Titel:
Asyl, Herkunftsland Äthiopien, Tigrinische Abstammung, Vorverfolgung (als wahr unterstellt), Zwangsrekrutierung, alleinstehender Mann, Herkunftsgebiet Addis, Abeba
Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG § 11
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland Äthiopien, Tigrinische Abstammung, Vorverfolgung (als wahr unterstellt), Zwangsrekrutierung, alleinstehender Mann, Herkunftsgebiet Addis, Abeba
Fundstelle:
BeckRS 2024, 41071
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben äthiopischer Staatsangehöriger, christlich-orthodoxen Glaubens und am … … 1991 in A A geboren. Er stellte am 30. März 2021 einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland.
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In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 30. März 2021 gab er an, dass er tigrinischer Abstammung sei. Er habe sich bis zu seiner Ausreise aus Äthiopien in der Stadt A A, Stadtteil J. , M. S. aufgehalten. Er habe dort mit seinen Eltern und seinen Geschwistern gelebt. Nach Abschluss seines Studiums des Bauingenieurwesens an der Universität in D. Ma. habe er in Äthiopien als Bauingenieur und als selbstständiger Projektingenieur gearbeitet. Er sei am 1. November 2020 aus Äthiopien ausgereist. Er sei mithilfe eines Schleppers in die Europäische Union eingereist. Er habe hierfür etwa 3.800,00 US-Dollar gezahlt; das Geld habe er gespart gehabt. Zu seinen Fluchtgründen gab der Kläger an, aus Angst um sein Leben aus Äthiopien ausgereist zu sein. Das Haus seiner Familie sei ab September 2020 wiederholt von der Polizei durchsucht worden, weil sein Vater, ein Sympathisant und Unterstützer der TPFL, nach Eigenkündigung seines Arbeitsverhältnisses beim äthiopischen Verteidigungsministerium im Juni 2019 verdächtigt worden sei, sich gegen die Regierung gewandt und seinerzeit in Me. stattfindende Wahlen zuungunsten der Regierung beeinflusst zu haben. Die Polizei sei nahezu täglich bei ihnen gewesen. Er sei nicht persönlich bedroht oder verfolgt worden, aber bei einer Hausdurchsuchung habe ihn ein Polizist geschlagen, weil er dessen Dienstausweis habe sehen wollen. Er selbst sei in Äthiopien nicht politisch aktiv gewesen und habe nicht an Demonstrationen teilgenommen und keine Probleme mit staatlichen Stellen gehabt. Am 2. September 2020 sei bei einer Hausdurchsuchung eine Waffe gefunden worden. Die Polizei habe die Waffe mitgenommen und den Bruder des Klägers verhaftet. Der Kläger habe sich zu dem Zeitpunkt nicht zuhause aufgehalten, da er auf der Arbeit gewesen sei. Am nächsten Tag sei der Bruder wieder freigelassen worden. Am 28. Oktober 2020 sei sein Vater getötet worden. Die Regierung habe sich um die Aufklärung der Todesumstände kümmern wollen, aber nichts herausgefunden. Dem Kläger in der Anhörung auf Tigrinya gestellte Fragen konnte er mangels Sprachkenntnissen nicht beantworten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift der Anhörung Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 14. Februar 2022 lehnte das Bundesamt den klägerischen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1 des Bescheids), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab. Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung nach Äthiopien zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid und seine Begründung Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Kläger am 24. Februar 2022 Klage erhoben.
5
Zur Begründung seiner Klage verweist der Kläger auf seine Anhörung beim Bundesamt. Ergänzend führt er aus, väterlicherseits der Volksgruppe der Tigray anzugehören und mütterlicherseits der Volksgruppe der Gurage. Er sei in A A geboren und aufgewachsen. Er beherrsche die Sprache Tigrinya daher nicht, sondern nur amharisch. Sein Vater sei Anhänger und Unterstützer der TPLF gewesen und Befürworter der Unabhängigkeit Tigrays, obwohl er äthiopischer Staatsbediensteter gewesen sei. Sein Vater sei wohl im Zusammenhang mit dem Konflikt in und um Tigray getötet worden und die Familie des Klägers einschließlich ihm selbst in das Visier der staatlichen Behörden in Äthiopien geraten. Der Kläger sei von der Polizei beobachtet und seine Wohnung durchsucht worden. Auch wenn die Verfolgungswelle gegen Volkszugehörige der Tigray nach vorläufiger Beendigung des Tigray-Krieges abgeebbt sei, könne eine Verfolgung gleichwohl nicht ausgeschlossen werden und es komme zudem auch zu einer Verfolgung und Schikanen durch Angehörige von anderen Volksgruppen. Hinzu komme, dass der Krieg in T. zwar vorläufig beendet sei, aber jederzeit wieder aufflammen könne und werde. Beispielsweise komme es immer wieder zu Kämpfen um eine zwischen Tigray und Amhara strittige Region. Auch in anderen Landesteilen, namentlich Oromia und Amhara, fänden Kämpfe statt. Die Sicherheits- und Versorgungssituation in Äthiopien sei katastrophal. Fast alle Regionen seien von kriegerischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Akteure und mit wechselnder Intensität geprägt und die Zivilbevölkerung sei diesen Konflikten schutzlos ausgeliefert. Der Kläger macht Ausführungen zur humanitären Lage in Äthiopien, dies landesweit, aber auch mit Blick insbesondere auf Tigray und A A sowie unter Verweis auf die anhaltenden Konflikte, Dürren, Flutkatastrophen sowie Pandemien und deren Folgen. Der Kläger habe in Äthiopien keine Existenzgrundlage und ihm drohe bei einer Rückkehr eine Verelendung. Auch in A A habe er keine Existenzmöglichkeit, da der Wohnungsmarkt etc. vollkommen überlastet sei. Er habe in Äthiopien und insbesondere in A A keine belastbaren familiären Verbindungen mehr, da sein Bruder immer noch verhaftet sei und seine Mutter A A verlassen habe bzw. habe verlassen müssen. Zur Untermauerung seiner Ausführungen verweist der Kläger auf verschiedene Erkenntnismittel. Insoweit wird auf den klägerischen Schriftsatz vom 29. November 2024 Bezug genommen.
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In der mündlichen Verhandlung am 6. Dezember 2024 hat der Kläger seine ursprünglich auch auf die Anerkennung als Asylberechtigter gerichtete Klage im Umfang des vorgenannten Rechtsschutzbegehrens (Anerkennung als Asylberechtigter) zurückgenommen.
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Der Kläger beantragt zuletzt,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Februar 2022 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung nimmt sie auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug.
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Eine weitere gegen die streitgegenständliche Entscheidung des Bundesamts vom 14. Februar 2022 gerichtete Klage vom 25. Februar 2022 hat der Kläger nach Hinweis des Gerichts auf die doppelte Rechtshängigkeit zurückgenommen. Das unter dem Aktenzeichen W 3 K 22. … geführte weitere Klageverfahren ist daraufhin mit Beschluss vom 8. März 2022 eingestellt worden.
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Mit Beschluss vom 8. November 2024 ist der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
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In der mündlichen Verhandlung am 6. Dezember 2024 ist der Kläger zu den Gründen, aus denen er im Falle seiner Rückkehr nach Äthiopien eine Verfolgung befürchtet, sowie zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen informatorisch angehört worden. Wegen seiner Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, einschließlich der Akten des Verfahrens W 3 K 22. … und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Entscheidung ergeht durch die Einzelrichterin, nachdem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 8. November 2024 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen hat.
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Soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO (deklaratorisch) einzustellen. Somit war lediglich noch über das Begehren des Klägers streitig zu entscheiden, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts erweist sich im angegriffenen Umfang im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger stehen die von ihm geltend gemachten Ansprüche nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Dies würde voraussetzen, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb Äthiopiens befindet (§ 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG). Hieran fehlt es sowohl hinsichtlich der vorgetragenen Vorflucht- als auch hinsichtlich der vorgetragenen Nachfluchtgründe.
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Der Kläger trägt vor, Äthiopien vorverfolgt verlassen zu haben. Er sei als Angehöriger der Tigray der Verfolgung ausgesetzt gewesen. Zudem sei er auch deshalb ins Visier der äthiopischen Behörden geraten, weil sein Vater Anhänger und Unterstützer der TPLF gewesen sei. Sein Vater sei aus politischen Gründen getötet worden. Wenn er nach Äthiopien zurückkehre, werde er auch getötet, weil man davon ausgehen würde, dass er seinen Vater rächen wolle. Zudem seien, so der Kläger in der mündlichen Verhandlung, die Häuser seiner Mutter und seines Onkels abgerissen worden. Hierfür seien Gründe der Städteentwicklung vorgeschoben worden, tatsächlich habe man aber nicht-oromische Volksgruppen vertreiben wollen.
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Damit hat der Kläger keine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG glaubhaft dargetan. Das Gericht ist davon überzeugt, dass ihm bei seiner Rückkehr nach Äthiopien keine Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift droht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich der Kläger auch auf eine Vorverfolgung beruft und Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert werden. Danach streitet für denjenigen, der bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
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Ausgehend hiervon kann offenbleiben, ob der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Tigray oder im Zusammenhang mit staatlichen Maßnahmen gegen seinen Vater bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob er deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu seinen Gunsten annimmt, sprechen nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung.
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Die vom Kläger berichteten Maßnahmen äthiopischer Behörden vor seiner Ausreise fanden nach seinen eigenen Angaben statt, weil sein Vater verdächtigt wurde, sich als TPFL-Sympathisant gegen die Regierung gewandt und Wahlen in T. zuungunsten der Regierung beeinflusst zu haben. Einzelschilderungen des Klägers von Durchsuchungsmaßnahmen beziehen sich allein auf Durchsuchungen zu Lebzeiten seines Vaters. Am 28. Oktober 2020 wurde der Vater des Klägers nach den Angaben des Klägers getötet. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass dem Kläger wegen der von ihm geschilderten Geschehnisse vor seiner Ausreise auch jetzt noch bei einer Rückkehr nach Äthiopien Verfolgung drohen könnte, zumal sich die Lage der Tigray seit November 2022 entspannt hat (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 12; vgl. auch Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 52). Dass dem Kläger auch nach dem Tod seines Vaters noch Verfolgungsmaßnahmen drohen sollten, erläuterte der Kläger in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass man ihm bei einer Rückkehr aus kulturellen Gründen Rachebestrebungen unterstellen würde und er deshalb getötet würde. Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert hat, sich gar nicht rächen zu wollen, und auch sonst keine Anhaltspunkte erkennbar sind, die aus Sicht potentieller Verfolgungsakteure (§ 3c AsylG) für Racheabsichten des Klägers sprechen könnten, ist nicht nachvollziehbar, dass ihm allein aufgrund der Todesumstände seines Vaters ohne das Hinzutreten weiterer Umstände von äthiopischen Stellen oder anderen Akteuren, von denen Verfolgung ausgehen kann, (§ 3c AsylG) unterstellt werden könnte, dass er sich rächen will. Insbesondere lässt sich den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln nicht entnehmen, dass Angehörigen Hingerichteter dies generell unterstellt würde und sie deshalb (staatlichen) Maßnahmen ausgesetzt wären. Damit sprechen stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer etwaigen früheren Verfolgung. Unabhängig hiervon handelt es sich bei staatlichen Maßnahmen zur Unterbindung von Racheaktionen überdies nicht um Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Denn eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG würde voraussetzen, dass Verfolgungshandlungen an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgrund anknüpfen. Dies ist nicht der Fall, wenn staatliche Maßnahmen allein der Verhinderung von Rachehandlungen dienen, selbst wenn diese ihrerseits durch eine möglicherweise politisch motivierte Tötung eines Familienangehörigen veranlasst sein sollten.
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Darüber hinaus droht dem Kläger auch keine flüchtlingsrelevante Verfolgung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit. Es liegen stichhaltige Gründe dafür vor, dass zum für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt nicht, jedenfalls nicht mehr von einer (landesweiten) Gruppenverfolgung der Tigray auszugehen ist.
23
Zwar gab es nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im Jahr 2018 Konflikte zwischen der TPLF und der unter Abiy im Jahr 2019 gegründeten Prosperity Party (PP) sowie zwischen der Zentralregierung und der Regionalregierung in T. . So hat Abiy nach seinem Amtsantritt altgediente EPRDF-Funktionsträger, insbesondere Mitglieder der TPLF, entmachtet. Die TPLF erteilte Abiy und der PP nach deren Gründung eine Absage. Die TPLF-Regionalregierung in T. ging daraufhin öffentlich auf Konfrontationskurs zu Abiy. Der Konflikt zwischen der Zentralregierung und der Regionalregierung in T. eskalierte Anfang November 2020; es kam zu Kampfhandlungen zwischen den äthiopischen Streitkräften und bewaffneten Kräften der Regionalregierung. Die Kämpfe wurden jedoch am 3. November 2022 mit der Unterzeichnung eines dauerhaften Waffenstillstandsabkommens (Cessation of Hostilities Agreement; COHA; Pretoria Agreement) zwischen Regierung und TPLF beendet (zum Ganzen AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 6).
24
Nach Beginn des Konflikts in T. im November 2020 gab es zahlreiche bestätigte Berichte von Diskriminierung und Einschüchterung gegen Personen tigrinischer Abstammung (AA, Lagebericht Äthiopien Stand Dezember 2021, 18.1.2022, S. 13; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 12). Nach Ausrufung eines landesweiten Ausnahmezustands im November 2021 verschärfte sich die Situation für Tigriner; es wurde von einer Festnahme- und Inhaftierungswellen gegen ethnische Tigriner berichtet (AA, Lagebericht Äthiopien Stand Dezember 2021, 18.1.2022, S. 14). Auch „normale“ Äthiopier wie Arbeiter, Studierende oder Besitzer kleiner Geschäfte waren von diskriminierenden Maßnahmen betroffen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand Dezember 2021, 18.1.2022, S. 13). Laut Amnesty International wurden 2022 Tausende von Tigrinern durch die Polizei willkürlich festgenommen und inhaftiert. Die Verhaftungen schienen ethnisch motiviert zu sein (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 9). Maßnahmen gegen Tigriner haben jedoch seit der Aufhebung des Ausnahmezustandes und dem Waffenstillstand im November 2022 deutlich nachgelassen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 9, 12). Insbesondere in A A hat sich die Lebenssituation von Tigrinern signifikant verbessert. Die Aufmerksamkeit der Behörden hat sich auf Amharen und Eritreer verlagert. Daher bemüht sich die Regierung um die Beruhigung an der tigrinischen Front. Es wird davon berichtet, dass Arbeitsplätze und Heimstätten, die Tigriner während des Tigray-Konflikts verloren, wiederhergestellt werden und Tigriner, die ins Ausland geflohen waren, nach Äthiopien zurückkehren (Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 52).
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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen liegen stichhaltige Gründe dafür vor, dass zum für die Beurteilung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht von einer (landesweiten) Gruppenverfolgung der Tigray auszugehen ist. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Äthiopien keine Verfolgung wegen seiner tigrinischen Abstammung zu befürchten hat.
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Soweit sich der Kläger zur Begründung seines Asylbegehrens auf eine ihm angeblich drohende Zwangsrekrutierung beruft, kann dahinstehen, unter welchen Umständen Zwangsrekrutierungen eine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellen. Denn dem Kläger droht jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung im Falle seiner Rückkehr nach Äthiopien. Entsprechende Erkenntnisse für landesweite Zwangsrekrutierungen oder zumindest Zwangsrekrutierungen in der Herkunftsregion des Klägers liegen nicht vor. In Äthiopien herrscht keine Wehrpflicht, vielmehr setzt die Armee auf den freiwilligen Wehrdienst von volljährigen Personen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 66, Äthiopien, Stand 03/2024, S. 6). Das Personal setzt sich nur aus Berufs- und Zeitsoldaten sowie Reservisten zusammen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 15). Soweit die äthiopische Regierung im November 2021 einen landesweiten Ausnahmezustand verhängte, der unter anderem zur Rekrutierung Volljähriger berechtigte (Bundesamt, Länderreport 53 Äthiopien, Stand 09/2022, S. 21), wurde dieser Ausnahmezustand bereits am 15. Februar 2022 vorzeitig aufgehoben (Bundesamt, Länderreport 53 Äthiopien, Stand 09/2022, S. 24). Aktuell gibt es keine Berichte über Zwangsrekrutierungen (Außenministerium der Niederlande, COI Report Ethiopia, 31.1.2024, S. 38). Gegen die vom Kläger befürchtete Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die äthiopischen Streitkräfte spricht zudem, dass die Nachwuchsgewinnung unter anderem wegen der vergleichsweise guten Bezahlung sowie einer teilweise auch zivilberuflich nutzbaren Ausbildung grundsätzlich keine Probleme bereitet (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 15).
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Auch in der Gesamtschau der individuellen Umstände des Klägers ist das Gericht nach alledem davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, von äthiopischen Behörden in asylrelevanter Weise belangt zu werden. Die auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG gerichtete Klage ist somit unbegründet.
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Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG zu, da die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind. Der Kläger hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm in Äthiopien ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Insbesondere droht ihm in Äthiopien aus den bereits dargestellten Gründen weder die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) aufgrund der von ihm geltend gemachten Verfolgungsgründe mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 18 ff., U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 20, jeweils mit Verweis auf EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 (Saadi/Italien) – NVwZ 2008, 1330; BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6; VG Halle, U.v. 8.5.2018 – 4 A 111/16 – juris Rn. 15 ff.).
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Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist auch nicht etwa mit Blick auf die humanitäre Lage in Äthiopien zu befürchten. Die allgemeine humanitäre Lage kann nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen (vgl. EGMR, U.v. 29.1.2013, S.H.H. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 60367/10, Rn. 75, und vom 28.6.2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u. a., Rn. 218, 241, 278: „in very exceptional cases“ bzw. „in the most extreme cases“; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 22 ff.). Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 12 zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots bei „nichtstaatlichen“ Gefahren; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a./Ibrahim – juris Rn. 89 ff. und – C-163/17/Jawo – juris Rn. 90 ff.).
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Ob diese engen Voraussetzungen bezüglich der humanitären Lage in Äthiopien bzw. konkret in A A, dem Herkunftsort des Klägers, vorliegen, kann an dieser Stelle dahinstehen. Denn jedenfalls wäre eine kritische humanitäre Lage nicht auf einen Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c Nr. 1-3 AsylG zurückzuführen.
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Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c Nr. 1-3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat. Es ist demnach ein zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs erforderlich, welches die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 13; U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 12).
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Dies ist nicht der Fall. Es ist auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse nicht ersichtlich, dass die humanitäre Lage in Äthiopien, insbesondere mit Blick auf die Nahrungsmittelversorgung, auf das zielgerichtete Handeln eines Akteurs zurückzuführen ist. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn bestimmte Akteure die Versorgung mit Wasser, Nahrung, Medikamenten usw. gezielt behindern bzw. blockieren würden. Dies ist jedoch zumindest für A A nicht als maßgeblicher Faktor anzunehmen. Vielmehr liegt in Äthiopien vorrangig ein Zusammenwirken von Konflikten, Dürreperioden und Überflutungen vor (vgl. The Danish Immigration Service, COI Report Ethiopia, Oktober 2024, S. 25 f.; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7).
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Einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes hat der Kläger auch nicht etwa aufgrund einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
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Es ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger beachtlich wahrscheinlich eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
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Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 82 ff. m.w.N.). Bei der Beurteilung dieser Frage ist es nicht Voraussetzung, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht. Vielmehr ist eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslandes kennzeichnenden Umstände erforderlich (EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 37, 45). Liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die eine Person von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil sie von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer eine Person als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (vgl. zum Prüfungsmaßstab BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 18 ff.; EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 26 ff.).
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Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sind die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG beim Kläger, der keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht erfüllt. Es fehlt an der erforderlichen Gefahrendichte für die Annahme eines landesweiten bewaffneten Konflikts im dargestellten Sinne. Zwar haben ethnische Spannungen und gewaltsame Auseinandersetzungen in vielen Teilen Äthiopiens besorgniserregend zugenommen. Die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel über ethnische Konflikte und andere Auseinandersetzungen in Äthiopien geben jedoch keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen und gewaltsamen Unruhen in Äthiopien landesweit ein so hohes Niveau erreichen würden, dass der Kläger bei seiner Rückkehr allein durch seine dortige Anwesenheit oder aufgrund gefahrerhöhender persönlicher Umstände tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Sicherheitslage in den Konfliktregionen Tigray, Amhara, Oromia, Benishangul-Gumuz, Gambella, Afar/Somali und Southern Nations, Nationalities and Peoples Region (SNNPR) stellt sich wie folgt dar:
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Mit Blick auf gewalttätige Konflikte in Äthiopien ist zunächst der Tigray-Konflikt hervorzuheben, der in mehreren Phasen unterschiedlicher Stärke verlief und von der UNmandatierten Kommission internationaler Menschenrechtsexperten als einer der tödlichsten Kriege des 21. Jahrhunderts bezeichnet wurde (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 6), bevor Anfang November 2022 ein Abkommen über die Einstellung der Feindseligkeiten vereinbart wurde. Seither ist die militärische Auseinandersetzung zwischen dem äthiopischen Militär und ihren Verbündeten auf der einen und den Tigray Defence Forces (TDF) auf der anderen Seite in der Region Tigray – jedenfalls vorerst – beendet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 14; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4, 6). Anfang Februar 2024 kam es zu einem ersten offiziellen Treffen zwischen der äthiopischen Regierung und einer Delegation der TIRA unter der Leitung des TIRA-Präsidenten Getachew Reda und führenden Vertretern der TPLF, um über Fortschritte und Defizite bei der Umsetzung des Abkommens über die Einstellung der Feindseligkeiten zu sprechen, insbesondere den Abzug der amharischen Milizen und eritreischen Streitkräfte, die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge, die Aufarbeitung der während des Konflikts begangenen Gräueltaten, die Demobilisierung der TDF, der ungeklärte Status der Western Tigray Zone und die Versorgungslage. Die Gespräche sollen fortgeführt werden (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 15).
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Auch nach dem Waffenstillstand berichteten Medien von anhaltenden Vertreibungen in T. . So sollen im Dezember 2023 etwa 7.000 tigrayische Flüchtlinge Zuflucht in Lagern nahe der Stadt Endabaguna (Zone North Western) gesucht haben (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 12). Zudem wird von Übergriffen eritreischer Soldaten (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 14) und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen tigrayischen Milizen und amharischen Streitkräften bzw. Milizen berichtet, welche teilweise erst durch das Eingreifen des äthiopischen Militärs beendet wurden; von Todesfällen wurde jeweils nicht berichtet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Soweit von einem Machtkampf zwischen der Übergangsregierung in T. (Tigray Interim Regional Administration, TIRA) und Teilen der TPLF berichtet wird, soll dies zur Entlassung einflussreicher Beamter geführt haben; gewaltsame Konflikte werden insoweit jedoch nicht berichtet (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 15). Die West-Zone der Region Tigray ist zwischen Amhara und Tigray umstritten und wird derzeit von amharischen Milizen kontrolliert.
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Infolge der Beilegung des Konflikts im Regionalstaat Tigray mit dem im November 2022 geschlossenen „Abkommen zur Beilegung der Feindseligkeiten“ kam es in anderen Regionen, vor allem in den Regionen Amhara und Oromia und besonders in den dortigen Grenzgebieten, zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen regionalen Milizen und staatlichen Streitkräften mit zahlreichen Toten, Plünderungen und Vertreibungen (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 16; Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, Vorwort und S. 7, 12). Das Bundesamt berichtet in seinem Länderreport 69 zu Äthiopien, dass manche eine Zersplitterung des Landes befürchteten, ähnlich wie im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre, mit blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen, ethnischen Säuberungen bis hin zu einem Bürgerkrieg, der zum Zerfall des Landes führe (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 8).
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In Amhara stieß die Entscheidung der äthiopischen Regierung im April 2023, landesweit alle Milizen zu entwaffnen und die regionalen Spezialeinheiten in die staatliche Polizei und die nationale Armee zu integrieren, auf breite Ablehnung. Die Fano-Milizen, eine ethno-nationalistische Jugendbewegung, die sich seit 2010 aus den Protesten gegen die damals noch von der TPLF dominierten Zentralregierung entwickelte und sich als Vertreterin der ethnischen Amhara sieht, widersetzten sich ihrer Demobilisierung (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 9). Dies führte im April 2023 zu ersten Unruhen in mehreren Städten, die eine militärische Offensive der ENDF auslösten (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10). Nach einer vorübergehenden Beruhigung der Lage kam es im November 2023 in den Zonen South und North Shewa, Central Gondar, North Wollo sowie Eastern und West Gojam erneut zu Kämpfen zwischen Fano und der ENDF (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10). Infolge der Eskalation der Auseinandersetzungen hatte die äthiopische Regierung bereits zuvor im August 2023 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand verhängt, welcher aufgrund der anhaltenden angespannten Situation Anfang Februar 2024 für weitere vier Monate verlängert wurde (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 10 f.). Nach zehn Monaten lief der Ausnahmezustand am 6. Juni 2024 aus (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 10.6.2024). Fano hat sich aus den städtischen Gebieten weitgehend zurückgezogen, gleichwohl es auch in Städten noch zu Kämpfen kommen kann (z.B. Anfang März 2024 in der Regionalhauptstadt Bahir Dar, vgl. Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 55). Jedoch operiert Fano weiterhin auf dem Land, wo sie breite Unterstützung durch die Bevölkerung erhalten soll (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; ARC, Ethiopia Query Response: The Human Rights Situation in Oromia (May 2022-May 2024), 08/2024, S. 55). Die Kämpfe halten jedenfalls weiter an. Im Rahmen der Auseinandersetzungen kommt es auch unter der Zivilbevölkerung zu Opfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 11; BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Sicherheitslage, 25.10.2023; Bundesamt, Briefing Notes 18.12.2023, S. 1; Briefing Notes 4.3.2024, S. 1; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Äthiopien: Informationen zur aktuellen Lage der Amharen, insbesondere in A A, bestehender Bürgerkrieg zwischen dem Staat und den Amharen, 23.2.2024). Infolge des Konflikts zwischen den Fano-Kräften und den Regierungstruppen sind seit Juli 2023 mehr als 180 Menschen ums Leben gekommen (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Sicherheitslage, 25.10.2023, S. 14; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Äthiopien: Informationen zur aktuellen Lage der Amharen, insbesondere in A A, bestehender Bürgerkrieg zwischen dem Staat und den Amharen, 23.2.2024). In den Grenzgebieten zu Oromia (Zone North Shewa) kommt es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der im Jahr 2019 von der OLF abgespaltenen (vgl. Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 5 Fn. 8, S. 9) OLA, Fano und äthiopischen Sicherheitskräften, bei denen es auch zur Tötung von Zivilisten und Plünderungen kommt (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 13 f.). Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Amhara halten weiterhin an. Es muss jederzeit mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen lokalen Milizen und Sicherheitskräften gerechnet werden (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 17). Regierungstruppen sollen in der ersten Oktoberhälfte 2024 Fano-Milizen, insbesondere mit Luftangriffen, in Teilen Amharas, darunter Gercheche, Merawi, North Mecha, South Meche und Achefer (Provinz Gojjam, Metekel Zone) attackiert haben. Bei Drohnenangriffen sollen Dutzende Menschen getötet und Schulen zerstört worden sein (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024). Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Regierungstruppen und der Fano-Miliz sind Berichten zufolge am 3. Oktober 2024 mindestens 20 Zivilpersonen in der Nähe von Gondar getötet worden (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 7.10.2024). Bei mehreren Drohnenangriffen in Shoa, Gojjam und Gondar wurden Berichten zufolge am 22. Oktober 2024, 25. Oktober 2024 und 26. Oktober 2024 mindestens 18 Personen, darunter auch Kinder, getötet (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 28.10.2024). Bei mehreren Drohnenangriffen auf eine belebte Umgebung mit Märkten, Schulen und Gesundheitseinrichtungen in der Achefa Woreda (North Gojam Zone) sind Berichten zufolge am 5. November 2024 50 Menschen getötet worden. Die Drohnenangriffe werden mit der aktuellen Bekämpfung der Fano-Milizen in Amhara in Verbindung gebracht (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 11.11.2024).
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Im Regionalstaat Oromia kommt es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der OLA und den äthiopischen Sicherheitskräften. Da Opfer der OLA häufig auch ethnische Amhara sind, kommt es im Gegenzug des Weiteren auch zu Angriffen der Fano (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Die OLA verweigert den politischen Diskurs mit der äthiopischen Regierung und fordert – unter Einsatz von Waffen – eine Autonomie des Regionalstaats. Seit November 2022 eskaliert die Gewalt. Nach gescheiterten Friedensverhandlungen in Tansania im April 2023 startete das äthiopische Militär am 17. Mai 2023 eine weitere Offensive gegen die OLA (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 16). Auch weitere Friedensverhandlungen im November 2023 endeten ohne Ergebnis (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4; Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 17; Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17). Es kommt weiterhin zu bewaffneten Zusammenstößen mit Todesopfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4; vgl. zu Konfliktvorfällen zwischen Januar 2020 und Dezember 2023: Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 18 ff.). So sind Berichten zufolge am 10. Oktober 2024 sieben Zivilpersonen in Sadika Karsa, Robe Didea Distrikt (Arsi Zone) getötet worden, acht weitere werden vermisst, als Regierungstruppen Zeugen zufolge nach Mitgliedern der OLA suchten (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 21.10.2024). Im North Shewa Distrikt sollen bei einem Angriff der OLA 48 Menschen getötet und weitere entführt worden sein. Die OLA verübt seit 2018 vermehrt Angriffe in der Region (Bundesamt, Briefing Notes Äthiopien, 11.11.2024; vgl. insgesamt zur Sicherheitslage in Oromia auch den Länderreport 66 des Bundesamts, Stand 03/2024). Im Februar 2024 berichtete die äthiopische Menschenrechtskommission von schweren und zunehmenden Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen internationales Recht in Oromia, darunter außergerichtliche Tötungen und Gewalt gegen Zivilpersonen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 20). Auch nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen der Regionalregierung in Oromia und einer Splittergruppe der OLA unter Sanyi Nagasa am 1. Dezember 2024 halten die Auseinandersetzungen an (Ethiopia Peace Observatory, Ethiopia Weekly Update, 3.12.2024).
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Auch im Regionalstaat Benishangul-Gumuz sind ethnisch motivierte Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Milizen mit zivilen Opfern zu verzeichnen, dies vor allem zwischen September 2020 und Mitte 2021 (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18). Ende 2020 begannen Friedensverhandlungen zwischen der Regionalregierung, der GPDM und der militanten Gruppe Benishangul People’s Liberation Movement (BPLM). In der Folge kam es zur Demobilisierung der Gruppen und schließlich im Oktober 2022 zu einem Friedensabkommen mit der GPDM. Im Dezember 2022 erklärte schließlich auch die BPLM, den bewaffneten Konflikt beenden zu wollen. Im März 2023 wurden mehr als 370 GPDM-Mitglieder im Rahmen einer Amnestie freigelassen. Aktuell kommt es nur noch vereinzelt zu gewalttätigen Angriffen auf die Zivilbevölkerung und auf staatliche Einrichtungen, auch wenn die Boro Democratic Party (BDP) im März 2024 auf eine zunehmende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vor allem in der Woreda Sedal (Zone Kamashi-Zone) in Form von Überfällen, Entführungen und Tötungen durch bewaffnete Gruppen aus dem Sudan hinwies (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 17; vgl. ferner AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7).
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Im Regionalstaat Gambella kommt es insbesondere seit dem Jahr 2016 zu gewaltsamen Konflikten zwischen Anuak-Milizen und staatlichen Sicherheitskräften auch mit zivilen Todesopfern (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Nachdem die Gambella Liberation Front (GLF) 2022 noch auf Seiten der OLA an Kämpfen mit regionalen Sicherheitskräften und der ENDF beteiligt war, kündigte die GLF im April 2023 nach Friedensgesprächen mit der äthiopischen Zentralregierung und der Regionalregierung von Gambella an, ihren bewaffneten Kampf zu beenden und künftig friedlich für die Interessen der Ethnie der Gambella einzutreten. Auch 2023 und 2024 kam es zu Zusammenstößen bewaffneter Gruppen und Angriffen örtlicher Milizen, bei denen es Todesopfer und Verletzte in der Zivilbevölkerung, vor allem unter Flüchtlingen aus dem Südsudan, gab (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Hintergrund der Gewalt soll u.a. die Ankunft weiterer Flüchtlinge aus Südsudan gewesen sein, vor allem Nuer, die vor den Konflikten in ihrem Land fliehen (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18).
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In der Grenzregion der Regionalstaaten Afar und Somali kommt es aufgrund langjähriger Streitigkeiten über umstrittene Gebiete immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Im Zentrum des Konflikts stehen drei Kebeles, in denen ethnische Somalis des Issa-Clans, einer der mächtigsten somalischen Sub-Clans, leben. Diese drei Kebeles befinden sich in den Afar-Zonen 1 (Awsi) und 3 (Gabi) sowie in der Sitti-Zone Somalis. Die Issa fordern die Wiedereingliederung in die Somali-Region, was die regionalen Behörden der Afar strikt ablehnen. Der gewaltsame Konflikt zwischen den Issa und den Afar begann im Oktober 2019, als in Obno (Woreda Afambo, Zone 1) bei einem Angriff einer unbekannten Gruppe bewaffneter Männer mindestens 17 Zivilistinnen und Zivilisten getötet und 34 weitere verletzt wurden (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 18). Nachdem es auch in den Folgejahren immer wieder zu Zusammenstößen mit Toten kam, erklärten die Präsidenten der beiden Regionen im April 2021, die Gewalt beenden und die aktuellen Grenzen respektieren zu wollen. Im Mai 2022 wurde eine Einigung über den Abzug aller regionalen Spezialeinheiten aus dem umstrittenen Gebiet erzielt. Seither kam es noch zu sporadischer Gewalt, aktuell liegen jedoch keine Berichte über bewaffnete Auseinandersetzungen in der Region vor (Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 19). Risikofaktoren stellen neben dem Konflikt zwischen äthiopischen Streitkräften und bewaffneten Gruppen der Zustrom somalischer Flüchtlinge sowie Infiltrationsversuche und Angriffe islamischer Fundamentalisten dar. Vor allem im Grenzgebiet zu Somalia und Kenia besteht die Gefahr von Entführungen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18).
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Des Weiteren kam es in den vergangenen Jahren auch in der multiethnischen Region SNNPR zu ethnischen Konflikten, die sich allerdings spürbar entspannt haben. Allenfalls sporadisch kommt es zu vereinzelten Übergriffen unbekannter Gruppen wie in der Central Region (Woreda Gurage) oder in der South Region (Gamo Zone, Woreda Arba Minch Zuria; Bundesamt, Länderreport 69 Äthiopien, Stand 04/2024, S. 19). Das Auswärtige Amt berichtet, dass es in einem ca. 10 km breiten, an Südsudan und Kenia angrenzenden Streifen immer wieder zu Zwischenfällen kommt (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 18). Auch aus der Region SWEP wird nur selten über Übergriffe berichtet (Ethiopia Peace Observatory, Ethiopia Weekly Update, 3.12.2024).
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Bei der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung besteht vor diesem Hintergrund kein landesweiter bewaffneter Konflikt mit der im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderlichen Gefahrendichte. Die aufgezeigten ethnischen Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen in vielen Teilen Äthiopiens variieren wie vorstehend dargestellt nach Art, Ausmaß, Intensität, Häufigkeit und ihrer Gefahr für die Zivilbevölkerung. Dass sie landesweit ein so hohes Niveau erreichen würden, dass eine Zivilperson allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, ist mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen zu den Konfliktlagen in den einzelnen Regionen nicht anzunehmen.
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Nachdem ein bewaffneter Konflikt mit der im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderlichen Gefahrendichte nicht landesweit besteht, kommt eine individuelle Bedrohung des Klägers im Sinne dieser Vorschrift nur in Betracht, wenn der Konflikt sich mit der beschriebenen Gefahrendichte auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 17). Dies ist nicht der Fall.
48
Für die Hauptstadt A A, wo der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien lebte, ist nicht von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen (vgl. AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 17). In A A gibt es regelmäßig Demonstrationen, Kundgebungen und Proteste, die mitunter gewaltsam von Sicherheitskräften unterbunden werden, wobei es auch zu Todesopfern kommen kann bzw. kam (vgl. Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 12 ff.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Äthiopien, 4.11.2021, S. 5 f., 14). Abgesehen davon gibt es in A A jedoch kaum relevante Sicherheitsvorfälle; solche werden nur aus anderen Landesteilen berichtet. Innerstaatliche bewaffnete Konflikte sind daher für A A nicht zu verzeichnen, auch wenn Angriffe nach Abschluss des Tigray Friedensabkommens an Reichweite gewonnen haben und es mitunter zu gewaltsamen Zusammenstößen auch nahe der Hauptstadt A A kam (Bundesamt, Länderreport 66 Äthiopien, Stand 03/2024, S. 16). Davon ausgehend liegt nach der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung keine solche Gefahrendichte vor, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach A A durch seine dortige Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der von ihm behaupteten Vorverfolgung und seiner tigrinischen Volkszugehörigkeit, die aus den bereits dargestellten Gründen nicht zu einer relevanten Gefahrerhöhung für den Kläger führen.
49
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
50
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Unzulässigkeit der Abschiebung kann sich dabei insbesondere aus Art. 3 EMRK ergeben. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Insbesondere ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 187 bis 191) davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse ausgesetzt sein könnte.
51
Mit Blick auf die allgemeine humanitäre Lage im Herkunftsland ist das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12 m.w.N.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 65; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u. a./Ibrahim – juris Rn. 89 ff. und – C-163/17/Jawo – juris Rn. 90 ff.).
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Das dabei maßgebliche Risiko entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Umstände, die für eine mit der EMRK unvereinbare Behandlung sprechen, ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Maßstab für die Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers im Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25).
53
Nach diesem Maßstab ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum nach seiner Rückkehr nach Äthiopien zu befriedigen.
54
Äthiopien gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze und das rasche Bevölkerungswachstum trägt zum Verharren in Armut bei (s. BFA, Länderinformationsblatt, 4.11.2021, S. 39). Die wirtschaftliche Lage in Äthiopien stellt sich als schwierig dar; sie ist geprägt von anhaltender Inflation, extremer Devisenknappheit und steigenden Weltmarktpreisen für notwendige Importgüter. Über 20 Mio. Menschen benötigen nach Schätzungen der äthiopischen Regierung humanitäre Hilfeleistungen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 4, 21). Laut der VN-Nothilfeorganisation (OCHA) bedürfen etwa 21,4 Mio. Menschen humanitärer Unterstützung aufgrund von konflikt- bzw. klimabedingten humanitären Krisen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). Die Zahl der Binnenvertriebenen ist landesweit zuletzt auf ca. 3,4 Mio. Menschen leicht gestiegen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7, 20). Zudem hat Äthiopien mehr als 1 Mio. Geflüchtete, insbesondere aus den Nachbarländern Südsudan, Somalia und Eritrea aufgenommen (AA, Lagebericht Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7, 20). Die Grundversorgung der registrierten Flüchtlinge wird durch u.a. UNHCR und WFP übernommen, auch wenn diese stark unterfinanziert sind (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 20).
55
Äthiopien ist ein Agrarstaat. Mehr als ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes wird in der Landwirtschaft generiert. Die Landwirtschaft und der Bergbau sind die zwei wichtigsten Wirtschaftszweige. Vor diesem Hintergrund sind die Konflikte innerhalb des Landes und das Land wiederholt heimsuchende Naturkatastrophen (Dürren und Überflutungen) zu sehen; diese beeinträchtigen die Volkswirtschaft (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 2; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). So ist die humanitäre Lage seit Ende 2023 von einer Dürre in Nordäthiopien (Tigray, Afar, Amhara und Teile Oromias) geprägt, die die humanitären Bedarfszahlen nach oben treibt. Gleichzeitig wird auch Südäthiopien weiterhin abwechselnd von Dürren und Überflutungen heimgesucht, so dass die – zusätzlich durch die Konflikte in Oromia und Amhara belastete – humanitäre Lage landesweit sehr schlecht ist (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 7). Das durchschnittliche Monatseinkommen betrug 2023 81 EUR pro Kopf. Die Bezahlung für einfache Tätigkeiten in Äthiopien ist sehr niedrig, mittlere Einkommen gibt es kaum und im Management fallen die Gehälter relativ hoch aus (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 3).
56
Demgegenüber ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Äthiopien über einen grundlegenden politischen und rechtlichen Rahmen verfügt, der stark genug ist, um Sozialschutzprogramme wirksam zu fördern. Das Land verfügt über eine nationale Sozialschutzpolitik und -strategie sowie über verschiedene sektorspezifische Strategien wie die Strategie für urbane Ernährungssicherheit und Arbeitsplatzschaffung (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 3). Zudem wurden wegen Zweckmittelentfremdung im Jahr 2023 zeitweise ausgesetzte Lebensmittellieferungen Mitte November 2023 wieder aufgenommen (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 5).
57
Die Grundversorgung bleibt dennoch vor allem für Rückkehrende lückenhaft (BFA, Anfragebeantwortung Äthiopien Aktuelle Informationen zur Grundversorgung, 25.10.2023, S. 2; AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21). Rückkehrende können in Äthiopien nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kindergeld o.ä. werden von der äthiopischen Regierung nicht erbracht. Es gibt in Äthiopien weder eine kostenlose medizinische Grundversorgung noch beitragsabhängige Leistungen. Die medizinische Behandlung, die grundsätzlich direkt zu bezahlen ist, erfolgt entweder in staatlichen Gesundheitszentren bzw. Krankenhäusern oder in privaten Kliniken. Die Behandlung einiger akuter Erkrankungen oder Verletzungen ist durch eine medizinische Basisversorgung gewährleistet, jedoch fehlt es an Impfstoffen und Medikamenten. Komplizierte Behandlungen können wegen fehlender Ausstattung mit entsprechendem Gerät nicht durchgeführt werden. Chronische Krankheiten, die auch in Äthiopien weit verbreitet sind, wie Diabetes, aber auch Immunsystemschwächen können eingeschränkt behandelt werden, wobei bestimmte Impfstoffe und Medikamente gegebenenfalls nicht verfügbar sind. Auf dem Land ist die medizinische Versorgung wegen fehlender Infrastruktur erheblich schlechter als in den größeren Städten (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 22).
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Die Versorgung der Rückkehrenden (z.B. Erstunterbringung, medizinische Untersuchung, Familienzusammenführung, Weitertransport in die Heimatregionen) wird großteils durch Organisationen der Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen übernommen. Die äthiopische Regierung übernimmt die Registrierung der Rückkehrenden und unterstützt auch die Erstunterbringung in A A und anderen Orten auf den wichtigsten Migrationsrouten, wobei die staatlichen Transitzentren in A A nach Auskunft von Nichtregierungsorganisationen massiv überfüllt sind (vgl. zum Ganzen AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21). Für schutzbedürftige Rückkehrende, insbesondere für Minderjährige, gibt es Erstaufnahmeeinrichtungen, die von IOM betrieben werden (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 22).
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Für Rückkehrende aus Europa bestehen allerdings EUfinanzierte Programme zur Reintegration (AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21 unter Verweis auf die Informationen unter dem Link vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/ethiopia).
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In Gesamtschau dieser Umstände ist trotz der allgemein schwierigen humanitären Lage in Äthiopien nicht ersichtlich, dass Rückkehrer überwiegend oder in großer Zahl nicht in der Lage wären, ihr Existenzminimum in Äthiopien zu sichern. Vielmehr wird aus den dargestellten Umständen deutlich, dass es für die Beurteilung dieser Frage auf die konkreten Umstände der Rückkehr, insbesondere die Verhältnisse am Rückkehrort, die Leistungsfähigkeit des Betroffenen sowie die Zahl der in einem Haushalt zu versorgenden Personen ankommt. Besonders betroffen von den schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnissen sind vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Alleinerziehende ohne familiäre Unterstützung, Familien mit mehreren Kindern, nicht arbeitsfähige, ältere oder kranke Personen (zur Gefahr stark vulnerabler Gruppen wie Binnenvertriebenen Opfer von Menschenhandel und Gewalt zu werden vgl. AA, Lagebericht Äthiopien Stand März 2024, 19.7.2024, S. 21).
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Hiervon ausgehend erscheint es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, dort seine Existenz zu sichern. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich der Kläger das notwendige Existenzminimum auch ohne verwandtschaftlichen Rückhalt selbst erwirtschaften kann. Es kann daher dahinstehen, ob der Kläger auf familiären Rückhalt in Äthiopien zurückgreifen kann.
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Der Kläger ist gesund und im erwerbsfähigen Alter. Durchgreifende Anhaltspunkte für eine fehlende Erwerbsmöglichkeit in Äthiopien sind nicht ersichtlich. Der Kläger hat nach Abschluss eines Bauingenieurstudiums in Äthiopien als Bauingenieur gearbeitet. Auch unter Berücksichtigung seiner Volkszugehörigkeit und des Umstands, dass er von den in Äthiopien gängigen Sprachen letztlich nur amharisch spricht, ist angesichts seiner guten Ausbildung und seiner Berufserfahrung davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Äthiopien an eine vergleichbare Tätigkeit wird anknüpfen können und sich seinen Lebensunterhalt selbst ohne familiären Rückhalt in Äthiopien im Rahmen einer Erwerbstätigkeit sichern kann. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger Äthiopien nach seinen Angaben bereits im November 2020 verlassen hat und sich bei einer Rückkehr dort erneut zurechtfinden und einleben muss. Dies ist ihm auch nach seiner Ankunft in Deutschland, einem für ihn bis dahin völlig unbekannten Land, gelungen. So hat er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung in Deutschland einen Arbeitsplatz in der Produktion eines Unternehmens gefunden. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ihm Entsprechendes bei einer Rückkehr nach Äthiopien, also in ein ihm bereits aus der Vergangenheit bekanntes Land mit einer ihm bekannten Kultur und Sprache, nicht gelingen sollte.
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Zudem besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann dann, wenn der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen kann, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer bzw. der Ausländerin nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (s. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25). Der Kläger könnte bei einer freiwilligen Rückkehr auf Rückkehr- und Reintegrationsprogramme zurückgreifen: Im Rahmen der Programme „Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany“ (REAG) sowie „Government Assisted Repatriation Programme“ (GARP) kommen insbesondere eine Reisebeihilfe sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe in Höhe von 1.000,00 EUR in Betracht (s. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp). Eine zweite Starthilfe nach sechs bis acht Monaten kommt im Rahmen des Programms StarthilfePlus in Betracht (s. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp).
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Bei zusammenfassender Würdigung ist daher festzustellen, dass aufgrund der hier gegebenen Umstände des konkreten Einzelfalls des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Kläger trotz der insgesamt schwierigen humanitären Verhältnisse in Äthiopien nicht in der Lage sein wird, sein notwendiges Existenzminimum zu sichern. Dabei wird nicht übersehen, dass viele Menschen in Äthiopien auf Hilfe von dritter Seite angewiesen sind und das Land sich mit zahlreichen Problemen wie z.B. Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit, eingeschränkter Gesundheitsversorgung, Fortbestehen ethnischer Konflikte und Folgen des Ukrainekriegs, konfrontiert sieht. Gleichwohl gibt es auch unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten beim Kläger hinsichtlich Bildung, körperlicher Verfassung und Familienhintergrund keine durchgreifenden Hinweise darauf, dass ihm bei einer Rückkehr der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden infolge von Mangelernährung drohten. Die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzulegende Gefahrenschwelle wird nach alledem nicht erreicht.
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Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass für den Kläger in Äthiopien eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahr ergibt sich insbesondere nicht aus den schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien, gesundheitlichen Gründen oder mit Blick auf die Befürchtung des Klägers, in Äthiopien zwangsrekrutiert zu werden.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.
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Nach diesen Maßstäben ist bei dem Kläger ein nationales Abschiebungsverbot nach dieser Bestimmung im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist gemäß Satz 4 der Vorschrift nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, die insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
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Derartige erhebliche konkrete Gefahren für die Klagepartei sind im streitgegenständlichen Fall nicht erkennbar. Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger Krankheiten in lebensbedrohlichem Ausmaß hätte oder dass sich eine schwerwiegende Erkrankung durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde.
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Schließlich ist auch nicht davon auszugehen, dass in Äthiopien eine Gefahr für Leib und Leben des Klägers im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG infolge einer Zwangsrekrutierung droht. Wie bereits ausgeführt ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Gefahr der Zwangsrekrutierung junger Männer ebenso zu verneinen wie die Gefahr einer Zwangsrekrutierung in der Herkunftsregion des Klägers. Entsprechende Erkenntnisse für Zwangsrekrutierungen liegen nicht vor.
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Die vom Bundesamt in Ziffer 5 des angegriffenen Bescheids verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen vor.
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Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den § 11 Abs. 2, § 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besondere Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind beim Kläger nicht ersichtlich.
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Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, findet die Kostenentscheidung ihre Grundlage in § 155 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich des streitig entschiedenen Teils beruht die Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
74
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.