Titel:
Anfechtung einer verkehrsrechtlichen Anordnung, Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h als Einzelmaßnahme, Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm
Normenketten:
StVO § 45 Abs. 1 S. 1
StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
StVO § 45 Abs. 9 S. 3
Schlagworte:
Anfechtung einer verkehrsrechtlichen Anordnung, Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h als Einzelmaßnahme, Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm
Fundstelle:
BeckRS 2024, 41252
Tenor
I. Die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 wird insoweit aufgehoben, als im Straßenzug der L …straße die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der östlichen Fahrbahn zwischen M …straße und L …straße 172 auf 30 km/h beschränkt wurde.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Aufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022, mit der die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einem ca. 2,0 km langen Abschnitt der L …straße in M. innerorts in beide Fahrtrichtungen auf 30 km/h reduziert wurde.
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Die L …straße, die vom/zum Stadtzentrum in Richtung Norden verläuft und den Mittleren Ring im Abschnitt P …tunnel/S …straße kreuzt, ist im Verkehrsentwicklungsplan der Landeshauptstadt M. als „örtliche Hauptverkehrsstraße mit maßgeblicher Verbindungsfunktion“ (Bl. 4 d. Behördenakten (BA)) definiert; in dem streitgegenständlichen Abschnitt ist entsprechend von Verkehrszählungen von einem hohen Verkehrsaufkommen (z.T. bis zu 30.000 Kfz/24h) auszugehen. Nach Beschwerden von Anwohnern hinsichtlich der Verkehrslärm- und Abgasbelastung und einer Prüfbitte des Bezirksausschusses … (S …-F …) zur Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung von Tempo 30 zur Nachtzeit prüfte die Straßenverkehrsbehörde in Zusammenarbeit mit den Fachreferaten der Beklagten mögliche straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen.
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Mit streitgegenständlicher verkehrsrechtlicher Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 wurde gemäß § 45 Abs. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) angeordnet, die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einem Abschnitt der L …straße
- auf der östlichen Fahrbahnseite (Anm.: stadtauswärts, Richtung Norden) zwischen M …straße und L …straße 172 sowie auf der
- westlichen Fahrbahn (Anm.: stadteinwärts, Richtung Süden) zwischen L …straße 173e und F …-J …-Straße
als streckenbezogene Geschwindigkeitsreduzierung durch Zeichen 274-30 StVO i.S.d. §§ 39 Abs. 9, 41 Abs. 1 StVO, Anlage 2, Abschnitt 7, lfd. Nr. 49 auf 30 km/h zu beschränken.
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Die verkehrsrechtliche Anordnung wurde von der Beklagten im Wesentlichen damit begründet, dass gemäß §§ 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 StVO die Benutzung von Straßen oder Straßenabschnitten zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränkt werden könne. Nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO sei für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs eine besondere örtliche Gefahrenlage erforderlich, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung durch Lärm und Abgase erheblich übersteige. Der Lärm müsse Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen werden müsse und damit zugemutet werden könne. In der anzustellenden Gesamtbetrachtung seien alle im geprüften Straßenzug ersichtlichen Gründe für verkehrsrechtliche Maßnahmen in die Abwägung einbezogen worden. Vorliegend seien die Fassadenpegel durch das Fachreferat nach den Vorgaben der Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen (RLS-90) an 141 Immissionsorten ermittelt worden. Alle untersuchten Gebäude lägen lt. einschlägigem Flächennutzungsplan in einem allgemeinen Wohngebiet, neun befänden sich im Geltungsbereich von Bebauungsplänen, die ein allgemeines Wohngebiet auswiesen. Im Abschnitt F …-J …-Straße/M …straße und E …-P …-Weg/U …straße seien besondere Wohngebiete festgesetzt. Unter näherer Darlegung der Berechnungsmethoden inkl. der herangezogenen Verkehrsmengen wurde weiter im Bescheid dargelegt, dass sowohl tags als auch nachts die Immissionsgrenzwerte der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) für Wohngebiete von 59 db(A) tags (06:00 und 22:00 Uhr) und 49 db(A) nachts (22:00 und 06:00 Uhr) an 112 Gebäuden sowie die Immissionsgrenzwerte der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm vom 23. November 2007 (Lärmschutz-Richtlinien-StV) in reinen und allgemeinen Wohngebieten von 70 db(A) tags und 60 db(A) nachts an 98 von 112 Immissionsorten überschritten seien. Damit bestehe nach ständiger Rechtsprechung ein möglicher Anspruch der Anlieger auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bzw. sogar ein Anspruch auf straßenverkehrsrechtliches Einschreiten. Bei Reduzierung auf 30 km/h würde an den untersuchten Gebäuden rechnerisch eine Pegelminderung von bis zu 2,5 db(A) tags und bis zu 2,3 db(A) nachts erreicht. Die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h sei daher als Einzelmaßnahme unter Berücksichtigung der Gesamtsituation mit sämtlichen Erwägungen der Verkehrssicherheit, der Luft- und Lärmbelastung sowie den örtlichen Gegebenheiten (u.a. sensible Einrichtungen, Bus- und Tramlinien) die geeignete, erforderliche und angemessene und mithin verhältnismäßige Maßnahme. Aus Lärmschutzgründen und lufthygienischen Aspekten sei eine Verstetigung des Verkehrsflusses zu befürworten. Damit würden sowohl das Schutzbedürfnis der Anwohner auf Reduzierung des Verkehrslärms berücksichtigt, als auch die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer verbessert, ohne die Flüssigkeit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs über Gebühr zu belasten. Eine spürbare Verkehrsverlagerung in umliegende Wohnstraßen sei nicht zu erwarten. Die Interessen des ÖPNV müssten unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zurückstehen, auch weil sie nur in geringem Maße beeinträchtigt würden.
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Die Bekanntmachung der verkehrsrechtlichen Anordnung erfolgte durch das Aufstellen der jeweiligen Verkehrsschilder, Zeichen 274-30 StVO gemäß Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO, Abschnitt 7 („zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h“), am 6. Februar 2023.
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Mit Schriftsatz vom *. Februar 2023, eingegangen am 8. Februar 2023, hat der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage mit dem Antrag erhoben,
die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h in der L …straße zwischen M …straße und P …straße in Fahrtrichtung Norden aufzuheben.
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Zur Begründung trug er vor, dass er in der W …straße wohne und die streitgegenständliche Straße benutze, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Die Voraussetzungen für die verkehrsrechtliche Anordnung in Form einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h lägen nicht vor, insbesondere seien die konkreten Lärmbelästigungen nicht ausreichend. Die Hauptlärmbelästigung gehe in dem betreffenden Abschnitt zwischen M … F … und P …straße vielmehr von den dort verkehrenden Straßenbahnen aus. Die Leichtigkeit des Verkehrs und die Aufnahmefähigkeit der L …straße seien darüber hinaus besonders zu gewährleisten und nicht durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung zu reduzieren. Im Übrigen sei die Anordnung auch nicht zwingend geboten bzw. erforderlich.
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Mit Schriftsatz vom 5. April 2023 erwiderte die Beklagte die Klage und beantragte,
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Zur Begründung führte sie aus, dass die Klage bereits unzulässig sei, dem Kläger fehle das Rechtsschutzbedürfnis, da er sein Begehren zuvor nicht gegenüber der Beklagten geltend gemacht habe. Im Übrigen sei die Klage unbegründet. Der streitgegenständliche Straßenzug weise in sämtlichen Streckenteilen Wohnbebauung von nicht zu unterschätzendem Gewicht auf, was sich im Übrigen auch aus den Darstellungen des Flächennutzungsplans ergebe. Der Abschnitt sei tagsüber insbesondere in den Hauptverkehrszeiten hoch belastet, sodass es immer wieder zu zähflüssigem Verkehr mit Stockungen komme. Im Übrigen sei aufgrund der Verkehrsdichte am Tag bereits vor Einführung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h oftmals keine höhere Geschwindigkeit erreicht worden. Die Orientierungswerte der 16. BImSchV seien wiederholt und verteilt über den gesamten streitgegenständlichen Straßenzug überschritten. Mit der Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h könne eine Lärmreduzierung von (aufgerundet) 3 dB(A) erreicht werden, so dass diese Maßnahme geeignet sei. Sie sei auch erforderlich, da keine alternativen Maßnahmen wie etwa Schaltungsprogramme der Lichtzeichenanlagen oder eine Sperrung für den Schwerlastverkehr bestünden. Eine Anordnung „Anlieger frei“ sei aufgrund der Klassifizierung als örtliche Hauptstraße nicht möglich. Eine nur zeitlich begrenzte Geschwindigkeitsreduzierung sei ebenso wenig geeignet, da die Orientierungswerte sowohl tags als auch nachts überschritten seien. Die Maßnahme sei auch angemessen, da sie dem Schutzbedürfnis der Anwohner durch Reduzierung des Verkehrslärms diene und habe zudem eine positive Wirkung für die Schadstoffbelastung, da Tempo 30 zu einer flüssigen Verkehrsabwicklung führe (weniger „Stop & Go“). Im Übrigen werde die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer weiter verbessert. Die Flüssigkeit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs werde nicht über Gebühr belastet. Mangels attraktiver Alternativrouten sei nicht mit spürbaren Verkehrsverlagerungen in das nachgeordnete Straßennetz und umliegende Wohngebiete zu rechnen. Die Interessen des motorisierten Individualverkehrs würden nur durch geringfügige Fahrzeitverluste beeinträchtigt und seien insbesondere im Hinblick auf die Rechtsgüter des Gesundheitsschutzes und des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit durch eine Verbesserung der Lärmsituation und der Verkehrssicherheit als nachrangig zu bewerten.
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Mit Schriftsatz vom ... Juni 2023 erklärte der Kläger, dass sich die Klage auf den gesamten Straßenabschnitt, der von der verkehrsrechtlichen Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 erfasst sei, beziehe. Die genauen Grenzen seien ihm nicht ersichtlich gewesen. Vorsorglich beantrage er, die Klage dahingehend zu erweitern.
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Weiter führte der Kläger aus, dass die verkehrsrechtliche Anordnung rechtsfehlerhaft sei. Das Lärmschutzgutachten beruhe auf Verkehrszahlen aus dem Jahr 2019, der Verkehr sei nach der Pandemie aber dauerhaft stark zurückgegangen. Im Übrigen sei durch technische Entwicklungen ein Rückgang der Lärmimmissionen durch Fahrzeuge zu verzeichnen. Die Beklagte habe dies selbst eingestanden, ein pauschales Abziehen eines Wertes von 2 db(A) aufgrund der nach RLS-90 ermittelten Werte sei nicht nachvollziehbar. Das auf dieser Grundlage ausgeübte Ermessen sei rechtsfehlerhaft. Im Übrigen sei die baurechtliche Einordnung der betroffenen Gebiete falsch. Besondere bzw. allgemeine Wohngebiete dienten vorwiegend dem Wohnen, dies sei im Bereich der L …straße jedoch nicht der Fall, da diese in den jeweiligen Abschnitten hauptsächlich von Büronutzungen, Gewerbe und Gastronomie geprägt sei, Wohnen sei nur von untergeordneter Bedeutung. Im Bereich östlich der F …straße und U …straße bestehe keinerlei Bebauung, dieser Bereich sei mit dem Bus-/Trambahnhof und dem Forum „M … F …“ belegt. Im Bereich östlich der D …straße und J …-F …-Straße seien u.a. eine Tankstelle, Gewerbeflachbauten und ein Hotel vorhanden, so dass von einem Mischgebiet auszugehen sei. Die Länge der von der Geschwindigkeitsbeschränkung betroffenen Strecke mit 1,7 km bzw. 1,9 km sei nicht in die Ermessensentscheidung miteingestellt worden, die Belange des fließenden Verkehrs seien auf einer erheblichen Strecke eingeschränkt worden. Faktisch würde damit die vom Bundesgesetzgeber vorgegebene innerörtliche Regelgeschwindigkeit von 50 km/h ausgehebelt.
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Mit Schriftsatz vom 29. September 2023 erwiderte die Beklagte hierzu, dass eine aktualisierte Verkehrsmengenzählung von Juli 2023 nur geringfügige Abweichungen im Vergleich zu 2019 ergeben habe. Insgesamt seien in dem Streckenabschnitt 2.722 Personen mit Wohnsitz gemeldet (F …-J …-Str. und H …str. bzw. M …str. und F …str.: 378 Personen; H …str. und E …-P …-Weg bzw. F …str. und U …str.: 376; E …-P …-Weg und R …str. bzw. U …str. und P … Str.: 734; R …str. und L …str. 173f bzw. P … Str. und S … Tor: 1.234). Das Baureferat habe zudem bestätigt, dass die Gebietszuordnung im Flächennutzungsplan generell den Bebauungsplänen entspreche. Die Beklagte habe bei ihrer Abwägung die Gesamtlänge des Streckenabschnitts berücksichtigt. Da die Überschreitungen der Lärmwerte aber verteilt über den gesamten Streckenbereich aufträten, sei eine Anordnung von Tempo 30 in kürzeren Bereichen für eine Lärmreduzierung nicht gleichermaßen geeignet. Eine einheitliche und dauerhafte Anpassung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h führe zu einem stetigen flüssigen Verkehr ohne unnötige Beschleunigungsvorgänge und somit zu einer Verbesserung der Lärmsituation, vgl. Abs. XII zu Zeichen 274 der Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO). Eine Zerstückelung in mehrere verschiedene Geschwindigkeitsregelungen auf sehr kurzer Strecke sei zudem der Verkehrssicherheit nicht zuträglich, die zuständige Polizeibehörde hätte sich in anderen Fällen dagegen ausgesprochen.
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Mit Schriftsatz vom … Januar 2024 führte der Kläger weiter aus, dass sich allgemein eine Bezugnahme auf Flächennutzungspläne verbiete, vielmehr sei die individuelle baurechtliche Typisierung maßgebend. Hieraus folge, dass es sich bei dem betreffenden Straßenabschnitt größtenteils um ein Kerngebiet handle. Im Übrigen berücksichtige die Beklagte die Vorbelastung durch die L …straße und Entwicklungen in den letzten Jahren ebenso wenig wie die Lärmeinwirkungen durch die Straßenbahn. Eine Geschwindigkeitsbeschränkung über die gesamte Straßenlänge sei unverhältnismäßig.
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Am 6. Juni 2024 fand eine Beweisaufnahme der Kammer durch Einnahme eines gerichtlichen Augenscheins statt. Auf das Protokoll des Ortstermins wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 17. Juli 2024 trug die Beklagte unter Vorlage von ergänzenden schalltechnischen Lärmberechnungen nach RLS-90 sowie nach den Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen – Ausgabe 2019 (RLS-19) vor, dass der gerichtliche Augenschein bestätigt habe, dass die bauordnungsrechtliche Einordnung der Gebiete nicht fehlerhaft sei. Selbst wenn man den streitgegenständlichen Abschnitt der L …straße isoliert von den im Gebietszusammenhang zugeordneten Gebietstypen (Anm. die westlich und östlich jeweils an die L …straße angrenzenden Gebiete) betrachte, sei nachweislich eine hohe Wohnnutzung vorhanden. Auch bei einer Zuordnung des Straßenzugs oder Teilen davon zu einem Misch-/Kerngebiet sei eine notwendige qualifizierte Gefahrenlage gegeben. So seien bei einer Berechnung nach RLS-90 die Grenzwerte der 16. BImSchV tags an 127 sowie nachts an 129 der 136 der untersuchten Gebäude bei 50 km/h überschritten. Die Grenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV würden unter Annahme eines Misch-/Kerngebiets tags an 31 und nachts an 42 Gebäuden überschritten. Bei einer Berechnung nach RLS-19 seien bei 50 km/h und der Annahme eines Misch-/Kerngebiets die Grenzwerte der 16. BImSchV tags bei 131 und nachts bei allen der 136 untersuchten Gebäuden überschritten. Die Grenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV würden in diesem Lastfall bei 23 Gebäuden tags und 89 Gebäuden nachts überschritten. Der Trambahnverkehr trage dabei nur in einem untergeordneten Maß zur Verkehrslärmbelastung bei. Der Straßenverkehr bilde eine permanente Lärmquelle, während die Lärmeinwirkungen durch die Trambahn nur intervallweise aufträten. Der Summenpegel aus Straßenverkehr und Schienenverkehr liege im Mittel nur um 0,4 bis 1,0 dB(A) höher als der durch den Straßenverkehr allein verursachte Lärmpegel. Selbst bei einer Verdreifachung des Verkehrsaufkommens auf dem Schienenweg würde der Straßenverkehr nach wie vor die maßgebliche Lärmquelle darstellen. Die Geschwindigkeitsreduzierung sei erforderlich, andere Maßnahmen seien nicht gleich geeignet. Im Hinblick auf die hohe Lärmbelastung und die hohe Wohnnutzung im streitgegenständlichen Straßenzug sei eine Geschwindigkeitsreduzierung nur in den Nachtstunden (22.00 bis 6.00 Uhr) nicht gleichermaßen zur Lärmreduzierung und damit zum Gesundheitsschutz geeignet; auch tagsüber seien bei einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h enorm hohe Lärmwerte mit zahlreichen Überschreitungen der Werte der Lärmschutz-Richtlinien-StV zu verzeichnen (bei Annahme eines Kern-/Mischgebiets Überschreitung der Immissionsgrenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV tagsüber an 31 (RLS-90) bzw. 23 Gebäuden (RLS-19)); die weiteren Lärmpegel reichten im Übrigen weitestgehend an diese heran. Bei der Abwägung sei auch die Verkehrsbedeutung des streitgegenständlichen Streckenabschnitts hinreichend berücksichtigt worden. Bei der L …straße handele es sich um eine örtliche Hauptverkehrsstraße mit maßgebender, überwiegend (inner-) örtlicher Verbindungsfunktion des Sekundärnetzes. Durch den zweispurigen Ausbau und das baulich abgetrennte Mittelplanum für öffentliche Verkehrsmittel stelle sie im Vergleich zu den dem Tertiärnetz zugeordneten Seitenstraßen die attraktive Verbindung aus der Stadtmitte in den Münchner Norden dar. Es seien keine Verkehrsverlagerungen in das Tertiärnetz zu erwarten gewesen, insbesondere da dort – aufgrund der stellenweise geltenden Einbahnregelungen und den engen Straßenverhältnissen – keine attraktiven Ausweichrouten bestünden. Zudem ließen die erhobenen Verkehrsdaten aus dem Jahr 2023 keine signifikanten Verkehrsreduzierungen erkennen, die auf eine Verlagerung in das Tertiärnetz schließen ließen. Auch die Polizei habe bis Juni 2024 keine Verkehrsverlagerungen in angrenzende Wohnviertel feststellen können. Die Bündelungsfunktion der L …straße sei mithin nach wie vor gegeben. Des weiteren sei die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf dem gesamten Straßenabschnitt gerechtfertigt. Die Streckenabschnitte ohne Wohnnutzung seien verteilt auf mehrere kürzere Abschnitte und betrügen auf der westlichen Fahrbahn insgesamt 570 m, auf der östlichen Fahrbahn insgesamt 460 m. Da eine Verkehrsverstetigung sowohl dem Schutz vor Verkehrslärm als auch vor Abgasen diene, sei eine kleinteilige immer wiederkehrende Anordnung von Tempo 30 weder zielführend noch aus Sicht der Verkehrssicherheit umzusetzen. Eine Zerstückelung in verschiedene Teilbereiche würde durch die mehrmaligen Brems- und Beschleunigungsvorgänge dem gewollten kontinuierlichen Geschwindigkeitsverlauf entgegenwirken und die Gefahr von Auffahrunfällen steigern. Zudem würde dies auch der Klarheit und Verständlichkeit der Verkehrsregelung für die Verkehrsteilnehmenden entgegenstehen, vgl. XII zu Zeichen 274 der VwV-StVO. Darüber hinaus käme es durch die Geschwindigkeitsbegrenzung kaum zu Zeitverlusten, denn bereits ohne diese habe aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens die durchschnittliche Geschwindigkeit tagsüber kaum über 30 km/h gelegen. Zusammenfassend sei die ganztägige Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h bei einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Verkehrsbedeutung, etwaigen Fahrzeitverlängerungen und den Gesichtspunkten der Verkehrssicherheit, der Luftreinhaltung und des Lärmschutzes im Hinblick auf das hohe Gut des Gesundheitsschutzes die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme. Höchstvorsorglich werde die Begründung der verkehrsrechtlichen Anordnung vom 8. Dezember 2022 mit den vorstehenden Ausführungen ausdrücklich ergänzt.
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Mit Schriftsatz vom … Juli 2024 entgegnete der Kläger, dass, sofern die Beklagte davon ausgehe, dass tagsüber keine durchschnittliche Geschwindigkeit von 30 km/h zu erreichen sei, die streitbefangene Anordnung schon nicht erforderlich sei. Da die Immissionswerte errechnet seien, fielen zudem – wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h in der Realität ohnehin nicht erreicht würde – die tatsächlichen Lärmimmissionen damit aber auch geringer aus. Durch die faktisch niedrigere Geschwindigkeit sei dann aber auch eine mögliche zu erzielende Lärmreduzierung geringer und dürfte daher bei den meisten Gebäuden nicht zu 3 db(A) führen, zumal die errechneten Werte in etlichen Fällen nur sehr knapp die notwendige Schwelle von aufgerundet 3 db(A) erreichten. Die Beklagte habe nach wie vor nicht die Gesamtlänge der Strecke in ihre Erwägungen mit eingestellt. Alleine der Umstand, dass eine kleinteilige streckenweise Geschwindigkeitsbeschränkung verkehrlich nicht sinnvoll wäre, rechtfertige nicht die Anordnung über eine Länge von 2,3 km. Je länger die Geschwindigkeitsbeschränkung sei, desto stärker fielen die negativen Auswirkungen für die Kfz-Nutzer ins Gewicht. Wäre die Streckenlänge nicht zu berücksichtigen, könnten theoretisch ganze Stadtgebiete mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung belegt werden, obwohl die Regelgeschwindigkeit innerorts gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 StVO 50 km/h betrage. Die Ausnahmevorschrift dürfe aber nicht faktisch zur Regel werden, dies liefe der Systematik der StVO zuwider. Der Verordnungsgeber hätte sonst verschiedene Regelhöchstgeschwindigkeiten für verschiedene innerörtliche Gegebenheit vorgeben müssen, was er aber ausdrücklich im Rahmen der letzten Änderungen der StVO nicht getan habe.
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Am 31. Juli 2024 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, hierbei beantragte der Kläger zuletzt,
die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 aufzuheben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll des Augenscheins und der mündlichen Verhandlung sowie ergänzend auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.
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Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) gegen die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 als Allgemeinverfügung (Art. 35 Satz 2 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz – BayVwVfG) zulässig. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom ... Juni 2023, der seinem zuletzt in der mündlichen Verhandlung gestellten Klageantrag entspricht, die Klage dahingehend erweitert, dass die verkehrsrechtliche Anordnung in ihrer Gesamtheit erfasst sein soll. Die der Klageerweiterung innewohnende Klageänderung ist zweifelsohne sachdienlich (§ 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO), im Übrigen liegen die Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2 VwGO durch das rügelose Einlassen der Beklagten vor. Die der Begründetheit zuzuordnende Frage, ob eine Teilaufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung in Betracht kommt (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl., § 113 Rn. 11), ist im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung mithin nicht von Bedeutung.
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II. Der Kläger ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO) und hat die Klage fristgerecht (§ 58 Abs. 2 VwGO) erhoben. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten fehlt dem Kläger nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da im Rahmen einer Anfechtungsklage im Hauptsacheverfahren grundsätzlich keine das Rechtsschutzbedürfnis berührende Obliegenheit der Klagepartei besteht, sich zunächst mit seinem Begehren an die zuständige Behörde zu wenden.
Die Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg. Sie ist nur insoweit begründet, als durch die verkehrsrechtliche Anordnung vom 8. Dezember 2022 die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der östlichen Fahrbahnseite der L …straße (d.h. stadtauswärts, Richtung Norden) zwischen der Einmündung M …straße und L …straße 172 auf eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h beschränkt wurde. Insoweit ist sie rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (siehe unter I.). Im Übrigen, d.h. bezogen auf die westliche Fahrbahnseite (d.h. stadteinwärts, Richtung Süden) im Bereich zwischen L …straße 173e bis zur Einmündung F …-J …-Straße ist die verkehrsrechtliche Anordnung vom 8. Dezember 2022 hingegen rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass die hierauf gerichtete Klage abzuweisen war (siehe unter II.).
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I. Die Allgemeinverfügung der Beklagten bezogen auf die östliche Fahrbahnseite stadtauswärts ist rechtswidrig und war hinsichtlich der gesamten Streckenlänge aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Die streitgegenständliche verkehrsrechtliche Anordnung ist im tenorierten Umfang teilbar. Die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der östlichen Fahrbahnseite (stadtauswärts, Richtung Norden) konnte daher isoliert aufgehoben werden.
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a) Die Verwendung des Wortes „soweit“ in § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO macht deutlich, dass es zu einer Teilaufhebung kommen kann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt teilbar ist, d.h. der aufzuhebende Teil nicht mit den übrigen Teilen des angefochtenen Verwaltungsakts in einem untrennbaren Zusammenhang steht, diese vielmehr selbstständig bestehen können und durch die Teilaufhebung auch nicht eine andere Bedeutung erlangen, als ihnen ursprünglich zukam (Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O. § 113 Rn. 11). Voraussetzung der Teilbarkeit ist, dass der verbleibende Rest-Verwaltungsakt in rechtmäßiger Weise bestehen bleiben kann; die hierdurch bedingte Änderung des Verwaltungsakts muss möglich sein, ohne dass der verbleibende „Rest“ zu etwas qualitativ anderem wird (BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 11 B 19.703 – juris Rn. 28 m.w.N.; Pietzcker/Marsch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 45. EL, Januar 2024, § 42 VwGO Rn. 13). Auch bei Allgemeinverfügungen in Form von verkehrsrechtlichen Anordnungen, die durch das Aufstellen eines Verkehrszeichens bekannt gemacht werden, ist die Teilbarkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Hierbei kommt es nicht nur darauf an, ob der Regelungsgegenstand grundsätzlich teilbar ist, sondern auch darauf, ob der nicht angefochtene Teil der gesamten Regelung unabhängig von dem angefochtenen Teil rechtlich Bestand haben kann und ob er von der Behörde selbständig erlassen worden wäre oder von Rechts wegen hätte erlassen werden müssen (BayVGH, B.v. 5.11.2019 a.a.O.). Steht der Erlass des Verwaltungsaktes im Ermessen der Behörde, ist nach der Rechtsprechung zudem von Bedeutung, ob die Behörde den Verwaltungsakt auch ohne die angegriffene Teilregelung erlassen hätte; durch eine bloße Teilaufhebung darf ihr nicht eine Restregelung aufgezwungen werden, die sie so nicht erlassen hätte (BayVGH, U.v. 24.7.2024 – 11 B 23.589 – juris Rn. 67 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 1.7.2020 – 3 B 1.20 – juris Rn. 14; Riese in Schoch/Schneider a.a.O. § 113 VwGO Rn. 14; Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O. § 113 Rn. 11). In der Kommentarliteratur wird hingegen das zusätzliche Erfordernis, die Aufteilung müsse auch dem Behördenwillen entsprechen bzw. der verbleibende Rest-Verwaltungsakt müsse so von der Behörde gewollt sein, z.T. mit der Begründung in Zweifel gezogen, dass die Behörde einen von ihr nicht gewünschten Rest-Verwaltungsakt auch widerrufen oder zurücknehmen könne (Pietzcker/Marsch in Schoch/Schneider a.a.O. § 42 VwGO Rn. 13; a.A. hingegen Riese in Schoch/Schneider a.a.O. § 113 VwGO Rn. 14).
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b) Davon ausgehend ergibt sich bezogen auf die vorliegende straßenverkehrsrechtliche Anordnung, bei der jeweils beide Fahrtrichtungen mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung belegt wurden, die der Kläger – nach entsprechender zulässiger Klageerweiterung – in ihrer Gesamtheit angegriffen hat, Folgendes: Grundsätzlich dürfte regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Anordnung einer Geschwindigkeitsreduzierung in beide Fahrtrichtungen in einem untrennbaren Zusammenhang steht; gerade bei kleineren innerörtlichen Straßen dürfte dies der Regelfall sein, denn gewöhnlich dürfte eine konkrete Gefahrenlage nicht nur bezogen auf eine Fahrbahnseite bestehen. Andererseits sieht etwa Abs. XI zu Zeichen 274 der VwV-StVO – freilich bezogen auf Geschwindigkeitsbeschränkungen hinsichtlich sensibler Einrichtungen – vor, dass bei streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht beide Fahrtrichtungen gleichbehandelt werden müssen. Allgemein sind ohnehin die besonderen Umstände des Einzelfalls zu betrachten.
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In der vorliegenden Konstellation sprechen gewichtige Argumente dafür, dass eine teilweise rechtswidrige Anordnung betreffend die östliche Fahrbahnseite (vgl. unter 2.) nicht die Gesamtregelung erfasst und die verkehrsrechtliche Anordnung, die westlichen Fahrbahnseite betreffend, fortbestehen kann, mithin die Allgemeinverfügung insoweit teilbar ist. Dafür spricht, dass in der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung selbst sowohl sprachlich (vgl. „- auf der östlichen Fahrbahnseite zwischen M …straße und L …straße 172 sowie auf der – westlichen Fahrbahn zwischen L …straße 173e und F …-J …-Straße“), als auch sachlich-räumlich eine derartige Aufteilung für die unterschiedlichen Fahrtrichtungen von vornherein angelegt war. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass die beiden Abschnitte selbst von unterschiedlicher Länge sind und nicht etwa in symmetrischer Weise parallel beginnen bzw. enden; so liegt die L …straße 173e als Startpunkt der Anordnung der westlichen Fahrbahnseite fast 300m nördlich des Endpunkts der Anordnung der östlichen Fahrbahnseite (L …straße 172). Darüber hinaus lassen auch die besonderen örtlichen Verhältnisse den Schluss zu, dass kein untrennbarer Zusammenhang besteht, und sich die fehlerbehaftete Regelung bzgl. der stadtauswärts verlaufenden Fahrbahnen von der Gesamtregelung abtrennen lässt, ohne dass der restliche Verwaltungsakt zu etwas qualitativ anderem würde. Denn an der betreffenden fehlerbehafteten Stelle ist die L …straße vierspurig ausgebaut (je Fahrtrichtung zwei Fahrspuren) und weist zudem ein ca. 7-8 m breites Mittelplanum mit einem zweigleisigen Gleisbett für Straßenbahnen auf. Damit besteht schon aufgrund der räumlichen Trennung – wie etwa bei autobahnähnlichen Schnellstraßen – kein entsprechender unmittelbarer Begegnungsverkehr, bei der ggf. unterschiedliche Geschwindigkeitsregelungen jedenfalls über einen längeren Streckenverlauf nicht zweckmäßig wären. Letztlich steht auch der Anspruch auf Vollzugsfolgenbeseitigung (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO) und damit praktische Gründe dem Ergebnis nicht entgegen, da die montierten Verkehrsschilder nur die Fahrbahnseite stadtauswärts betreffend abgebaut werden können. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte nur und zwar ausschließlich eine Gesamtregelung dergestalt erlassen wollte, beide Fahrtrichtungen mit einer und zwar symmetrisch verlaufenden Geschwindigkeitsbeschränkung zu belegen, bestehen nach dem oben Gesagten nicht, so dass es nicht darauf ankommt, inwieweit der Wille der Behörde bei einer Teilaufhebung bzgl. einer Ermessensentscheidung miteinzubeziehen ist. Dies auch vor dem Hintergrund, dass sowohl die Möglichkeit für die Straßenverkehrsbehörde bestünde – dies freilich unter Beachtung von § 121 VwGO – eine modifizierte Regelung bzgl. der östlichen Fahrbahnseite vorzunehmen, bzw. die verkehrsrechtliche Anordnung die westliche Fahrbahnseite betreffend aufzuheben.
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Indes war die streitgegenständliche verkehrsrechtliche Anordnung die östliche Fahrbahnseite betreffend hinsichtlich des gesamten Streckenabschnitts aufzuheben. Gemessen an den dargelegten Grundsätzen zur Teilbarkeit eines Verwaltungsaktes wäre eine – abschnittsweise – Aufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung nach Überzeugung der Kammer nicht zulässig, da das Gericht andernfalls zu weitgehend in den Ermessens- und Beurteilungsspielraum der Straßenverkehrsbehörde (Art. 20 Abs. 2 GG) eingreifen würde. Dies gilt selbst für den Fall, dass – wie hier – eine Fehlerhaftigkeit für einen (Teil-)Streckenabschnitt im nördlichen Bereich der östlich verlaufenden Fahrbahnen festzustellen war. Denn jedenfalls ist hierbei keine eindeutige Zäsur erkennbar, so dass sich die fehlerbehaftete Regelung nicht von der Gesamtregelung abtrennen ließe, ohne dass in die der Beklagten vorbehaltenen Abwägungsentscheidung eingegriffen würde (vgl. im Einzelnen unter 2.).
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2. Die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h bezogen auf die östliche Fahrbahnseite (stadtauswärts, Richtung Norden) zwischen M …straße und L …straße 172 war insgesamt und einheitlich aufzuheben.
31
a) Da es sich bei der Anordnung von Verkehrszeichen um Dauerverwaltungsakte handelt, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, B.v. 1.9.2017 – 3 B 50.16 – juris Rn. 8; Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O. § 113 Rn. 80).
32
b) Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten. Das gleiche Recht haben sie gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen. Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs, wozu auch die Anordnung einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h zählt, dürfen nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO – abgesehen von hier nicht, jedenfalls auf dem gesamten Streckenabschnitt, einschlägigen Ausnahmen (vgl. § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO) – nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Bezogen auf Lärmeinwirkungen sind die Voraussetzungen hierfür dann erfüllt, wenn der Verkehrslärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen werden muss und damit zugemutet werden kann (st.Rspr. BayVGH, B.v. 23.3.2022 – 11 ZB 20.2082 – juris Rn. 10 hinsichtlich eines Anspruchs auf verkehrsrechtlichen Einschreitens unter Verweis auf BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76.84 – BVerwGE 74, 234 – juris Rn. 13; BayVGH, U.v. 21.3.2012 – 11 B10.1657 – juris Rn. 24; B.v. 27.2.2015 – 11 ZB 14.309 – juris Rn. 18). Dabei ist insbesondere auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Anlieger sowie auf eine eventuell gegebene Lärmvorbelastung abzustellen. Auch andere Besonderheiten des Einzelfalls sind maßgeblich. Die Grenze der Zumutbarkeit in diesem Sinne wird nach allgemeiner Auffassung durch keinen bestimmten Schallpegel oder Abgaswert bestimmt (a.a.O. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 22.12.1993 – 11 C 45.92 – juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 6.7.2020 – 11 ZB 18.1840 – juris Rn. 25). Als Orientierungspunkte zur Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze können jedoch die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV dienen. Wenn diese Schwelle der Lärmbelastung überschritten ist, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Straßenverkehrsbehörde zumindest regelmäßig erfüllt und die Behörde hat unter Gebrauch ihres Ermessens über Beschränkungen des fließenden Verkehrs zu entscheiden bzw. ist auf entsprechenden Antrag hin zu einer Ermessensentscheidung verpflichtet (a.a.O. unter Verweis auf BayVGH, B.v. 6.7.2020 a.a.O. Rn. 25; OVG NW, B.v. 28.3.2018 – 8 A 1247/16 – juris Rn. 32). Werden die in Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV aufgeführten Richtwerte überschritten, kann sich das Ermessen der Behörde zur Pflicht zum Einschreiten verdichten. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist aber auch dann nicht zwangsläufig gegeben (a.a.O. mit Verweis auf OVG NW, B.v. 28.3.2018 – 8 A 1247/16 – juris Rn. 32; OVG Berlin-Bbg, B.v. 8.8.2019 – OVG 1 N 104.17 – juris Rn. 11; SächsOVG, U.v. 19.3.2020 – 1 A655/17 – juris). Die Berechnung der Beurteilungspegel (bezogen auf den Bau oder die wesentliche Änderung von öffentlichen Straßen) erfolgt dabei nach § 3 Abs. 1 der 16. BImSchV i.d.F. ab 1. März 2021 nach Abschnitt 3 i.V.m. den Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen RLS-19 . Nach Nr. 2.2 der Lärmschutz-Richtlinien-StV waren für die Berechnung des Beurteilungspegels und die Bestimmung des Immissionsortes die Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen (RLS-90) heranzuziehen (vgl. Suslin/Zilsdorf, Die Anordnung von Tempo 30 aus Lärmschutzgründen, NZV 2020, 407). Örtliche Schallmessungen können hingegen nicht berücksichtigt werden, da sich die Messwerte nur auf die zum Zeitpunkt der Messungen vorhandenen Schallemissions- und ausbreitungsbedingungen beziehen (Suslin/Zilsdorf a.a.O.).
33
Die Annahme der Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO setzt dabei zudem die gerichtlich voll überprüfbare Prognose voraus, dass eine auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruhende konkrete Gefahr bzw. eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besteht. Dabei trägt die anordnende Straßenverkehrsbehörde nach den allgemeinen Regeln die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die verkehrsrechtliche Anordnung erfüllt sind. Daraus folgt, dass die Straßenverkehrsbehörde die einer verkehrsrechtlichen Anordnung zugrundeliegenden Umstände ermitteln, dokumentieren und aktenkundig machen muss (BayVGH, B.v. 28.12.2020 – 11 ZB 20.2176 – juris Rn. 22, B.v. 14.1.2022 – 11 CS 21.2672 – juris Rn. 14; U.v. 24.7.2024 – 11 B 23.589 – juris Rn. 34).
34
Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 i.V.m. § 45 Abs. 1 StVO gegeben, steht das Tätigwerden im Ermessen der zuständigen Behörde. Dabei hat sie alle betroffenen Interessen zu ermitteln und zu gewichten. Ferner sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 35; U.v. 5.4.2001 – 3 C 23.00 – juris Rn. 22). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist insbesondere verletzt, wenn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs durch weniger weitgehende Anordnungen gewährleistet werden kann (BVerwG, U.v. 5.4.2001 a.a.O.). Von einer Maßnahme kann umso eher abgesehen werden, je geringer der zu beseitigende Missstand ist. Umgekehrt müssen bei erheblichen Missständen die entgegenstehenden Interessen von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese eine Maßnahme unterbleiben soll (vgl. BVerwG, U.v. 4.6.1986 – BVerwG 7 C 76.84 – juris Rn. 15 zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen). Allerdings können Rechtsschutzsuchende nur verlangen, dass ihre eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden. Abwägungserheblich sind dabei nur sog. qualifizierte Interessen, die über das Interesse jedes Verkehrsteilnehmers hinausgehen, in seiner Freiheit möglichst wenig beschränkt zu werden (BayVGH, U.v. 24.7.2024 – 11 B 23.589 – juris Rn. 35 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 27.1.1993 – 11 C 35.92 – juris Rn. 14, 23; U.v. 23.9.2010 – 3 C 32.09 – juris Rn. 45; BayVGH, B.v. 5.10.2022 – 11 ZB 22.157 – juris Rn. 14; U.v. 5.6.2018 – 11 B 17.1503 – juris Rn. 38, 42).
35
c) Gemessen hieran liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen gemäß §§ 45 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, Abs. 9 Satz 3 StVO für ein Tätigwerden und Einschreiten der Beklagten (von Amts wegen) zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Straßenverkehrslärm vor, allerdings hat die Beklagte das Ermessen hinsichtlich des Erlasses einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h betreffend den Fahrbahnen auf der östlichen Seite stadtauswärts zwischen M …straße und L …straße 172 – was die Ausdehnung und damit die Gesamtlänge der verkehrsrechtlichen Anordnung betrifft – nicht ermessensfehlerfrei ausgeübt, § 114 VwGO.
36
Zunächst ist festzuhalten, dass die angegriffene verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten vom 8. Dezember 2022 in Form einer streckenbezogenen Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h ausschließlich mit dem Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm begründet wurde. Aus der Begründung der Allgemeinverfügung und dem weiteren Vorbringen der Beklagten im gerichtlichen Verfahren ist zwar erkennbar, dass sie annimmt, dass sich diese auch auf den Schutz der Wohnbevölkerung vor Abgasen sowie auf die Verkehrssicherheit positiv auswirken werde, allerdings wurden diese Gesichtspunkte weder hinreichend dokumentiert noch dargelegt, dass insoweit eine Gefahrenschwelle überschritten werde, die eine verkehrsregelnde Maßnahme rechtfertigen könnte.
37
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein straßenverkehrsrechtliches Tätigwerden zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm mögen vorliegend gegeben gewesen sein. Die Beklagte konnte insoweit zunächst darlegen, dass von dem streitbefangenen Straßenabschnitt eine verkehrslärmbedingte Gefahrenlage für Wohnnutzung ausgeht. Zwar genügt die Begründung der streitgegenständlichen verkehrsrechtlichen Anordnung vom 8. Dezember 2022 nicht den Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast der Beklagten. Allerdings hat die Beklagte insoweit – was die Tatbestandsvoraussetzungen anbelangt – in zulässiger Weise ihre Begründung ergänzt und die Überschreitung der Lärmwerte auch unter der Annahme des Vorliegens eines Mischgebiets dargetan; diese Klassifizierung entsprach auch den gerichtlichen Feststellungen im Augenscheintermin.
38
Die Anordnung der Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h dient dabei grundsätzlich dem Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm, auch wenn die Behörde zunächst nicht nachvollziehbar von einem höheren Schutzniveau ausgegangen ist. Grundsätzlich muss es sich dabei nicht um ein Wohngebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung (BauNVO) handeln, Maßnahmen sind allgemein zugunsten der Wohnbevölkerung zulässig, wobei die konkrete Gefahrenlage durch den Lärm vom Straßenverkehr auszugehen hat. Die für die Bestimmung des Schutzniveaus maßgebende Bebauung entspricht vorliegend tendenziell dem eines Mischgebiets im Sinne von § 6 BauNVO. Es ist dem Gericht nach Durchführung des Augenscheintermins demzufolge nicht nachvollziehbar, dass die Beklagte den gesamten sich auf ca. 2,0 km erstreckenden Straßenabschnitt – bis auf kleinere Ausnahmen in dessen Verlauf – ursprünglich dem Schutzniveau eines allgemeinen bzw. besonderen Wohngebiets zuordnete. Auf die Darstellungen des Flächennutzungsplans sowie einzelner Bebauungspläne in diesem Bereich kommt es nicht an, vielmehr sind die Gebiete oder Flächen entsprechend ihrer tatsächlichen Nutzung einzuordnen (vgl. BayVGH, B.v. 6.7.2020 – 11 ZB 18.1840 – juris Rn. 25).
39
Anders als die Beklagte annimmt, kommt es dabei nicht auf den Gebietscharakter der an die L …straße sowohl im Westen als auch im Osten jeweils angrenzenden Wohnviertel an. Insoweit ist der Umgriff zur Beurteilung des Schutzniveaus nicht derart weit zu fassen, sondern bezieht sich nur auf die unmittelbar an die boulevardmäßig ausgestalte Hauptverkehrsstraße selbst bestehende Bebauung, die vorwiegend von gewerblicher Nutzung sowie Wohnnutzung geprägt ist. Diese dürfte selbst den Umgriff zur Bestimmung eines faktischen Baugebiets anhand der „Eigenart der näheren Umgebung“ im Sinne des § 34 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) bilden. Umgekehrt dürfte bei den westlich und östlich gelegenen Wohngebieten auch nicht die L …straße für die Beurteilung des Gebietscharakters maßgebend sein. Die Eigenart der so abgesteckten näheren Umgebung entspricht dabei im Wesentlichen dem eines Mischgebiets i.S.v. § 6 BauNVO. Denn die vorwiegend auf das Wohnen ausgerichtete Zweckbestimmung allgemeiner (und besonderer) Wohngebiete setzt zugleich eine optische Unterordnung gewerblicher Nutzungen voraus (Nds. OVG, B.v. 9.10.2019 – 1 LB 147/17 – juris Rn. 28), was hier aufgrund der Vielzahl der Gewerbetriebe erkennbar, selbst im Bereich südlich der M … F …, nicht der Fall ist. Denn dort befindet sich, wie der gerichtliche Augenschein ergeben hat, zwar in den oberen Stockwerken jedenfalls durchaus bzw. zumeist Wohnnutzung, jedoch im Übrigen keine funktional gebietsbezogenen und immissionsverträglichen sonstigen Nutzungsarten, wie dies für eine Einstufung als allgemeines bzw. besonderes Wohngebiet erforderlich wäre. Vielmehr ist die Münchner L …straße auch konkret in diesem Abschnitt von solchen Gewerbebetrieben geprägt, wie sie für ein Mischgebiet typisch sind und in einem allgemeinen Wohngebiet, da sie nicht der gebietstypischen Versorgung dienen, als Fremdkörper anzusehen wären. Die gewerblichen Nutzungen finden dabei nicht nur in einem weitgehend untergeordneten Umfang statt, sondern sind nahezu in jedem Gebäude vorhanden und geben daher dem Gebiet ein maßgebliches Gepräge. Insoweit zeigte die Inaugenscheinnahme, dass u.a. Cafés, Restaurants, Mobiltelefongeschäfte, Fahrradgeschäfte, Ärzte (Zahnarzt, Orthopäde u.a.), Supermärkte, Anwaltskanzleien, Optiker, großflächiger Einzelhandel („Galeria Karstadt/Kaufhof“), Hotels, Fitnessstudio, eine Tankstelle und ein Immobilienunternehmen den Charakter des betreffenden Straßenabschnitts der L …straße maßgeblich prägen. Die von Beklagtenseite vorgebrachte unterschiedliche Nutzung für einzelne Geschosse (im Erdgeschoss an der Straßenseite keine bzw. nur ausnahmsweise Wohnnutzung) entspräche hingegen am ehesten einem sog. Urbanen Gebiet gemäß § 6a BauGB, welches freilich von der Regelung zu faktischen Baugebieten nach § 34 Abs. 2 BauGB ausgeschlossen ist (§ 245c Abs. 3 BauGB), da es insoweit einer Festsetzung durch Bebauungsplan bedürfte.
40
Die Beklagte hat dennoch auf Tatbestandsebene ihrer Darlegungs- und Beweislast genügt, in dem sie mit Schriftsatz vom 17. Juli 2024 schalltechnische Berechnungen vorlegte, die die Überschreitungen der für ein Mischgebiet maßgeblichen Immissionswerte der 16. BImSchV als auch teilweise der der Lärmschutz-Richtlinien-StV belegen. Bei der Berechnung nach RLS-90 waren die Grenzwerte der 16. BImSchV tags an 127 sowie nachts an 129 der 136 der untersuchten Gebäude bei 50 km/h überschritten. Bei einer Berechnung nach RLS-19 waren bei 50 km/h und der Annahme eines Mischgebiets die Grenzwerte der 16. BImSchV tags bei 131 und nachts bei allen der 136 untersuchten Gebäuden überschritten. Darüber hinaus wurden nach beiden Berechnungsmethoden Überschreitungen der (höheren) Immissionsgrenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV unter Annahme eines Mischgebiets festgestellt: tags an 31 und nachts an 42 Gebäuden (RLS-90) bzw. tags an 23 und nachts an 89 Gebäuden (RLS-19). Damit durfte die Beklagte vom Vorliegen der Voraussetzungen nach §§ 45 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, Abs. 9 Satz 3 StVO ausgehen.
41
Bedenken daran, dass der Verkehrslärm im Ergebnis zutreffend ermittelt worden ist, bestehen nicht. Die von der Fachbehörde der Beklagten vorgenommene Lärmberechnungen erfolgten sowohl nach RLS-90 als auch RLS-19 und sind dem Grunde nach – jedenfalls in der zuletzt mit Schriftsatz vom 17. Juli 2024 vorgelegten Version – nachzuvollziehen. Der Berechnung liegt dabei eine aktuelle Verkehrszählung aus dem Jahre 2023 zugrunde, bei der sich keine wesentlichen (z.B. pandemiebedingten) Änderungen im Vergleich zu 2019 ergeben haben. Das klägerische Vorbringen, die Berechnungen seien nicht korrekt erfolgt, bleibt insoweit unsubstantiiert und steht der Heranziehung der Datengrundlage nicht entgegen. Da die sowohl nach RLS-90 als auch nach RLS-19 errechneten Lärmwerte die Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV überschreiten, kann dahinstehen, in welchem Verhältnis diese zu einander stehen. Wie ein Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar vortrug, sind die Ursachen der Unterschiede der RLS-90 zu den RLS-19 entsprechend komplex (vgl. Umweltbundesamt, Vergleichsrechnungen für die EU-Umgebungslärmrichtlinie, abrufbar unter https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021-05-31_texte_84-2021_vergleich_umgebungslaerm.pdf) und können daher nicht durch entsprechende Ab- bzw. Zuschläge kompensiert werden (vgl. der diesbezügliche klägerische Vortrag).
42
Der Vortrag der Klagepartei, dass die berechneten Immissionswerte tagsüber nicht erreicht würden, weil das hohe Verkehrsaufkommen ohnehin das Erreichen einer Geschwindigkeit von 50 km/h unmöglich mache, steht dem nicht entgegen. Es ist anerkannt, dass die Berechnung an die jeweils geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit anknüpft, sollten auch Geschwindigkeitsbegrenzungen häufig nicht eingehalten werden (BayVGH, B.v. 23.3.2022 – 11 ZB 20.2082 – juris, BVerwG, U.v. 4.9.2003 a.a.O. Rn. 2). Dieser Grundsatz muss jedoch auch für den umgekehrten Fall Geltung beanspruchen, um eine einheitliche und insoweit abstrakte Berechnungsgrundlage zu erhalten. (Ergänzende) Schallmessungen sind nicht angezeigt, da sich die hieraus ergebenden Messwerte nur auf die zum Zeitpunkt der Messungen vorhandenen Schallemissions- und ausbreitungsbedingungen beziehen können (Suslin/Zilsdorf a.a.O). Im Übrigen ist davon auszugehen, dass außerhalb der Stoßzeiten bzw. vor allem in der Nacht, auch aufgrund des gut ausgebauten vierspurigen Straßenabschnitts, die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erreicht, wenn nicht sogar überschritten werden kann.
43
d) Da somit zwar nicht bei Erlass der verkehrsrechtlichen Anordnung jedoch bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Lärmwerte unter Annahme eines Mischgebiets herangezogen wurden, war das Ermessen der Behörde für verkehrsrechtliches Einschreiten grundsätzlich eröffnet. Allerdings wurde dieses bezogen auf die östliche Fahrbahnseite – auch wenn nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar (§ 114 Satz 1 VwGO) – ermessensfehlerhaft ausgeübt. Die Beklagtenpartei hat diesbezüglich auch keine Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachgeschoben, § 114 Satz 2 VwGO.
44
Bei einer Ermessensentscheidung prüft das Gericht gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt bei der Erfüllung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, der auch Raum lässt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 30.11.1988 – 1 BvR 1301/84 – juris Rn. 82). Damit stehen die vorgenannten Maßstäbe, nach denen die Straßenverkehrsbehörde bei Lärm jenseits der Orientierungswerte der Verkehrslärmschutzverordnung die gegenläufigen Interessen gegeneinander abzuwägen und möglichst in einen gerechten Ausgleich zu bringen hat, in Einklang. Weiterhin orientiert sich die Rechtsprechung, nach der sich das Ermessen bei Überschreitung der in den Lärmschutz-Richtlinien-StV genannten Richtwerte bei hoher Überschreitung zur Pflicht zum Einschreiten verdichten kann, ersichtlich an der grundrechtlichen, im Eigentumswie auch im Gesundheitsschutz verankerten Zumutbarkeitsschwelle (vgl. SächsOVG, U.v. 19.3.2020 – 1 A 655/17 – juris Rn. 36). Jedenfalls erfordert dies eine sorgfältige Ermittlung des Sachverhaltes, die mit der verkehrsrechtlichen Anordnung einhergehenden Vor- und Nachteile sind entsprechend zu gewichten, u.a. sind neben der Verkehrsfunktion der jeweiligen Straße die tatsächliche Lärmbelastung, die Zahl der betroffenen Anwohner, die Schutzwürdigkeit der Wohnbebauung und vor dem Hintergrund gerechter Lastenverteilung und des Schutzes ruhiger Gebiete mögliche Verdrängungseffekte miteinzubeziehen.
45
Ungeachtet der von Klageseite allgemein geltend gemachten Bedenken gegen die Ermessensentscheidung der Beklagten sowie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, insbesondere was deren Gesamtlänge betrifft, leidet die teilbare (s.o.) verkehrsrechtliche Anordnung schon deshalb von vornherein an einem insoweit nicht heilbaren Defizit bei der Ausübung des Ermessens, da – wie sich zuletzt auch deutlich bei der Parteieinvernahme im Laufe der mündlichen Verhandlung ergab – im nördlichen Teil der östlichen Fahrbahnseite stadtauswärts schon grundsätzlich keine Immissionsorte festgelegt wurden. So wurden in den zuletzt von Beklagtenseite mit Schriftsatz vom 17. Juli 2024 vorgelegten schalltechnischen Berechnungen Immissionsorte auf der östlichen Fahrbahnseite nur bis zur L …straße 146 (vgl. Gebäude-Nr. 40) bestimmt; eine weitere Erfassung von Immissionsorten auf der östlichen Fahrbahnseite erfolgte erst wieder ab der L …straße 182 (Gebäude-Nr. 15), wobei dieses Gebäude ohnehin nicht mehr in den Geltungsbereich der Geschwindigkeitsbeschränkung (bis L …straße 172) fällt. Auf gerichtliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung erklärte ein Beklagtenvertreter, dass für den Bereich L …straße 146 bis 172, mithin den gesamten Verlauf der östlichen Fahrbahnseite stadtauswärts in nördlicher Richtung ab der Einmündung J …-F …-Straße, deshalb keine Dokumentation vorliege, da dort offenbar keine Anwohner zur Straße hinaus wohnten. Hieraus ist nach Überzeugung des Gerichts ein Ermessensfehlgebrauch abzuleiten, denn es fehlt der Allgemeinverfügung insoweit bzgl. eines nicht unbeachtlichen Teilabschnitts im nördlichen Bereich der östlichen Fahrbahnseite an der Prüfung der Erforderlichkeit der Maßnahme. Insoweit wurde nicht in die Erwägungen einbezogen, dass die mit der Lärmreduzierung begründete Geschwindigkeitsbegrenzung stadtauswärts früher wieder in die Regelgeschwindigkeit von 50 km/h hätte überführt werden können/müssen. Da die verkehrsrechtliche Anordnung in Richtung stadtauswärts ohnehin an der L …straße 172 enden sollte, konnte dabei auch nicht das Argument eines sog. Lückenschlusses herangezogen werden. Ferner handelt es sich mit einer Länge von ca. 350-400 m, die zwischen der L …straße 146 und der L …straße 172 liegen, um keinen kürzeren Streckenabschnitt (etwa vor einer Einmündung oder Kreuzung), so dass das Gericht nicht davon ausgehen konnte, dass es sich um ein bloßes „Auslaufen“ einer streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkung handelt. Im Übrigen ändert hieran auch nichts, dass spiegelbildlich auf der westlichen Fahrbahnseite, d.h. etwa auf Höhe L …straße 159 bis 137, nachweislich Wohnbebauung besteht und die hierfür maßgebenden Immissionswerte der 16. BImSchV bzw. der Lärmschutz-Richtlinien-StV u.U. dort überschritten sind. Denn die Straßenverkehrsbehörde hätte sich dabei zumindest mit dem Umstand befassen müssen, dass sie (nur) zum Schutz der westlich an der L …straße gelegenen Wohnnutzung auf der östlichen Fahrbahnseite eine Geschwindigkeitsbeschränkung anordnet, was bei den besonderen örtlichen Gegebenheiten zumindest begründungsbedürftig gewesen wäre, etwa dass trotz der baulichen Besonderheiten einer boulevardähnlich sehr breit ausgestalteten Straße (vier Fahrbahnen, ca. 7-8 m breites Mittelplanum, Parkstreifen, Radwege und breite Gehwege; lt. Messung anhand von Googlemaps Abstand von Fassade zu Fassade von ca. 44m, vom äußeren Fahrbahnrad der stadtauswärts verlaufenden Fahrbahnen zur westlichen Fassade ca. 24m) dennoch Belastungen in Form von Lärmimmissionen für die an der an westlichen Fahrbahnseite ansässigen Bewohner ausgehen. Schon aufgrund der – vom Kläger zu Recht vorgebrachten – Gesamtlänge des mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung belegten Straßenabschnitts von ca. 2,0 km handelt es sich dabei um einen für die Gesamtabwägung relevanten Umstand, um darzutun, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung stadtauswärts in diesem Umfang erforderlich war. Insoweit wurde diese Ermessensdisproportionalität weder durch einen Vortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 17. Juli 2024 noch in der mündlichen Verhandlung nachgeholt (§ 114 Satz 2 VwGO) und führt demzufolge zur Rechtswidrigkeit der die östliche Fahrbahn betreffende Anordnung in ihrer Gesamtheit.
46
Dahinstehen kann daher in diesem Zusammenhang, ob die angestellten Ermessenserwägungen die verkehrsrechtliche Anordnung betreffend die Geschwindigkeitsbeschränkung stadtauswärts im Übrigen tragen. Da die Allgemeinverfügung bezogen auf die östliche Fahrbahnseite im Sinne der o.g. Rechtsprechung nicht teilbar ist, war diese insgesamt aufzuheben. Eine teilweise Aufrechterhaltung im Sinne einer hinsichtlich der Gesamtlänge „geltungserhaltenden Reduktion“ war dem Gericht – wie bereits beschrieben – verwehrt, zumal sich an der Örtlichkeit selbst (auch nicht durch die Einmündung J …-F …-Straße) bzw. im weiteren Verlauf, etwa im südlichen Teil beispielhaft etwa bezüglich der Freifläche an der M … F …, keine eindeutige Zäsur ergibt.
47
II. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
48
1. Der aufgezeigte Ermessensfehler schlägt sich jedoch nicht auf die verkehrsrechtliche Anordnung in ihrer Gesamtheit, d.h. die westliche Fahrbahnseite betreffend, durch. Soweit sich die verkehrsrechtliche Anordnung auf die Geschwindigkeitsbeschränkung stadteinwärts (d.h. die westliche Fahrbahnseite zwischen L …straße 173e bis zur Einmündung F …-J …-Straße) erstreckt, liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen vor und ist die Entscheidung, jedenfalls, nachdem die Beklagte Ermessenserwägungen in zulässiger Weise im gerichtlichen Verfahren nachgeschoben hat (§ 114 Satz 2 VwGO), auch auf Rechtsfolgenseite nicht zu beanstanden, § 114 VwGO, Art. 40 BayVwVfG.
49
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des §§ 45 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO sind hier erfüllt. Die berechnete Lärmbelastung hinsichtlich der bezeichneten Immissionsorte bringt Beeinträchtigungen mit sich, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden kann.
50
Zwar ging die Beklagte auch bezogen auf die westliche Fahrbahnseite von unzutreffenden Prämissen aus und beurteilte das Schutzniveau zunächst anhand dem eines allgemeinen/besonderen Wohngebiets. Wie bereits gezeigt, wurde der maßgebliche Umgriff auch hier zu weit angesetzt, indem die westlich und östlich der vierspurig ausgebauten Hauptverkehrsstraße gelegenen Wohngebiete bei der Beurteilung mit einbezogen wurden. Zudem ergab der gerichtliche Augenschein, dass in dem maßgeblichen (westlichen) Bereich weitgehend und in starkem Umfang Gewerbebetriebe und regelmäßig lediglich in den oberen Etagen der Gebäude Wohnnutzungen bestehen. Auf das Protokoll des Augenscheins wird Bezug genommen. Für ein reines/allgemeines Wohngebiet fehlt es an einer überwiegenden bzw. schwerpunktmäßigen Wohnfunktion in dem Gebiet, bei denen nicht störende und über die Gebietsversorgung hinausgehende Gewerbebetriebe zwar ausnahmsweise zugelassen sind und nicht wie hier in höherer Zahl vorzufinden sind. Vielmehr war auch hier tendenziell von einem Mischgebiet bzw. einer mischgebietsähnlichen Gemengelage auszugehen, bei denen, ggf. bis auf einen streckenmäßig kleineren Abschnitt im nördlichen Teil der westlichen Fahrbahnseite, Wohnen und Gewerbe gleichwertig nebeneinanderstehen und sowohl qualitativ als auch quantitativ eine umfassende Durchmischung unterschiedlicher Nutzungen stattfindet.
51
Die Beklagte hat jedoch durch ihre schriftsätzlichen Ausführungen am 17. Juli 2024 und in der mündlichen Verhandlung ihrer Darlegungslast Genüge getan, indem sie aufzeigte, dass auch unter Heranziehung der für Mischgebiete maßgeblichen Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV bzgl. des streitgegenständlichen westlichen Streckenabschnitts beginnend ab L …straße 173e bis zur Einmündung F …-J …-Straße Überschreitungen der Grenzwerte hinsichtlich des Schutzes der Wohnbevölkerung vor Lärm festgestellt wurden. Die für Mischgebiete maßgebenden Immissionsgrenzwerte von 64 dB (A) tags und 54 dB (A) nachts werden sowohl bei der Berechnung nach RLS-90 als auch RLS-19 bei den durch die Beklagte festgelegten Immissionsorten (vgl. ab Gebäude-Nr. 16 in der jeweiligen Tabelle) nahezu auf dem gesamten Streckenabschnitt überschritten. Bzgl. der (höheren) Immissionsgrenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV für Mischgebiete von 72 dB (A) tags und 62 dB (A) nachts ergeben sich ebenso entsprechende Überschreitungen.
52
3. Das Ermessen für ein Tätigwerden der Beklagten als Straßenverkehrsbehörde war damit grundsätzlich eröffnet, sie konnte unter Gebrauch dessen über Beschränkungen des fließenden Verkehrs zum Schutz der Wohnbevölkerung entscheiden. Sowohl die Ausübung des Entschließungs- als auch Auswahlermessen der Straßenverkehrsbehörde waren hier – jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – nicht zu beanstanden. Zwar hat die Beklagte ersichtlich nicht in der verkehrsrechtlichen Anordnung vom 8. Dezember 2022 selbst, aber durch ihr ergänzendes Vorbringen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens (§ 114 Satz 2 VwGO), den Anforderungen an eine ermessensfehlerfreie Entscheidung Genüge getan.
53
a) Die Verwaltungsbehörde kann grundsätzlich ihre Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die Zulässigkeit des Nachschiebens von Ermessenserwägungen bestimmt sich nach dem materiellen Recht und dem Verwaltungsverfahrensrecht. § 114 Satz 2 VwGO regelt lediglich, unter welchen Voraussetzungen derart veränderte Ermessungserwägungen im Prozess zu berücksichtigen sind (BayVGH, U.v. 24.07.2024 – 11 B 23.589 – juris Rn. 61 ff. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 46.12 – juris Rn. 31). Neue Gründe für einen Verwaltungsakt dürfen nach dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht nur nachgeschoben werden, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (BVerwG, U.v. 20.6.2013 a.a.O. Rn. 32). Dies gilt grundsätzlich auch für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung wie verkehrsrechtliche Anordnungen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Behörde ihr Ermessen im abgeschlossenen Verwaltungsverfahren in irgendeiner Weise betätigt hat. Kommt ein Nachschieben von Ermessenserwägungen nach dem Vorstehenden in Betracht, so muss dies allerdings genügend bestimmt geschehen (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG, Art. 20 Abs. 3 GG). Wird die Änderung erst in einem laufenden Verwaltungsprozess erklärt, so muss die Behörde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des Verwaltungsakts selbst. Außerdem muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden. Andernfalls wäre dem Betroffenen keine sachgemäße Rechtsverteidigung möglich (BVerwG, U.v. 20.6.2013 a.a.O. Rn. 35).
54
b) Diesen Anforderungen wird die von der Beklagten angestellte Ermessensentscheidung (noch) gerecht. Insoweit waren unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls die Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit der Wohnbevölkerung sowie die gegebene Vorbelastung jedenfalls dem Grunde nach in der Gesamtabwägung der am 8. Dezember 2022 erlassenen Allgemeinverfügung angelegt und sind mit notwendigen eingehenderen Ausführungen (noch) im ausreichenden Maße im gerichtlichen Verfahren ergänzt worden, § 114 Satz 2 VwGO. Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist daher ermessensgerecht, insbesondere genügt sie den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG).
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Maßgebender Zweck der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h war die Lärmreduzierung zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Gesundheitsgefahren. Solche können insbesondere bei hohen Lärmwerten, vgl. schon bereits über 70 db(A) tags bzw. 60 dB(A) nachts (Lärmwerte für Wohngebiete nach Nr. 2.1 der Lärmschutz-Richtlinien-StV) relevante Gesundheitsgefahren (Art. 2 Abs. 2 GG) mit sich bringen. Die Schutzwirkung der Norm stellt nicht zwingend auf ein „Wohngebiet“ im Sinne der §§ 2 und 3 BauNVO ab, es genügt, wenn in unmittelbarer Nähe der Straße wohnende Menschen durch Lärm belästigt werden. Vorliegend sind auf den gesamten streitbefangenen Streckenabschnitt lt. Angaben der Beklagten, die sie im gerichtlichen Verfahren nachreichte, 2.722 Personen mit Wohnsitz gemeldet. Die Dokumentation der Immissionsorte erfasst – im Gegensatz zur östlichen Fahrbahnseite (s.o.) – ersichtlich den gesamten von der Anordnung erfassten westlichen Straßenzug (L …straße 173e bis L …straße 21 auf Höhe der Einmündung F …-J …-Straße).
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Die Maßnahme ist auch geeignet, da mit einer Reduzierung des Mittelungspegels um aufgerundet 3 db (A) eine wahrnehmbare Verbesserung der Lärmsituation erreicht werden kann. Denn jedenfalls ist bei einer Pegelminderung von 3 dB (A) die sog. Wahrnehmbarkeitsschwelle überschritten (vgl. OVG NRW, U.v. 1.6.2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 63). Grundsätzlich soll bei einer Geschwindigkeitsreduzierung von 50 km/h auf 30 km/h mit einer Lärmminderung von 3 dB (A) zu rechnen sein, so dass die Geschwindigkeitsreduzierung in der Regel eine geeignete Maßnahme zur Lärmminderung darstellt (vgl. Suslin/Zilsdorf a.a.O. m.w.N.; BayVGH, B.v. 23.3.2022 – 11 ZB 20.2082 – juris Rn. 28). Auch unter Zugrundelegung der Lärmwertberechnungen der Beklagten wird bestätigt, dass relevante Lärmminderungseffekte durch eine Anordnung von Tempo 30 zu erzielen sind. Dabei verfängt das klägerische Argument nicht, dass wegen der hohen Verkehrsbelastung tagsüber ohnehin keine höhere Geschwindigkeit als 30 km/h erzielt und damit auch keine wahrnehmbare Lärmreduzierung erreicht werden könne. Dies wirkt sich nicht auf die Geeignetheit der angeordneten Temporeduzierung aus. Genauso wie bei der Berechnung von Lärmwerten (s.o.) ist bei der Prüfung von Lärmminderungseffekten durch Vergleich der beiden Lastfälle auf die jeweils zulässige Höchstgeschwindigkeit abzustellen. Darüber hinaus steht der Geeignetheit der Maßnahme auch nicht entgegen, dass nach entsprechender Anordnung von Tempo 30 die Richtwerte der 16. BImSchV – jedenfalls teilweise – nach wie vor überschritten werden. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass keinerlei lärmmindernde Maßnahmen zu ergreifen sind. Vielmehr unterstreicht dieser Umstand die entsprechende Gefahrenlage, die aus dem hohen Verkehrsaufkommen und den damit verbundenen Lärmimmissionen erwächst.
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Schließlich sind die Ausführungen der Beklagten, insbesondere der Vertreter der Fachbehörde in der mündlichen Verhandlung, im Hinblick darauf, dass die durch die Kfz verursachten Lärmimmissionen und nicht die von den im Mittelplanum verkehrenden Straßenbahnen ausgehenden Lärmimmissionen die dominante Hauptquelle des Lärms darstellen und daher nicht ins Gewicht fallen, nachvollziehbar und daher von der Kammer nicht in Zweifel zu ziehen; dies bereits vor dem Hintergrund, dass der Straßenverkehr eine permanente Lärmquelle bildet, während die Lärmeinwirkungen durch die Trambahn (vgl. Trambahn 23 ab/bis M … F …) nur intervallweise auftreten. Auf die entsprechenden, auch schriftsätzlichen Ausführungen (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 17. Juli 2024, S.5f. sowie Stellungnahme des RKU, Bl. 593 d.BA) wird Bezug genommen. Diese fachlichen Darlegungen vermochte der Kläger nicht zu entkräften.
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Die Beklagte durfte rechtsfehlerfrei von der Erforderlichkeit der Maßnahme ausgehen. Sie hat dabei die Interessen der Anwohner, von übermäßigem Lärm verschont zu bleiben, die hier zumindest durch Beschwerden und eine Prüfbitte auf straßenverkehrsrechtlichen Einschreiten durch den zuständigen Bezirksausschuss zum Ausdruck kamen, verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegenübergestellt und die Auswirkungen dieser Maßnahmen abgewogen. Insoweit wurden alternative Maßnahmen wie entsprechende Änderungen der Lichtzeichenanlagen, Verkehrsbeschränkungen (Lkw-Durchgangsverkehr, „Anlieger frei“) sowie eine nur auf die Nachtzeit beschränkte Geschwindigkeitsbeschränkung durch die Beklagte in Betracht gezogen und entsprechend – jedenfalls durch ein zulässiges Nachschieben von Gründen – abgewogen. Insbesondere erscheint es dabei unter Beachtung der Einschätzungsprärogative der Straßenverkehrsbehörde auch nicht sachfremd, eine Beschränkung der Geschwindigkeitsreduzierung auf die Nachtzeit als nicht ausreichend zu erachten, denn auch tagsüber werden Lärmstärken erreicht, die in jedem Fall die Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV (für ein Mischgebiet) überschreiten. Im Übrigen werden zum Teil auch Immissionsgrenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV (für Mischgebiete) über 72 db(A) überschritten. Die Frage, ob in die Ermessensbetätigung auch die Möglichkeit von passivem Lärmschutz (d.h. der Begegnung verkehrsbedingter Immissionsbelastungen durch passive Lärmschutzmaßnahmen, insbesondere durch Lärmschutzfenster mit geeigneten Lüftungseinrichtungen) miteinbezogen werden hätte müssen (vgl. offen gelassen durch OVG NRW, B.v. 18.8.2022 – 8 B 661/22 – juris), bedarf nach Auffassung der Kammer keiner abschließenden Erörterung. Denn aufgrund der Vielzahl der betroffenen Haushalte bei dem ca. 2,0 km langen Streckenabschnitt innerorts, dürfte dies kein solcher abwägungsrelevanter Aspekt sein, der per se zu einem – und zwar gerichtlich überprüfbaren – Ermessensdefizit bzgl. der Entscheidung, die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h zu beschränken, hätte führen können. Unabhängig davon ist die Beklagte ohnehin, wie bei allen verkehrsrechtlichen Anordnungen gehalten, die Erforderlichkeit der Maßnahmen künftig stets aktuell zu überprüfen.
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Bezogen auf die Erforderlichkeit hinsichtlich der gesamten Länge des Streckenabschnitts auf der westlichen Fahrbahnseite ergeben sich keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar mag es auch stadteinwärts einzelne kürzere Passagen geben, bei denen – wie auch die Beklagte vorträgt – keine Wohnnutzung besteht, allerdings wurden durch die Fachbehörde durchwegs Immissionsorte festgelegt, die mit einer entsprechenden Wohnbebauung korrespondieren. Insoweit bestehen auf der westlichen Fahrbahnseite keine – jedenfalls deutlich abgrenzbaren – Bereiche, bei der die Wohnnutzung/bzw. entsprechende sonstige sensible Bereiche erkennbar in den Hintergrund treten würden.
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Auch durfte die Beklagte die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im engeren Sinn annehmen. Die Behörde hat den Umstand, dass auch die für ein Mischgebiet relevanten Immissionsgrenzwerte überschritten sind, nicht nur auf Tatbestandsebene, sondern auch bei ihrer Abwägung und damit im Rahmen ihres auszuübenden Ermessens miteingebracht (vgl. durch nachgeschobene Ermessenserwägungen im Schriftsatz vom 17. Juli 2024 inkl. Anlage mit Lärmberechnungen).
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Desweiteren hat die Beklagte den wesentlichen gegen die Anordnung sprechenden Gesichtspunkt der Bedeutung der L …straße sowie die von dieser ausgehenden Vorbelastung nicht verkannt und – jedenfalls schriftsätzlich durch die in zulässiger Weise ergänzenden Ermessenserwägungen (vgl. Schriftsatz vom 17. Juli 2024) – abgewogen. Laut dem Verkehrsentwicklungsplan der Beklagten handelt es sich bei der L …straße um eine örtliche Hauptverkehrsstraße mit maßgeblicher Verbindungsfunktion. So fungiert sie als Zubringer zum Mittleren Ring und wickelt auch aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit, was sich unmittelbar aus dem vierspurigen Ausbau ergibt, einen bedeutenden Teil des motorisierten Individualverkehrs zwischen dem Zentrum und dem Münchner Norden mit täglich bis zu 30.000 Fahrzeugen ab. Weiterhin wurden – wie der Beklagtenvertreter vorträgt – in den angrenzenden Wohngebieten Maßnahmen getroffen, um die Nutzung durch den motorisierten Verkehr unattraktiver zu gestalten (vgl. Einführung von Einbahnstraßen, Fahrradstraßen, Tempo30-Zonen). Die nach allem im Einklang mit dem Verkehrswegeplan der Beklagten bestehende tatsächliche Funktion der L …straße als Hauptverkehrsstraße stellt damit eine die Zumutbarkeitsschwelle erhöhende – plangegebene – Vorbelastung dar (vgl. BayVGH, U.v. 11.5.1999 – 11 B 97.695 – Rn. 31). Die Beklagte hat bis zum Ende der mündlichen Verhandlung durch ihren weiteren Vortrag im gerichtlichen Verfahren, den relevanten Belang der Leichtigkeit des Verkehrs im Hinblick auf die Verkehrsfunktion der L …straße in adäquater Weise in ihre Ermessensentscheidung miteinbezogen. Insoweit bedurfte es hier einer Gesamtabwägung zwischen dem mit der Anordnung bezweckten Schutz der Bevölkerung vor Lärmbelästigung einerseits sowie andererseits der Gewährleistung der Leichtigkeit des Verkehrs im Sinne eines zügigen Vorankommens, da mit der Bündelungsfunktion einer Hauptverkehrsstraße auch die Entlastungswirkung hinsichtlich (angrenzender) Wohngebiete einhergeht. Zwar kann das Argument der Beklagten, dass tagsüber ohnehin keine höhere Geschwindigkeit wegen der hohen Verkehrsbelastung erreicht werden kann, im Hinblick auf die selbst angenommene Erforderlichkeit der Maßnahme, nicht überzeugen. Allerdings schließt, gleichwohl die L …straße aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit auf eine möglichst ungehinderte, zügige Abwicklung des Verkehrs ausgelegt ist und die Freizügigkeit des Verkehrs sichert, weder diese Verkehrsfunktion noch der Umstand, dass die Lärmbelästigung gerade durch die funktionsgerechte Nutzung der Straße ausgelöst wird, eine Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h nicht von vornherein aus. Vielmehr sind die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls maßgebend, welche Maßnahmen geeignet sind, die Lärmbelastung für die Anwohner spürbar zu verringern, ohne die Verkehrssicherheit zu gefährden, Anwohner anderer Straßen über Gebühr zu belasten oder die Möglichkeit einer funktionsgerechten Nutzung der Straße ernsthaft in Zweifel zu ziehen; so schließen etwa auch nach der Rspr. der Obergerichte weder die Verkehrsfunktion einer Bundesstraße noch der Umstand, dass eine beklagte Lärmbelästigung durch die funktionsgerechte Nutzung der Straße ausgelöst wird, eine Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h von vornherein aus (vgl. BayVGH, B.v. 23.3.2022 – 11 ZB 20.2082 – juris Rn. 27 mit Verweis auf VGH BW, U.v. 17.7.2018 – 10 S 2449/17 – juris Rn. 33, 35; OVG NW, B.v. 1.6.2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn. 71; SächsOVG, U.v. 19.3.2020 – 1 A 655/17 – juris Rn. 36 ff.; HessVGH, U.v. 19.2.2014 – 2 A 1465/13 – juris Rn. 26; OVG SH, U.v. 9.11.2017 – 2 LB 22/13 – juris Rn. 126), auch wenn in der Regel eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) und weiteren Hauptverkehrsstraßen innerhalb geschlossener Ortschaften deren besondere Verkehrsfunktion entgegensteht (a.a.O. Rn. 27).
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Vorliegend ist es daher nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte dem Schutz der Wohnbevölkerung ein hohes Gewicht im Rahmen ihrer Abwägung beimisst und gerade im Fall deutlicher Überschreitungen der Immissionsrichtwerte – wie teils hier – wertend in die Betrachtung einbezieht. Andererseits sind dem Gericht keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass durch die Einführung der Geschwindigkeitsbeschränkung die Stetigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs nachhaltig gefährdet ist und über die Lästigkeit für Verkehrsteilnehmer hinaus weitergehende Folgen hätte. Laut polizeilicher Stellungnahme (vom 18. Juni 2024, Bl. 600 d. BA) war seit Bekanntgabe der verkehrsrechtlichen Anordnung kein Ausweichverkehr in naheliegende Wohngebiete zu verzeichnen. Im Übrigen sind keine Hinweise darauf gegeben, dass eine Verlagerung auf andere wichtige Hauptverkehrsadern, die das Zentrum M. mit dem Norden verbinden, wie z.B. die B …straße, S …straße oder auch U …straße, stattgefunden hätte. Die Beklagte trug vielmehr vor, dass die Verkehrszahlen auf der L …straße anhand im Jahr 2023 erhobener Verkehrsdaten (vgl. hierzu Schriftsatz der Beklagten vom 17. Juli 2024, S. 7) unverändert geblieben sind. Jedenfalls fehlt es an konkreten Hinweisen darauf, dass die L …straße seither nicht mehr – entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und funktionsgerechten Nutzung – geeignet und in der Lage wäre, den Kfz-Verkehr vom Norden kommend ins Stadtzentrum abzuwickeln. Das Gericht sah sich daher mangels entgegenstehender Anhaltspunkte und substantiiertem Klägervortrags auch nicht veranlasst, dies im Rahmen der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) weiter aufzuklären.
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Im Übrigen steht auf der westlichen Fahrbahnseite auch die Länge des Streckenabschnitts von ca. 2,0 km der Angemessenheit der Geschwindigkeitsreduzierung nicht streitentscheidend entgegen. Auf der westlichen Seite sind Abschnitte, bei denen entweder keine Wohnbebauung besteht bzw. Immissionsgrenzwerte nicht überschritten werden, nur von untergeordnetem Ausmaß. Dabei kann die Beklagte die Wertung der von Abs. XII zu Zeichen 274 der VwV-StVO beanspruchen, wonach innerhalb geschlossener Ortschaften, wenn zwischen zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen nur ein kurzer Streckenabschnitt (bis zu 300 Meter) liegt, zur Verstetigung des Verkehrsflusses eine Absenkung der Geschwindigkeit auch zwischen den Streckenabschnitten selbst in Betracht kommen, da dies nicht nur die Verkehrssicherheit, sondern auch zur Verringerung der verkehrsbedingten Lärm- und Abgasbelastung beiträgt. Im Übrigen verfolgt der Verordnungsgeber die Intention, zwischen zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen möglichst einen Lückenschluss zu erzeugen, nunmehr auch durch § 45 Abs. 9 Satz 3 Nr. 4 StVO n.F. und hält die die Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO bezüglich einer qualifizierten Gefahrenlage zwischen zwei Streckenabschnitten von bis zu 500 Metern zwischen zwei Tempo 30-Strecken für entbehrlich.
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Schließlich ist auch nicht streitentscheidend, ob es entsprechend des klägerischen Vortrags durch einen derart langen Streckenabschnitt zu einer de facto Aushöhlung der gesetzlichen Regelgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts komme. Die Befürchtung des Klägers, ganze Stadtgebiete könnten dann mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h belegt werden, mag kommunalpolitisch angelegt sein, ist für die Kammer aber schon deshalb nicht von Relevanz, da es jedenfalls auf eine einzelfallbezogene Betrachtung ankommt. Daraus, dass es ggf. an einer Gesamtkonzeption bzgl. der nördlichen Anbindung des innerstädtischen Verkehrs fehlt, ist vorliegend kein rechtlich relevantes Ermessensdefizit der Beklagten abzuleiten, da jedenfalls keine Anhaltspunkte für einen relevanten Ausweichverkehr auf andere von Norden nach Süden verlaufende Straßen (u.a. B …straße, S …straße, U …straße) bestehen, andernfalls die Beklagte die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme erneut zu überprüfen haben wird. Nicht mehr zu berücksichtigen war und daher lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass – nach Erlass der hiesigen Entscheidung, aber während des Abfassens der Urteilsgründe – durch den Stadtrat der Beklagten am 27. November 2024 ein Lärmaktionsplan nach §§ 47a-f Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) beschlossen wurde (https://stadt.m...de/dam/jcr:7181df38-f235-4bcb-ad21-f7819e054a0b/2024-10-30_Bericht_LAP.pdf) wurde.
65
Insgesamt hat daher die Beklagte die Belange des fließenden Verkehrs einerseits und der Ruhe- und Schutzbedürftigkeit der durch Lärm betroffenen Anwohner in Abwägung gebracht. Zwar ist der Kläger bei einer Gesamtstrecke von ca. 2,0 km in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG beschränkt. Dahinstehen kann dabei, inwieweit sich – zumindest tagsüber – ein mit der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h gegenüber der Regelgeschwindigkeit signifikanter Zeitverlust unter Berücksichtigung des Verkehrsaufkommens ergibt. Die Beklagte durfte andererseits zu Recht die – trotz der Einordnung als Mischgebiet – zum Teil deutlichen Überschreitungen der Orientierungswerte berücksichtigen und bei der Schutzbedürftigkeit der Anlieger entsprechend werten. Nicht zu beanstanden ist, dass sie weitere positive Nebeneffekte, die mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung einhergehen (wie z.B. CO₂ Ausstoß, niedrigere Unfallgefahr u.a.) in die Gesamtabwägung miteingestellt hat. Offenbleiben kann hingegen, ob auch das beklagtenseits vorgebrachte Argument des Missbrauchs der L …straße als Ralleystrecke (durch die sog. Poserszene) als Rechtfertigung für eine Geschwindigkeitsbeschränkung dienen kann. Insoweit dürfte ein stärkerer Verfolgungs- und Ahndungsdruck gegenüber dem ordnungswidrigen bzw. strafbaren Handeln angezeigt sein; dabei obliegt es Polizei und Ordnungsbehörden ggf. auch auch auf stärkeres Betreiben der Beklagten die geltenden Verkehrsregeln durchzusetzen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwGO und trägt dem hälftigem Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung.