Titel:
Rechtliches Gehör und faires Verfahren
Normenketten:
GG Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1
BayStVollzG Art. 208
Leitsätze:
1. I. Die Anforderungen an den Vortrag für eine Verfahrensrüge dürfen nicht zu streng gehandhabt werden, weil es um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes geht. Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. (Rn. 11)
2. II. Es liegt eine Verletzung der Grundsätze des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs vor, wenn das Gericht seine geänderte Rechtsauffassung den Verfahrensbeteiligten nicht rechtzeitig vor der Entscheidung mitteilt und damit die Möglichkeit zur Stellungnahme gibt. Die gerichtliche Fürsorgepflicht dient insoweit der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. (Rn. 13 – 14)
3. III. Der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren. Für die Feststellung einer Verletzung dieses Rechts kommt der Beruhensfrage deshalb keine entscheidende Bedeutung zu. (Rn. 15)
Ein (möglicher) Verfahrensverstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör ist neben den in § 116 Abs. 1 StVollzG genannten ein weiterer Zulassungsgrund für die Rechtsbechwerde. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Urlaubsantrag, Strafvollstreckungskammer, Anspruch auf rechtliches Gehör, Grundsatz des fairen Verfahrens, Rechtsbeschwerde, Verfahrensrüge, Beruhen
Vorinstanz:
LG Amberg, Beschluss vom 08.01.2024 – 2 StVk 268/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4149
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen S. wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg vom 08.01.2024 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Der Geschäftswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 1000,-- € festgesetzt.
3. Dem Beschwerdeführer wird für die Rechtsbeschwerdeinstanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.
Gründe
1
Der Beschwerdeführer war bis 11.01.2024 in der Justizvollzugsanstalt A. als Strafgefangener untergebracht. Am 17.04.2022 hatte der Beschwerdeführer beantragt, ihm Ausgang und Urlaub in der Zeit vom 06.05.2022 bis zum 08.05.2022 zu gewähren. Diese Anträge wurden mit Bescheid der Justizvollzugsanstalt A. vom 03.05.2022 abgelehnt.
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Hiergegen wandte sich der Strafgefangene mit Schreiben vom 06.05.2022 mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung, welcher am 11.05.2022 beim Landgericht Amberg einging. Er beantragte, festzustellen, dass die (negative) Verbescheidung seiner Ausgangs- und Urlaubsanträge vom 17.04.2022 rechtswidrig war.
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Die Justizvollzugsanstalt A. beantragte mit Schreiben vom 10.06.2022, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen, weil die Ablehnung der Anträge vom 17.04.2022 im Bescheid vom 03.05.2022 rechtmäßig gewesen sei. Hierzu nahm der Beschwerdeführer nochmals Stellung mit Schreiben vom 24.06.2022.
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Mit Verfügung vom 01.07.2022 stellte die damalige Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer fest, dass über den verfahrensgegenständlichen Antrag erst im Zusammenhang mit der Entscheidung im Verfahren Az. 2 StVK 90/22 entschieden werde.
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Mit Verfügung vom 04.01.2024 stellte der neue Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer fest, dass er eine Vorgreiflichkeit des Verfahrens Az. 2 StVK 90/22 nicht sehe und die Sache für entscheidungsreif halte. Die Mitteilung dieser Verfügung an den Beschwerdeführer erfolgte mit Schreiben vom 09.01.2024.
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Mit Beschluss vom 08.01.2024 wies die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück.
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Gegen diesen ihm am 10.01.2024 zugestellten Beschluss legte der Beschwerdeführer zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Amberg am 30.01.2024 Rechtsbeschwerde ein und rügte die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Zur Begründung wies er darauf hin, dass ihm die Verfügung des Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer vom 04.01.2024 erst mit Schreiben vom 09.01.2024 zugegangen sei und es ihm damit nicht möglich gewesen sei, vor der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nochmals Stellung zu nehmen. Diese sei für ihn zu diesem Zeitpunkt überraschend gekommen, da eine Entscheidung in Verfahren Az. 2 StVK 90/22 noch nicht vorgelegen habe.
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Mit Schreiben vom 05.02.2024 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft München, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
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Die form- und fristgerecht (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. §§ 116 Abs. 1 und 2, 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der Verfahrensrüge einen vorläufigen Erfolg.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil nach dem schlüssigen Vortrag des Beschwerdeführers ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör vorliegt. Ein solcher (möglicher) Verfahrensverstoß ist neben den in § 116 Abs. 1 StVollzG genannten ein weiterer Zulassungsgrund (KG, Beschluss vom 15.08.2013 – 2 Ws 389/13 Vollz –, juris Rn. 11).
11
Die Verfahrensrüge ist auch zulässig erhoben, da die vom Strafgefangenen vorgebrachte Begründung den Verfahrensverstoß ausreichend bezeichnet. Es wird deutlich, dass er von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer überrascht wurde, weil ihm vor der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nicht mitgeteilt worden war, dass sich die Rechtsauffassung zur Frage der Entscheidungsreife geändert hätte, und ihm insoweit auch keine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben wurde. Die Anforderungen an den Vortrag dürfen insoweit nicht zu streng gehandhabt werden, weil es um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes geht. Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen. Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (BVerfG, Beschluss vom 18.03.2015 – 2 BvR 1111/13 –, juris Rn. 49).
12
2. Die Strafvollstreckungskammer hat vorliegend das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers verletzt, indem sie dem Strafgefangenen keine Gelegenheit gegeben hat, von der ihm mit Verfügung der Kammer vom 04.01.2024 mitgeteilten geänderten Rechtsauffassung zur Entscheidungsreife vor ihrer Entscheidung in der Hauptsache Kenntnis zu erlangen und hierzu Stellung zu nehmen.
13
Die gerichtliche (Fürsorge-)Pflicht zum konkreten Hinweis auf entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen dient, konkretisiert nicht nur den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG), sondern zugleich den allgemein geltenden Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, wie er verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG normiert ist (ständ. Rspr., z. B. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 13.02.2019 – 2 BvR 633/16 –, juris Rn. 24, Beschlüsse vom 19.05.1992 – 1 BvR 986/91 –, juris Rn. 35 f. = BVerfGE 86, 133 ff., und vom 29.05.1991 – 1 BvR 1383/90 –, juris Rn. 7 = BVerfGE 84, 188 ff., jeweils m.w.N.). Als entscheidungserhebliche Gesichtspunkte kommen sowohl tatsächliche (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1991, a. a. O., juris Rn. 7; OLG München, Beschlüsse vom 31.07.2012 – 4 Ws 134/12 [R] –, juris Rn. 13, und – 4 Ws 133/12 [R] –, juris Rn. 12) als auch rechtliche (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, a. a. O., juris Rn. 35 f., jeweils m.w.N.) in Betracht (KG Berlin, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 5 Ws 55/19 Vollz –, juris Rn. 20).
14
Ob eine Hinweispflicht zu bejahen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Wenn aber – wie hier – das Gericht in einer gerichtlichen Verfügung eine bestimmte Verhaltensweise ankündigt, darf es sich von der angekündigten Verhaltensweise nicht ohne einen entsprechenden Hinweis hierauf und ohne Gewährung der Möglichkeit zur Stellungnahme lösen. Diesen Anforderungen ist die Strafvollstreckungskammer hier nicht nachgekommen, weshalb hier insoweit ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gegeben ist.
15
Dies gilt – auch wenn der Gehörsverstoß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung der ergangenen Entscheidung nur unter der Voraussetzung führt, dass sie auf dem Verstoß beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.02.1994 – 1 BvR 765/89 –, juris) – grundsätzlich unabhängig davon, ob unter den gegebenen Umständen von der Möglichkeit auszugehen ist, dass eine etwaige Äußerung Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnt oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08, juris Rn. 3 m.w.N., und vom 04.03.2016 – 2 BvR 550/15, juris Rn. 4). Angesichts einer verbreiteten Praxis der Gerichte, Strafgefangenen die Stellungnahme der Gegenseite wegen deren rein rechtsbezogenen Inhalts oder wegen aus sonstigen Gründen unterstellter mangelnder Entscheidungserheblichkeit möglicher Erwiderungen regelmäßig nicht zur Kenntnis zu geben, hat das Bundesverfassungsgericht hierauf mehrfach hingewiesen (vgl. die Nachweise bei BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08, juris Rn. 3). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte misst für die Feststellung einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), das den Anspruch auf rechtliches Gehör einschließt, ausdrücklich der Beruhensfrage keine entscheidende Bedeutung zu, sofern der Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz berührt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 21.02.2002, Ziegler v. Switzerland – 33499/96, Rn. 38; Urteil vom 12.02.2004, Steck-Risch et al. v. Liechtenstein – 63151/00, Rn. 57; vgl. auch EGMR, Urteil vom 03.07.2008, Vokoun c. République Tchèque – 20728/05, Rn. 25 ff., und EGMR, Urteil vom 18.10.2007, Asnar c. France – 12316/04, Rn. 24 ff.).
16
1. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 24. Ed. 01.08.2023, StVollzG § 121 Rn. 1).
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2. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG. Es besteht keine Veranlassung, den von der Strafvollstreckungskammer zutreffend festgesetzten Geschäftswert für die erste Instanz nach § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG abzuändern.
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3. Die Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren für den gerichtsbekannt mittellosen Beschwerdeführer beruht auf Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 115, 119 Abs. 1 ZPO.