Titel:
Verfassungswidrigkeit des § 184b Abs. 3 Alt. 3 StGB (n. F.) und Voraussetzungen der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 StGB
Normenketten:
StGB § 184b Abs. 3 Alt. 3
GG Art. 100 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 184b Abs. 3 Alt. 3 nF StGB ist nach Überzeugung des Senates mit der für den Besitz kinderpornographischer Inhalte angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ohne Vorsehung eines minder schweren Falls mit dem aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Schuldgrundsatz (Übermaßverbot) unvereinbar und somit verfassungswidrig. (Rn. 9) (red. LS Alexander Kalomiris)
2. Eine an sich gebotene Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ist dann nicht veranlasst, wenn es auf die Gültigkeit der Norm bei der Entscheidung des über die Revision im Ergebnis nicht ankommt. Dies ist etwa der Fall, wenn bei einer Anfechtung nur des Rechtsfolgenausspruches Einzel- und Gesamtstrafenausspruch auch aus anderen Gründen aufzuheben sind, weil dann die Entscheidung des Senates in Tenor und Gründen bei Ungültigkeit der Norm nicht anders ausfallen würde als bei ihrer Gültigkeit. (Rn. 9) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Besitz kinderporonographischer Inhalte, Kinderpornographie, Übermaßverbot, minder schwerer Fall, verfassungswidrig, Richtervorlage, Vorlage an das Bundesverfassungsgericht, Beruhen, Ungültigkeit der Norm
Vorinstanzen:
LG Deggendorf, Urteil vom 26.06.2023 – 1 NBs 4 Js 2563/22
AG Deggendorf, Urteil vom 02.02.2023 – 1 Ls 4 Js 2563/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4041
Tenor
I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 26. Juni 2023 hinsichtlich der Verhängung der Einzelstrafe von 100 Tagessätzen (Tat vom 12. Juli 2022) sowie im Gesamtstrafenausspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Deggendorf zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Amtsgericht Deggendorf hat den Angeklagten mit Urteil vom 2. Februar 2023 wegen Besitzes eines kinderpornographischen Inhalts in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 1 Monat verurteilt. Gegenstand des Schuldspruchs nach § 184b Abs. 3 n. F. StGB war, dass auf dem iPhone 7 des Angeklagten am 12. Juli 2022 ein von ihm selbst gefertigter Screenshot mit kinderpornographischem Inhalt gespeichert war. Das Amtsgericht hat der Gesamtstrafe Einzelstrafen von 1 Jahr (Tat vom 12. Juli 2022) und jeweils 30 Tagesätzen (BtM-Taten) zugrunde gelegt.
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Die Berufung des Angeklagten wurde von diesem zu Protokoll der Berufungshauptverhandlung auf die wegen der Tat vom 12. Juli 2022 verhängte Strafe und den Gesamtstrafenausspruch beschränkt. Das Landgericht Deggendorf hat mit Urteil vom 26. Juni 2023 auf diese Berufung das Urteil des Amtsgerichts dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 70 € verurteilt wird und die Berufung im Übrigen verworfen. In den Entscheidungsgründen hat die Kammer ausgeführt, dass für die Tat vom 12. Juli 2022 der Strafrahmen von § 184b Abs. 3 a. F. StGB anzuwenden sei, weil die Staatsanwaltschaft die Anwendung dieses Strafrahmens auf die ebenfalls verwirklichte Tatvariante des Besitzverschaffens (die die Tatvariante des Besitzes verdrängt hätte) nur dadurch verhindert habe, dass sie diesen Tatvorwurf nach §§ 154, 154a StPO behandelt habe. In einem solchen Fall sei § 2 Abs. 2 und 3 StGB im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG einschränkend dahin auszulegen, dass die mildere Fassung anzuwenden ist, die bei Begehung der Besitzverschaffung, hinter der der Besitz als Auffangdelikt zurücktrete, galt. Hierfür sei eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen tat- und schuldangemessen. Die Bildung der Gesamtstrafe hat die Kammer nicht näher begründet, allerdings hinsichtlich der BtM-Taten ausgeführt, dass „für diese Tat … das Amtsgericht rechtskräftig eine Einzelstrafe von 30 Tagessätzen“ verhängt habe (UA S. 3).
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Mit ihrer Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Sie meint, dass die Anwendung des Strafrahmens des § 184b Abs. 3 a. F. StGB bei der Einzelstrafe für die Tat vom 12. Juli 2022 rechtlich nicht zulässig gewesen sei. Die einschränkende Auslegung des § 2 Abs. 2 StGB sei nicht tragfähig begründet und widerspreche außerdem dem Willen des Gesetzgebers. Darüber hinaus sei die Gesamtstrafenbildung auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht davon ausgegangen sei, dass für die BtM-Straftaten lediglich eine Einzelstrafe von 30 Tagessätzen verhängt worden sei, während in Wahrheit durch das insoweit rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts drei Einzelstrafen von jeweils 30 Tagessätzen festgesetzt worden seien. Das Rechtsmittel wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten.
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1. Infolge der wirksamen Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf die Einzelstrafe für die Tat vom 12. Juli 2022 und den Gesamtstrafenausspruch sind nur diese Gegenstand der revisionsgerichtlichen Überprüfung durch den Senat. Trotz des den gesamten Rechtsfolgenausspruch erfassenden Aufhebungsantrages der Staatsanwaltschaft entnimmt der Senat dem übrigen Revisionsvorbringen auch unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV, dass die Revision der Staatsanwaltschaft ebenfalls in diesem Umfang beschränkt und die übrigen Einzelstrafen nicht angegriffen sein sollten.
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2. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft erzielt in diesem Umfang (sowohl hinsichtlich der vorgenannten Einzelstrafe als auch der Gesamtstrafe) mit der Sachrüge einen mindestens vorläufigen Erfolg.
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a) Im Ergebnis zu Recht rügt die Staatsanwaltschaft zunächst die Anwendung des Strafrahmens aus § 184b Abs. 3 a. F. StGB auf die Bemessung der Einzelstrafe für die Tat vom 12. Juli 2022.
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Wie auch das Landgericht im Ausgangspunkt nicht verkennt (UA S. 4 unten), ist angesichts des Tatzeitpunktes des Besitzes kinderpornographischer Inhalte (12. Juli 2022) gemäß § 2 Abs. 2 StGB die seit 1. Juli 2021 geltende Fassung des § 184b Abs. 3 StGB samt dem dort vorgesehenen Strafrahmen anzuwenden (vgl. allgemein für Dauerdelikte: Fischer, StGB, 71. Aufl., § 2 Rdn. 3 m. w. N.). Dieses aus der Sicht des Berufungsgerichtes offenbar unerwünschte Ergebnis kann aufgrund der Gesetzesbindung auch der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht durch eine „einschränkende Auslegung“ des § 2 Abs. 2 StGB, die in dessen Wortlaut keinerlei Stütze findet, in ihr Gegenteil verkehrt werden (vgl. für den ähnlich gelagerten Sachverhalt der entsprechenden Anwendung von § 32 JGG nach einer Teileinstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO BGH, Beschluss vom 07.08.2019, 4 StR 189/19, BGHSt 64, 178ff.). Eine Sachbehandlung eines Teiles der Tatvorwürfe nach §§ 154 Abs. 1, 154a Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft haben der Angeklagte (und somit auch der Tatrichter) – abgesehen von hier offensichtlich nicht einschlägigen Fällen der Willkür wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung – hinzunehmen (vgl. dazu KG, Beschluss vom 31.05.2010, 1 VAs 40/09, zitiert nach juris, dort Rdn. 5 m. w. N.). Die Folge der Verfahrensbeschränkung hinsichtlich der den Besitz von kinderpornographischen Inhalten an sich verdrängenden Besitzverschaffung ist deshalb wie bei Verjährung der Vorwürfe aus dem verdrängenden Gesetz (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 04.02.2020, 5 StR 657/19, zitiert nach juris, dort Rdn. 4), dass aus dem verdrängten subsidiären Gesetz (hier also § 184b Abs. 3 Alt. 3 n. F. StGB) zu strafen ist.
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Die Wahl des falschen Strafrahmens führt zu einem durchgreifenden Rechtsfehler bei der Bemessung der Einzelstrafe, weil die Mindeststrafe nach dem anzuwendenden Strafrahmen des § 184b Abs. 3 n. F. StGB 1 Jahr beträgt. Der Wegfall der Einsatzstrafe entzieht auch der Gesamtstrafenbildung ihre Grundlage, so dass die Revision bereits deshalb in vollem Umfang Erfolg hat.
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b) Allerdings ist § 184b Abs. 3 Alt. 3 n. F. StGB auch nach Überzeugung des Senates mit der für den Besitz kinderpornographischer Inhalte angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ohne Vorsehung eines minder schweren Falls mit dem aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Schuldgrundsatz (Übermaßverbot) unvereinbar und somit verfassungswidrig (vgl. im Einzelnen AG Buchen, Vorlagebeschluss vom 01.02.2023, 1 Ls 1 Js 6298/21, zitiert nach juris, dort Rdn. 48ff.). Die damit an sich gebotene Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ist im vorliegenden Fall jedoch nicht veranlasst, weil es auf die Gültigkeit der vorgenannten Norm bei der Entscheidung des Senates über die Revision im Ergebnis nicht ankommt. Die Einzelstrafe und der Gesamtstrafenausspruch sind auch aus anderen Gründen aufzuheben (s. unten c), so dass die Entscheidung des Senates in Tenor und Gründen bei Ungültigkeit der Norm nicht anders ausfallen würde als bei ihrer Gültigkeit (vgl. Sieckmann/Kessal-Wulf in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl., Art. 100 Rdn. 39f.).
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c) Die Bestimmung der Einzelstrafe für die Tat vom 12. Juli 2022 (UA S. 5) ist auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil die Kammer nicht bedacht hat, dass die nach § 154a Abs. 1 StPO behandelte Besitzverschaffungshandlung, die der Angeklagte ebenfalls eingeräumt hat (UA S. 3), zu seinen Lasten bei der Strafzumessung hätte berücksichtigt werden müssen (vgl. Fischer, StGB, 790. Aufl., § 46 Rdn. 41 m. w. N.). Derartige Handlungen haben auch nicht unerhebliches Gewicht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt (UA S. 4f.), so dass der Senat nicht auszuschließen vermag, dass es bei Berücksichtigung dieses Umstandes eine höhere Einzelstrafe festgesetzt hätte.
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Wie die Staatsanwaltschaft weiterhin mit Recht rügt, hat das Landgericht schließlich gegen die Bindungswirkung der amtsgerichtlichen Entscheidung infolge der Berufungsbeschränkung verstoßen, indem es der Gesamtstrafenbildung lediglich eine für die BtM-Taten verhängte Einzelstrafe von 30 Tagessätzen zugrunde gelegt hat. Das Amtsgericht hat jedoch drei Einzelstrafen zu je 30 Tagessätzen festgesetzt. Da aufgrund der Höhe der verhängten Gesamtgeldstrafe nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese auch auf diesem Rechtsfehler beruht, hatte die Revision auch deshalb Erfolg.
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1. Das angefochtene Urteil war daher im angefochtenen Umfang einschließlich der zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO).
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2. Die Sache war nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Deggendorf zurückzuverweisen.
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Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Gesetzgeber eine erneute Änderung des § 184b Abs. 3 StGB beabsichtigt (Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 16. November 2023). Danach soll die Mindeststrafe auf 3 Monate herabgesetzt werden. Nach Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes wäre dieses auch im vorliegenden Fall anzuwenden (§ 2 Abs. 3 StGB). Ansonsten würde die nunmehr zur Entscheidung berufene Kammer zu prüfen haben, ob aus ihrer Sicht die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG vorliegen (vgl. oben II.2b).