 2024 wirksam geworden ist (so BayVGH, B.v. 5.7.2024 – 10 ZB 23.1712 – juris Rn. 11), vorliegend keiner Entscheidung bedarf.
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3. Die in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erfolgte Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ebenfalls rechtmäßig. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Auch insoweit sieht das Gericht im Übrigen entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
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4. Ein Anspruch des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis besteht nicht. Ungeachtet der Tatsache, dass der Kläger bislang keinen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bei der Beklagten gestellt hat und ein solcher insbesondere entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten nicht in dem gestellten Klageantrag zu sehen ist, stünde der Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Bezugnahme auf obige Ausführungen das gegen den Kläger bestehende Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) sowie die Titelerteilungssperre (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) entgegen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).