Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 23.10.2024 – AN 18 S 24.50488
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung nach Polen

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Das polnische Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen weisen keine systemischen Schwachstellen auf, die für einen männlichen gesunden Dublin-Rückkehrer mittleren Alters die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen würden. Dies gilt auch nach einer eventuellen Anerkennung als international Schutzberechtigter. (Rn. 28 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist derzeit nicht davon auszugehen, dass die Ankündigung des polnischen Ministerpräsidenten, das Asylrecht in Polen aussetzen zu wollen, Dublin-Rückkehrer nach Polen betreffen wird. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erfolgloser Eilantrag gegen Abschiebungsandrohung nach Polen, Zuständigkeit Polens nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO, Keine systemischen Mängel des polnischen Asylsystems, Jüngste Äußerungen des polnischen Ministerpräsidenten Tusk, das Asylrecht aussetzen zu wollen, derzeit ohne Auswirkung auf Dublin-Überstellungen, Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Polen, gesunder Mann mittleren Alters, erfolgloser Eilantrag, polnisches Asylsystem, keine systemischen Mängel, angekündigte Aussetzung des Asylrechts, international Schutzberechtigte
Fundstelle:
BeckRS 2024, 40792

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nach Polen im Rahmen eines sog. Dublinverfahrens.
2
Der Antragsteller wurde am … 1970 in Syrien geboren und ist eigener Angabe nach syrischer Staatsangehöriger. Er reiste seiner Aussage zufolge am 6. Juni 2024 über Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 7. Juni 2024 ein Asylgesuch. Am 28. Juni 2024 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag in Deutschland.
3
Die am 7. Juni 2024 eingeholte EURODAC-Auskunft ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Polen (* …*) mit dem Datum der Asylantragstellung und Fingerabdrucknahme bereits am 27. Mai 2024.
4
Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrages am 28. Juni 2024 gab der Antragsteller an, dass in Deutschland zwei Söhne, …, geb. … 2000 in Syrien und …, geb. … 2002 in Syrien sowie zwei Töchter, …, geb. … 1997 in Syrien und …, geb. … 2005 in Syrien und schließlich sein Bruder …, geb. 1973 in Syrien, leben. Nachweise über die verwandtschaftlichen Beziehungen könne er nicht vorlegen. Der Sohn … wohne in …, der Sohn … in …, die Tochter … in …, die Tochter … in … und der Bruder … in … Sie seien aufgrund wechselseitiger familiärer Bindung auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. In Polen seien ihm, dem Antragsteller, Fingerabdrücke genommen worden, er habe aber keinen Asylantrag gestellt. Sein Heimatland Syrien habe er am 27. November 2023 verlassen und sei über Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland, Weißrussland und Polen nach Deutschland gereist. Das Gebiet der Dublin-Mitgliedstaaten habe er seitdem nicht mehr verlassen. Laut XAVIA-Notiz des Bundesamtes (S. 58 elektronische Behördenakte) ist der Antragsteller verheiratet.
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Am 1. Juli 2024 richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO betreffend den Antragsteller an die Republik Polen. Die polnischen Behörden haben das Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO mit Schreiben vom 3. Juli 2024 akzeptiert.
6
Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages am 3. Juli 2024 gab der Antragsteller an, dass er in Polen gezwungen worden sei, Fingerabdrücke abzugeben; einen Asylantrag habe er nicht gestellt. Sie seien im Wald von der Polizei verhaftet und er sei gefragt worden, ob er hier bleiben möchte, was er mit „Nein, ich möchte nach Deutschland weiter“ beantwortet habe. Sie hätten eine Nacht auf der Polizeiwache verbracht und seien am nächsten Morgen nach Abgabe der Fingerabdrücke freigelassen worden. Sein Reiseziel sei von Anfang an Deutschland gewesen, hier habe er vier Kinder und einen Bruder. Seine Frau und seine Tochter seien in Syrien geblieben. Gegen eine Abschiebung nach Polen spreche aus seiner Sicht, dass er dort niemanden habe und er lieber in Deutschland vereint mit der Familie lebe. Erkrankungen habe er keine.
7
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 10. Juli 2024, dem Antragsteller zugegangen am 19. Juli 2024, wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 2), die Abschiebung nach Polen angeordnet (Ziffer 3) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig sei, da Polen aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrages nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Ausführungen des Bundesamtes im Bescheid vom 10. Juli 2024 Bezug genommen.
8
Am 25. Juli 2024 erhob der Antragsteller zu Protokoll der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Ansbach Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 10. Juli 2024 (AN 18 K 24.50489) und beantragte gleichzeitig,
die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
9
Zur Begründung führt er nichts aus.
10
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
11
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten des erhobenen Eilverfahrens sowie des Klageverfahrens AN 18 K 24.50489 Bezug genommen.
II.
13
Der Antrag ist in sachgerechter Weise dahingehend auszulegen (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO), dass der Antragsteller die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der in dem Hauptsacheverfahren AN 18 K 24.50489 erhobenen Klage gegen die in Ziffer 3 des Bescheids vom 10. Juli 2024 getroffene Abschiebungsanordnung nach Polen begehrt. Der so verstandene Antrag, zu dessen Entscheidung nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter berufen ist, ist zulässig, aber unbegründet.
14
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.
15
Er ist insbesondere statthaft, weil der Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung kraft bundesgesetzlicher Regelung keine aufschiebende Wirkung zukommt, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Der Antrag wurde zudem innerhalb der einwöchigen Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
16
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Es hat dabei eine eigene, originäre Ermessensentscheidung zu treffen. Das Gericht hat zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG – zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
18
Unter Heranziehung dieser Grundsätze fällt die zu treffende Ermessensentscheidung zugunsten des Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin aus, weil die im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung ergibt, dass die Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 10. Juli 2024 unter dem gerichtlichen Aktenzeichen AN 18 K 24.50489 voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Denn die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids getroffene Abschiebungsanordnung nach Polen erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a) Rechtsgrundlage für die Anordnung der Abschiebung nach Polen ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann, eine entsprechende Abschiebung somit nicht rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht, § 34a Abs. 1 Satz 3 AsylG. Die vorliegend ergangene Abschiebungsanordnung wird diesen Anforderungen gerecht.
20
b) Die Antragsgegnerin geht zutreffend von einer Zuständigkeit Polens für die Bearbeitung des Asylgesuchs des Antragstellers aus.
21
Die Zuständigkeit richtet sich, weil für den Antragsteller Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO einschlägig ist, nach den Regelungen über das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 ff. Dublin III-VO. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof vom 2. April 2019 (C-582/17 und C-583/17 – juris) muss im Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 23 Abs. 1
22
Dublin III-VO vom ersuchenden Staat nicht geprüft werden, ob der ersuchte Staat selbst zuständig ist. Anders als im Aufnahmeverfahren nach Art. 21, Art. 22 Dublin III-VO ist es nicht erforderlich, dass die Zuständigkeit des ersuchten Staates nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO geklärt ist. Der ersuchende Staat muss gerade nicht selbst in die Prüfung einsteigen, wer für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags nach Art. 8 bis 15 Dublin III-VO zuständig ist. Eine Rücküberstellung im Wiederaufnahmeverfahren erfolgt vielmehr zur Durchführung des Zuständigkeitsverfahrens im ersuchten Staat, ohne dass dessen eigene Zuständigkeit feststehen muss. Ausreichend ist vielmehr, dass dieser Mitgliedstaat den Erfordernissen nach Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis d) Dublin III-VO genügt (vgl. zum Ganzen EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 54 ff.; so auch aus neuerer Zeit: VG Düsseldorf, B.v. 12.4.2024 – 29 L 776/24.A – juris Rn. 7 ff.; VG Greifswald, B.v. 19.7.2023 – 3 B 645/22 HGW – juris; VG Berlin, B.v. 13.6.2023 – 39 L 299/23 A – juris; VG Köln, B.v. 7.6.2023 – 6 L 858/23.A – juris; VG Würzburg, U.v. 6.6.2023 – W 1 K 22.50348 – juris; VG Ansbach, B.v. 16.2.2024 – AN 17 S 24.50087 – juris Rn. 19; B.v. 28.3.2023 – AN 17 S 23.50155 – juris). Der Europäischen Gerichtshof macht hiervon zwar eine Ausnahme für Fälle, in denen offensichtlich die Zuständigkeit des ersuchenden Staates gegeben ist. In einem solchen Fall hat die Rückführung des Antragstellers zu unterbleiben und hat der ersuchende Staat seine Zuständigkeit sogleich anzuerkennen (EuGH, U.v. 2.4.2019 – C 582/17, C-583/17 – juris Rn. 83 ff., Ls. 3). Andernfalls entstünde ein vermeidbares und uneffektives Hin- und Herverschieben von Asylantragstellern (VG Ansbach, U.v. 28.6.2021 – AN 17 K 19.50954 – juris).
23
Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf Polen erfüllt, ein Ausnahmetatbestand im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs liegt nicht vor.
24
Der Antragsteller hat zur Überzeugung des Gerichts vor seiner Asylantragstellung in Deutschland einen Asylantrag in Polen gestellt. Dies folgt maßgeblich aus dem EURODAC-Treffer der Kategorie 1 vom 27. Mai 2024 in … (vgl. Art. 24 Abs. 4, Art. 9 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 (sog. Eurodac-Verordnung), wobei es sich um ein Beweismittel im Rahmen der Rückübernahmeverpflichtungen der Art. 18 Abs. 1 Buchst. b), c) und d) Dublin III-VO handelt (vgl. VO (EG) Nr. 1560/2003, Anhang II, Verzeichnis A Beweise, II Nr. 2)) sowie auch den eigenen Angaben des Antragstellers. Zudem haben die polnischen Behörden das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin auf Basis des Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO vom 1. Juli 2024 am 3. Juli 2024 akzeptiert (auch dies ist ein Beweismittel i.S.d. VO (EG) Nr. 1560/2003, Anhang II, Verzeichnis A Beweise, II Nr. 2). Soweit der Antragsteller vorbringt, er habe in Polen gar keinen Asylantrag stellen wollen und kundgetan, nach Deutschland weiterreisen zu wollen sowie dass er gezwungen worden sei, Fingerabdrücke abzugeben, ist dies zu unsubstantiiert, um die vorliegenden Beweismittel zu entkräften. Das Wiederaufnahmegesuch wurde schließlich fristgerecht gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO durch die Antragstellerin übermittelt.
25
Eine offensichtliche Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland nach der Rechtsprechung des EuGH (s.o.) ist nicht gegeben. Zwar leben zwei Söhne, zwei Töchter und der Bruder des Antragstellers in Deutschland, jedoch sind diese allesamt volljährig und ist nicht in substantiierter Weise ein Abhängigkeitsverhältnis vorgetragen. Es ergibt sich also keine Zuständigkeit Deutschlands aus den Art. 8 ff. Dublin III-VO. Für Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null spricht hier nicht genug.
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c) Der Zuständigkeit Polens stehen auch nicht Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO entgegen.
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Nach dieser Norm ist ein Mitgliedstaat, in dem ein Drittstaatsangehöriger einen Schutzantrag gestellt hat, dazu verpflichtet, die Zuständigkeitsprüfung fortzusetzen, wenn es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zunächst zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen. Kann unter diesen Voraussetzungen an keinen anderen zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
28
Das polnische Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen weisen keine systemischen Schwachstellen auf, die für den Antragsteller die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK mit sich brächten.
29
Nach dem System der normativen Vergewisserung (siehe dazu BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (siehe dazu EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10 – juris Rn. 75 ff.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 80 ff.) gilt die Vermutung, dass die Behandlung von Asylbewerbern in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine unwiderlegliche Vermutung; vielmehr obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Antragsteller nicht an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn das dortige Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber systemische Mängel aufweisen, die regelhaft so defizitär sind, dass sie im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bergen (EuGH, U.v. 21.12.2011 – N.S., C-411/10, C-493/10 – NVwZ 2012, 417; BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16/18 – juris Rn. 37). Ein systemischer Mangel liegt jedoch nur dann vor, wenn er im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt ist oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägt. Derlei Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalshaft, sondern lassen sich wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 9).
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist bei der Prüfung, ob eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens in den an sich zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung birgt, aber nicht nur in den Blick zu nehmen, ob diese Gefahr im Rahmen des Asylverfahrens droht, sondern auch, ob nach einer etwaigen Anerkennung als Asylberechtigter eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 87 ff.).
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An die Feststellung systemischer Mängel sind hohe Anforderungen zu stellen. So fallen Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der genannten Konvention verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt. Dies wird erst dann anzunehmen sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot und Seife“), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f.; s.a. BayVGH, U.v. 11. Juli 2024 – 24 B 24.50010 – Rn. 21).
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Bei Anlegung dieses Maßstabs ergeben sich mit Blick auf das dem Gericht gegenwärtig vorliegende Erkenntnismaterial keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller bei einer Überstellung nach Polen wegen dort bestehender systemischer Schwachstellen im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen oder im Falle einer etwaigen Anerkennung als international Schutzberechtigter eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh drohen würde. Es wird insoweit gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf die Gründe des Bescheids vom 10. Juli 2024 Bezug genommen, welcher sich in vertiefter Weise mit dem Nichtvorliegen systemischer Mängel im polnischen Asylverfahren auseinandersetzt. Ergänzend wird auch im Hinblick auf die sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ergebende aktuelle Auskunftslage für Polen wie folgt ausgeführt:
33
aa) In Polen besteht ein mehrstufiges Asylverfahren mit administrativen und gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. Befindet sich ein Dublin-Rückkehrer in einem laufenden Asylverfahren oder wurde sein Verfahren zwar eingestellt, kann aber binnen neun Monaten nach Einstellung wiedereröffnet werden (ansonsten Folgeantrag), wird der Rückkehrer meist an eine offene Aufnahmestelle des Ausländeramtes verwiesen, wo er versorgt wird, was insbesondere soziale Unterstützung, medizinische Versorgung und Unterbringung umfasst. Stellt der Rückkehrer einen Erstantrag auf internationalen Schutz, durchläuft er zunächst die Erstaufnahme. Wurde ohne Schuld des Antragstellers nach sechs Monaten noch keine Entscheidung in seinem Asylverfahren getroffen, hat dieser zudem unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das polnische Ausländeramt ist zuständig für die Versorgung der Asylwerber in Polen. Auf der Webseite der Behörde ist eine Liste mit mehr als 20 Organisationen verfügbar, welche Asylwerbern verschiedenste Hilfestellung bieten, teils auch rechtliche Beratung im Asylverfahren. Für das „zweitinstanzliche“ Verfahren wird neben der Rechtsberatung sogar eine Rechtsvertretung, etwa durch einen Rechtsanwalt oder eine NGO, zur Verfügung gestellt. Nach Antragstellung besteht das Recht auf Versorgung in einem Erstaufnahmezentrum. Es gibt zwei Formen von materiellen Aufnahmebedingungen. Die Asylwerber können in einem Aufnahmezentrum wohnen oder finanzielle Unterstützung erhalten, welche die Kosten für die private Unterbringung decken soll. Asylwerber, die in einem Zentrum leben, erhalten Unterkunft, Mahlzeiten, Taschengeld (PLN 50/EUR 11,65/Monat), Geld für Hygieneartikel (PLN 20/EUR 4,66/Monat) und eine Einmalzahlung für Bekleidung (PLN 140/EUR 32,62). Ende 2023 gab es 9 Aufnahmezentren mit einer Kapazität von 1.479 Plätzen in Polen; diese waren nicht überfüllt. Asylwerber, die außerhalb der Zentren leben, erhalten PLN 25/EUR 5,82/Tag für eine Einzelperson als finanzielle Beihilfe. Beide Gruppen erhalten einen Polnisch-Sprachkurs und Unterrichtsmaterialien, Unterstützung für Schulkinder (und außerschulische Aktivitäten), Geld für notwendige Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und medizinische Versorgung. Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen sind entsprechend unterzubringen. Spezielle Unterbringungsbedürfnisse bestehen, wenn eine behindertengerechte Unterbringung, eine Unterbringung in einem Einzelzimmer für alleinstehende Frauen mit Kindern, eine Unterbringung in einer medizinischen (Pflege-)Einrichtung (auch aus psychologischen Gründen) oder die Beachtung angepasster Ernährung erforderlich ist. Die Identifizierung von vulnerablen Gruppen geschieht durch die Grenzwache bei der Registrierung des Asylantrags bzw. durch die Asylbehörde. Als vulnerabel gelten in Polen laut Gesetz Minderjährige, Behinderte, Alte, Schwangere, Alleinerziehende, Opfer von Menschenhandel, ernsthaft Kranke, psychisch Beeinträchtigte, Folteropfer und Opfer psychischer, physischer bzw. sexueller Gewalt. Die Behörde ist verpflichtet, bei Verfahren von Angehörigen dieser Gruppen unmittelbar nach Antragstellung bzw. zu jedem Zeitpunkt im Verfahren, zu prüfen, ob sie spezielle Bedürfnisse haben. Dazu kann die Behörde eine medizinische oder psychologische Untersuchung des Antragstellers veranlassen. Seit Juni 2019 wird jeder Asylwerber, der den sogenannten epidemiologischen Filter (medizinische Eingangsuntersuchung) durchläuft, auch einem Vulnerabilitätsscreening unterzogen. Vulnerable Antragsteller genießen besondere Verfahrensgarantien, etwa, dass bei Bedarf ein Psychologe oder Arzt an Verfahrensschritten teilnimmt. Ebenso wird die Vulnerabilität bei den Aufnahmemodalitäten berücksichtigt. Asylwerber in Polen haben ab Registrierung ihres Asylantrags (in Notfällen schon ab Asylantragstellung) das gesetzlich garantierte Recht auf medizinische Versorgung im selben Ausmaß wie versicherte polnische Staatsbürger. Dieses Recht besteht auch dann weiter, wenn die materielle Versorgung, aus welchen Gründen auch immer, reduziert oder eingestellt wird. Die medizinische Versorgung von Asylwerbern wird öffentlich finanziert. Sie wird über die Krankenreviere der Unterbringungszentren gewährleistet, in denen Ärzte und Krankenschwestern medizinische Hilfe leisten und umfasst auch spezialisierte Behandlungen, psychologische Betreuung und zahnärztliche Versorgung. (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Polen, Version 4, 28.06.2024, S. 2 ff. [im Folgenden BFA Österreich]; AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S.12 ff.)
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bb) Nach Erhalt der Entscheidung über die Schutzgewährung dürfen die Betroffenen für die Dauer von höchstens zwei Monaten in einer Unterbringungseinrichtung für Asylbewerber verbleiben. Sie genießen volle Niederlassungsfreiheit in ganz Polen, wenngleich sich die Wohnungssuche aufgrund des generellen, d.h. sowohl für Schutzberechtigte wie auch für polnische Staatsbürger bestehenden Mangels an Wohnraum und Sozialwohnungen oftmals schwierig gestaltet und die Situation im Jahr 2022 zusätzlich durch den Zuzug von Menschen aus der Ukraine im Rahmen des Ukrainekonflikts erschwert wurde. Teilnehmer des zwölfmonatigen „Individual Integration Programme (IPI)“ können den Bezirk ihres Aufenthaltes jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen ändern (etwa Arbeitsstelle in anderer Region mit der Möglichkeit einer Unterkunft, Familienzusammenführung, medizinische Gründe). Die Stadt Warschau, in der die meisten Schutzberechtigten leben, unterhält neben der Möglichkeit, sich im herkömmlichen Wege um eine Kommunalwohnung zu bewerben, ein spezielles Programm „geschützter Wohnungen“ für Fremde in Integrationsprogrammen, welche in der Regel für 12 Monate vergeben werden. Darüber hinaus gab es in Warschau jedenfalls bis einschließlich 2023 das Programm „housing contest“, im Rahmen dessen sich anerkannte Schutzberechtigte, die das „Individual Integration Programme (IPI)“ durchlaufen haben und ansonsten keine Wohnung bekommen konnten, an einem Wettbewerb beteiligen können mit dem „Preis“, eine Empfehlung für eine kommunale Wohnung zu bekommen. Die Auswahl nimmt eine Kommission vor. Neben Warschau bieten teils auch andere Städte wie Danzig oder Lublin spezielle Programme zur Wohnungssuche für Ausländer an. Schutzberechtigte haben in Polen vollen Zugang zum Arbeitsmarkt, es besteht keine Differenzierung zwischen anerkannten Flüchtlingen oder subsidiär Schutzberechtigten, wobei sich in der Praxis die mangelnde Sprachkompetenz und die (Anerkennung der) Qualifikation vieler Schutzberechtigter als Problem darstellt. Innerhalb von 60 Tagen ab Statuszuerkennung besteht die Möglichkeit, die Teilnahme an dem zwölfmonatigen „Individual Integration Program“ (IPI), welches verschiedene Integrationshilfen wie etwa eine Beihilfe für die Teilnahme an Polnisch-Sprachkursen, die Übernahme der Kosten für eine Krankenversicherung, Sozialberatung, Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche sowie finanzielle Unterstützungsleistungen – 1.376 PLN/318,79 EUR/Monat für eine Einzelperson in den ersten sechs Monaten und 1238 PLN/286,82 EUR/Monat für eine Einzelperson in den zweiten sechs Monaten – umfasst, zu beantragen. Sozialarbeiter bieten im Rahmen des IPI Unterstützung bei der Zusammenstellung der erforderlichen Unterlagen für die Registrierung als arbeitssuchend, der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten sowie der Kontaktaufnahme zu potentiellen Arbeitgebern an. Schutzberechtigte verfügen des Weiteren im selben Maße wie auch polnische Staatsbürger über Zugang zum polnischen Sozialsystem und können Sozialhilfe erhalten, wenn gewisse Einkommensgrenzen nicht überschritten werden. Ebenfalls besteht Zugang zu verschiedenen Familienbeihilfen, wie finanzielle Unterstützung zu Beginn des Schuljahres oder für kinderreiche Familien. Im Hinblick auf die medizinische Versorgung stehen Schutzberechtigten dieselben Leistungen wie polnischen Staatsbürgern zu, was allerdings in der Regel das Bestehen einer Krankenversicherung voraussetzt. International Schutzberechtigte (und deren Familienangehörige) besitzen eine befristete Aufenthaltserlaubnis und erhalten somit auch unversichert Zugang zu den öffentlichen Gesundheitsdiensten, solange ihr Einkommen den Vorgaben des Gesetzes über Sozialhilfe entspricht. Schutzberechtigte im Integrationsprogramm IPI sind zudem im Rahmen dieses Programms für die Dauer des IPI durch die öffentliche Hand in der nationalen Krankenkasse versichert; anschließend muss die Krankenversicherung durch den Arbeitgeber, ein regionales Jobcenter des Sozialhilfezentrums oder aber durch den Betroffenen selbst bezahlt werden. Personen unter 18 Jahren haben stets Zugang zu medizinischer Versorgung, die in ihrem Fall voll vom Staat übernommen wird. Schülern unter 19 Jahren steht zudem Zugang zur präventiven Gesundheitsvorsorge zu. Die polnische Krankenversicherung deckt – mit Ausnahme einiger Zahnbehandlungen und bestimmter Medikamentenkosten sowie der Altenpflege – die meisten medizinischen Behandlungen, unter anderem auch Facharztbehandlungen, Impfungen und Krankentransporte, ab. Als größte Hürde für den Zugang zu medizinischer Versorgung gelten sprachliche und kulturelle Barrieren. Andere Herausforderungen – wie etwa lange Wartezeiten bei Fachärzten sowie teure Privatleistungen und Medikamente – treffen Schutzberechtigte und polnische Staatsangehörige gleichermaßen. Humanitär Aufenthaltsberechtigte und Geduldete haben hingegen lediglich Zugang zu Unterbringung, Verpflegung und speziell gewidmeten Leistungen (vgl. zum Ganzen: BFA Österreich, S. 13 ff.; AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S. 117 ff.).
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cc) Nach alldem bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller als gesundem Mann im mittleren Alter bei einer Überstellung nach Polen wegen dort bestehender systemischer Mängel im Asylverfahren, in den Aufnahmebedingungen oder im Falle einer etwaigen Anerkennung als international Schutzberechtigter eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. An dieser Einschätzung ändert nichts, dass über Pushbacks und Inhaftierungen von Asylbewerbern an Grenze zu Belarus berichtet wird (AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S. 19 ff., 57, 73 ff., 83 ff.), die den Antragsteller als Dublin-Rückkehrer aber nicht betreffen, da er naturgemäß nicht über die Grenze von Belarus zu Polen zurückgeführt würde.
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Diese Annahme steht mit Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. aus neuerer Zeit etwa: VG Kassel, U.v. 22.4.2024 – 7 K 1423/23.KS.A – juris; VG Bremen, U.v. 12.12.2023 – 3 K 107/23 – juris Rn. 27 ff.; VG München, B.v. 10.10.2023 – M 10 S 23.50893 – juris Rn. 19 f.; VG Berlin, B.v. 6.4.2023 – 33 L 54/23 A – juris; VG Stade, B.v. 16.12.2022 – 2 B 1739/22 – juris; VG Bayreuth, B.v. 15.12.2022 – B 9 S 22.50233 – juris; VG Karlsruhe, B.v. 24.10.2022 – A 19 K 2557/22 – juris; VG Hamburg, B.v. 22.8.2022 – 9 AE 3047/22 – juris; VG Köln, B.v. 7.10.2022 – 18 L 1388/22.A – juris Rn. 38 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 10.8.2022 – 12 L 1303/22.A – juris; VG Magdeburg, B.v. 4.8.2022 – 3 B 218/22 MD – juris; VG Minden, B.v. 2.8.2022 – 12 L 548/22.A – juris; VG Dresden, B.v. 27.6.2022 – 3 L 397/22.A – juris) sowie der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Ansbach (vgl. VG Ansbach, B.v. 26.8.2024 – AN 18 S 24.50587 – n.v.; B.v. 22.1.2024 – AN 18 S 22.50404 – juris; B.v. 25.10.2021 – AN 18 S 21.50164 – juris; B.v. 20.7.2021 – AN 18 S 20.50221 – juris) in Einklang.
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Schließlich führt zu keiner anderen Beurteilung die derzeit fortdauernde Kriegslage in der Ukraine und die sich hieraus ergebenden Flüchtlingsbewegungen nach Polen. Zwar hat sich die Situation für Flüchtlinge nach Beginn des Ukrainekrieges infolge des Zustroms einer Vielzahl ukrainischer Flüchtlinge nach Polen verschärft; dennoch geht das Gericht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Polen nicht regelhaft so defizitär sind, dass Flüchtlingen dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. So ist nicht ersichtlich, dass Polen seine Pflichten im Rahmen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen nicht mehr ordnungsgemäß erfüllen könnte, zumal Polen wie auch andere Mitgliedstaaten Unterstützung bei der Deckung des Bedarfs für Flüchtlinge erhält (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1946). Zudem müssen Schutzsuchende aus der Ukraine aufgrund des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der RL 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes kein üblicherweise vorgesehenes Asylverwaltungsverfahren durchlaufen, sondern können in einem vereinfachten Verwaltungsverfahren einen europaweit gültigen vorübergehenden Schutz mit entsprechendem Zugang zum Arbeitsmarkt und etwaigen Sozialleistungen erhalten. Die Aktivierung der RL 2001/55/EG vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (Massenzustrom-Richtlinie) soll eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten fördern (vgl. Art. 1 Massenzustrom-Richtlinie; ferner Erwägungsgründe 16 und 20 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 vom 4.3.2022; zum Ganzen vgl. VG München, B.v. 27.5.2022 – M 30 S 22.50276 – juris Rn. 27 ff.). Nach der aktuellen Länderinformation des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sieht das am 27. Juni 2023 überarbeitete Gesetz zur Unterstützung ukrainischer Bürger im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten vor, dass Ukrainer legal im Land bleiben können und gewährt das Recht auf Arbeit und freien Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung. Mit Stand 12. Dezember 2023 waren ca. 950.000 Ukrainer registriert, die sich im Rahmen des EU-Mechanismus für vorübergehenden Schutz in Polen befanden. Im Mai 2024 wurde der vorübergehende Schutz für ukrainische Staatsangehörige bis zum 30. September 2025 verlängert (BFA Österreich, S. 1). Auch enthält der zeitlich die Situation nach Beginn des Ukrainekriegs betreffende Teil des Berichts der Asylum Information Database (AIDA) keine Hinweise auf überfüllte Aufnahmeeinrichtungen (AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S. 62). Zudem hat Polen vorliegend mit Schreiben vom 3. Juli 2024 das gestellte Aufnahmegesuch fristgerecht beantwortet und der Aufnahme des Antragstellers ausdrücklich zugestimmt. Daher gilt zur Überzeugung des Gerichts nach wie vor die Vermutungswirkung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (so auch VG Kassel, U.v. 22.4.2024 – 7 K 1423/23.KS.A – juris; VG Bayreuth, B.v. 15.12.2022 – B 9 S 22.50233 – juris; VG Karlsruhe, B.v. 24.10.2022 – A 19 K 2557/22 – juris Rn. 35 ff.; VG Köln, B.v. 31.8.2022 – 22 L 913/22.A – juris Rn. 27 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 10.8.2022 – 12 L 1303/22.A – juris Rn. 92 ff.; VG München, B.v. 27.5.2022 – M 30 S 22.50276 – juris Rn. 27 ff.).
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Abschließend wird noch angemerkt, dass die jüngsten Äußerungen des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, das Asylrecht in Polen aussetzen zu wollen, ebenfalls keine andere Entscheidung rechtfertigen. Zum einen handelt es sich bislang um eine Ankündigung, für die noch keine Mehrheit im Parlament sicher ist (s. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-asylrecht-tusk-100.html, vom 12.10.2024; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/polen-donald-tusk-asylrecht-100.html, vom 15.10.2024). Zum anderen dürfte eine solche (gegen Europarecht verstoßende) Maßnahme im Schwerpunkt gegen die über die Grenze von Belarus zu Polen einreisenden Migranten gerichtet sein, die teils gezielt vom russischen und belarussischen Regime gelenkt werden (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/polen-donald-tusk-asylrecht-100.html, vom 15.10.2024). Die überschaubare Anzahl an Dublin-Rückkehrern nach Polen sind ganz überwiegend wahrscheinlich nicht Gegenstand der angekündigten Pläne der polnischen Regierung (im Jahr 2023 gab es 3907 Anfragen an Polen i.R.d. Dublin-Systems, überstellt wurden insgesamt 747 Personen, s. AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S. 33 f.).
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d) Besondere, die persönliche Situation des Antragstellers betreffende humanitäre Gründe, welche die Antragsgegnerin ausnahmsweise zu einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichten könnten, liegen nicht vor.
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Gemäß Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Dabei ist es grundsätzlich Sache des betreffenden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte, um zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (EuGH, U.v. 31.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 59). Dem Mitgliedstaat wird insoweit ein weites Ermessen eingeräumt (EuGH, U.v. 10.12.2013 – C-394/12 – juris Rn. 57; U.v. 31.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 60). Allerdings stellt sich die Entscheidung eines Mitgliedstaats über die Anwendung der in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Ermessensklausel als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC dar (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 53; U.v. 31.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 64), so dass insoweit die Unionsgrundrechte zu beachten sind, worunter auch Art. 7 GRCh mit dem Schutzbereich der Achtung des Familienlebens fällt. Dies greift wiederum Erwägungsgrund 14 der Dublin III-VO auf. Unabhängig von der Frage, ob insoweit überhaupt ein einklagbarer Rechtsanspruch des betroffenen Ausländers in Betracht kommt (dagegen etwa VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 39; Vollrath in Decker/Bader/Kothe, BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, 19. Ed., Stand: 1.7.2024, Art. 17 Rn. 4), so hat hier der Antragsteller bis auf die Tatsache, dass vier seiner volljährigen Kinder und ein volljähriger Bruder ebenfalls hier in Deutschland leben und er gerne mit ihnen zusammenleben würde, nichts vorgebracht, was eine Ermessensreduzierung auf Null stützen würde. Insbesondere ist nicht ansatzweise dargelegt, wie eng die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern ist und ob ein trotz der Volljährigkeit aufeinander Angewiesen sein vorliegt.
41
e) Schließlich stehen einer Abschiebung weder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die das Bundesamt im Rahmen der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG – „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“ – zu prüfen hat, noch zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG entgegen.
42
Zu den Äußerungen des polnischen Ministerpräsidenten Tusk zur Aussetzung des Asylrechts und deren Irrelevanz für eine Rückführung im Rahmen eines Dublin-Verfahrens s.o. unter II. 2. c) cc).
43
aa) Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ist nicht erkennbar. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG aus Gründen des Schutzes des Familienlebens zu dulden wäre. Denn es führt nicht jedwede familiäre Beziehung zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung. Dass es durch die Abschiebung des Antragstellers zu einer unzumutbaren Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft in Form einer Beistandsgemeinschaft kommt, ist weder aus dem Akteninhalt erkennbar noch seitens des Antragstellers dargelegt (vgl. Kluth/Breidenbach in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. 1.7.2024, § 60a AufenthG Rn. 15 ff.). Dazu tritt, dass der Antragsteller lediglich nach Polen zur Durchführung des Asylverfahrens überstellt würde. Die polnischen Behörden haben im Jahr 2023 durchschnittlich 120 Tage für eine Asylentscheidung in der Sache benötigt (AIDA, Country Report Poland, Update 2023, S.25 f.). Geht man zugunsten des Antragstellers davon aus, dass er asylberechtigt ist und mit Anerkennung in Polen Reisedokumente erhielte, wären nach einigen Monaten auch Besuche in Deutschland möglich.
44
bb) Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kommt ebenfalls nicht in Betracht. Wie bereits dargelegt, besteht für den Antragsteller bei einer Abschiebung nach Polen insbesondere mit Blick auf die dortigen Lebensumstände für Asylsuchende oder im Falle einer etwaigen Anerkennung als international Schutzberechtigter nicht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.
45
cc) Für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nichts ersichtlich oder vorgetragen.
46
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
47
4. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.