Inhalt

LG München I, Beschluss v. 10.10.2024 – 14 S 7535/24
Titel:

Räumungsfristentscheidung, Räumungsfristgewährung, Räumungsurteile, Zurücknahme der Berufung, Berufungsgericht, Berufungsrücknahme, Fortsetzung des Mietverhältnisses, Rechtsmittelfrist, Berufungsinstanz, Formelle Rechtskraft, Kosten des Berufungsverfahrens, Eigenbedarfskündigung, Gewährung, Gesundheitsbeeinträchtigung, Beschlüsse, Krankheitsbedingte Einschränkung, Zukünftige Räumung, Zurücknahme einer Berufung, Gerichtsbekanntheit, Klagepartei

Leitsatz:
Nach Rücknahme einer Berufung des Mieters gegen ein klagestattgebendes Räumungsurteil ist das Berufungsgericht im Rahmen eines Beschlusses nach § 516 ZPO befugt, eine zweitinstanzliche Räumungsfristentscheidung nach § 721 Abs. 1 ZPO zu treffen. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Räumungsvollstreckung
Vorinstanz:
AG München vom -- – 414 C 13683/24
Fundstellen:
ZMR 2025, 129
LSK 2024, 41079
BeckRS 2024, 41079

Tenor

1. Die beklagte Partei ist des eingelegten Rechtsmittels der Berufung verlustig.
2. Die beklagte Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Der Beklagten wird eine Räumungsfrist bis 30.06.2025 gewährt.
4. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 8.697,94 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klagepartei nimmt die Beklagte auf Räumung und Herausgabe von Wohnraum nach ausgesprochener Eigenbedarfskündigung in Anspruch.
2
Mit Endurteil vom 14.06.2024 ist die Beklagte unter Gewährung einer Räumungsfrist bis 31.12.2024 antragsgemäß zur Räumung und Herausgabe der verfahrensgegenständlichen Wohnung verurteilt worden. Das Erstgericht war vom klägerseits behaupteten Eigenbedarf überzeugt. Dem Widerspruch der – gesundheitlich nicht unerheblich beeinträchtigten – Beklagten nach §§ 574 ff. BGB war aus formalen Gründen kein Erfolg beschieden Hiergegen hat sich die Beklagte im Wege der Berufung gewandt, die nach Hinweisbeschluss der Kammer gem. § 522 ZPO vom 19.08.2024 mit Schriftsatz der Beklagten vom 16.09.2024 zurückgenommen worden ist.
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Die Beklagte beantragt zuletzt noch die Gewährung einer Räumungsfrist nach § 721 Abs. 1 ZPO. Die Klagepartei beantragt demgegenüber, den Antrag auf Gewährung einer (weiteren) Räumungsfrist zurückzuweisen. Sie ist im Wesentlichen der Meinung, dass die Kammer nach Berufungsrücknahme keine Räumungsfrist mehr gewähren dürfe. Jedenfalls komme vorliegend keine weitere Räumungsfrist in Betracht, die über die erstgerichtlich gewährte hinausgehen könne.
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Ergänzend wird auf den Beschluss der Kammer vom 19.08.2024 Bezug genommen.
II.
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1. Die Entscheidung beruht zunächst auf § 516 Abs. 3 ZPO. Die Berufung ist zurückgenommen worden.
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2. Die Entscheidung fußt ferner auf § 721 Abs. 1 ZPO.
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Entgegen der Meinung der Klagepartei ist es der Kammer unbenommen, der Beklagten eine (weitere) Räumungsfrist nach § 721 Abs. 1 ZPO zu gewähren.
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Bei Entscheidungen nach § 721 ZPO in der Berufungsinstanz ist zunächst zu differenzieren: Wird eine Berufung durch Beschluss (§ 522 Abs. 1 ZPO) oder Urteil verworfen, weil das Rechtsmittel unstatthaft oder verspätet eingelegt worden ist, so ist richtigerweise keine Räumungsfristentscheidung nach § 721 Abs. 1 ZPO möglich, weil der Eintritt der formellen Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Rechtsmittel nicht gehemmt worden ist, § 705 S. 2 ZPO (Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, 16. Aufl. 2024, § 721 ZPO Rn. 15; BeckOK Mietrecht/Fleindl, 37. Ed. 01.05.2021, Zwangsvollstreckung Rn. 118). Anders verhält es sich, wenn die Verwerfung erfolgt, weil die Berufung den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO nicht entspricht (Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, a.a.O.; LG Kiel, Urt. v. 11.10.1990 – 1 S 82/90, WuM 1991, 113); in diesem Fall tritt die Rechtskraft erst mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist ein, § 705 S. 1 ZPO.
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In vorstehendem Lichte erscheint es nach Überzeugung der Kammer überdies vorzugswürdig, in Fällen, in denen die Berufung des Mieters gegen ein erstinstanzliches Räumungsurteil nach vorheriger mündlicher Verhandlung durch Urteil zurückgewiesen wird, sowie in Beschlüssen nach § 522 Abs. 2 ZPO (Zurückweisung einer unbegründeten Berufung) und selbst in Beschlüssen nach § 516 ZPO (Entscheidung nach Zurücknahme einer Berufung) – wie hier – zweitinstanzliche Räumungsfristentscheidungen zu treffen. Hierfür spricht zuvörderst der Zweck des § 721 ZPO, nämlich die Vermeidung von Obdachlosigkeit im individuellen Interesse des Schuldners. Der Gedanke der Prozessökonomie steht dem nicht entgegen. Denn eine Berufungskammer erfährt gerade auch in den vorgenannten Fällen typischerweise „sowieso“ von den für die Entscheidung nach § 721 ZPO maßgeblichen Interessen der Parteien und ist deshalb zu einer Räumungsfristentscheidung – für die zudem grundsätzlich ein erhebliches praktisches Bedürfnis besteht – ohne Weiteres in der Lage (vgl. insoweit die Argumentation von Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, 16. Aufl. 2024, § 721 ZPO Rn. 14 zum Anwendungsbereich der Norm – dort allerdings im Zusammenhang mit der sehr strittigen Erstreckung auf Entscheidungen nach § 940a ZPO). Auch der Wortlaut des § 721 Abs. 1 ZPO, wonach das Gericht „auf Räumung (…) erkannt“ haben muss, steht einer solchen Vorgehensweise nicht zwingend entgegen, da zwar nicht in den Beschlüssen nach §§ 522 Abs. 1, Abs. 2, 516 ZPO auf Räumung erkannt wird, jedoch erstinstanzlich bereits dergestalt erkannt worden ist (str., a.A. namentlich Musielak/Voit/Lackmann, 2024, § 721 Rn. 9 m.w.Nachw.; kritisch, aber nicht unmittelbar auf die vorliegende Konstellation bezogen, wohl auch BGH, Beschluss vom 24.04.2014 – V ZR 74/14, WuM 2014, 354, wonach sich aus § 721 Abs. 1 ZPO ergebe, dass von dem zuständigen Prozessgericht eine Räumungsfrist nur in dem Urteil, in dem auf Räumung erkannt wird, gewährt werden könne; zwar könne eine Räumungsfrist auch noch im Revisionsurteil ausgesprochen werden, die isolierte Gewährung einer Räumungsfrist sehe das Gesetz hingegen – abgesehen von dem Fall einer auf zukünftige Räumung erkennenden Entscheidung nach § 721 Abs. 2 ZPO – nicht vor).
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Nach Auffassung der Kammer ist es für die Gewährung einer Räumungsfrist in der 2. Instanz richtigerweise nicht erforderlich, dass erstmals in der Berufungsinstanz auf Räumung erkannt wird (vgl. Urt. der Kammer v. 08.11.2023 – 14 S 3525/23, ZMR 2024, 574 ähnlich LG Berlin, Beschluss vom 09.02.2016 – 67 S 18/16, WuM 2016, 238, das insoweit von einer „zumindest gebotenen analogen Anwendung“ des § 721 Abs. 1 ZPO spricht).
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§ 721 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 ZPO steht der Gewährung der Räumungsfrist durch das Berufungsgericht schon deshalb nicht entgegen, weil die Kammer vorliegend nicht von § 721 Abs. 2 oder Abs. 3 ZPO Gebrauch macht, sondern von § 721 Abs. 1 ZPO.
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3. Das Vorbringen der Beklagten rechtfertigt auch in der Sache die Gewährung einer weiteren Räumungsfrist durch das Berufungsgericht nach § 721 Abs. 1 ZPO. So ist zugunsten der Beklagten insbesondere zu berücksichtigen, dass der Mietmarkt in der Landeshauptstadt München und deren Umgebung – gerichtsbekannt – überaus angespannt ist. Der Beklagten ist es trotz umfangreicher Bemühungen (nach wie vor) nicht gelungen, Wohnraum zu finden. Soweit die Klagepartei meint, dieser Umstand könne von der Kammer nicht erneut berücksichtigt werden, da bereits das Erstgericht in seiner Entscheidung hierauf abgestellt habe, überzeugt dies schon deshalb nicht, weil die Kammer vorliegend nicht nach § 721 Abs. 3 ZPO, sondern nach § 721 Abs. 1 ZPO entscheidet.
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Hinzu kommt, dass die altersmäßig fortgeschrittene Beklagte (GdB 80) auch unter Berücksichtigung des zuletzt vorgelegten fachärztlichen Attests vom 04.09.2024 sowohl unter einem dementiellen Syndrom leicht- bis mittelgradiger Ausprägung als auch unter weiteren multiplen krankheitsbedingten Einschränkungen leidet. Bereits erstinstanzlich hatte die Beklagte umfassend zu ihren gravierenden gesundheitlichen Einschränkungen vorgetragen. Diese Gesichtspunkte sind zwar im vorliegend Fall namentlich wegen des nicht form- und fristgerecht eingelegten Widerspruchs bei der Frage einer Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574 ff. BGB nicht berücksichtigungsfähig gewesen. Sie haben jedoch in die Räumungsfristentscheidung der Kammer einzufließen.
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Demgegenüber hat das berechtigte klägerische Erlangungsinteresse vorübergehend noch zurückzustehen.
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Das Höchstmaß der Räumungsfrist von einem Jahr nach § 721 Abs. 5 S. 1 ZPO findet vorliegend Beachtung, da die erstgerichtlich gewährte Räumungsfrist auf die nunmehr von der Kammer nach § 721 Abs. 1 ZPO ausgesprochene eigene, selbständige Räumungsfristgewährung nicht anzurechnen ist. Die Kammer wäre berechtigt, selbst eine Räumungsfrist von bis zu einem Jahr zu gewähren; eine Addition der erst- und zweitinstanzlich gewährten Räumungsfristen findet bei der Berechnung der maximal zulässigen Frist nach § 721 Abs. 1, Abs. 5 ZPO nicht statt (vgl. Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, 16. Aufl. 2024, ZPO § 721 Rn. 32).