Titel:
Berufsunfähigkeitsversicherung: Verweisung im Nachprüfungsverfahren – Anknüpfungspunkt für zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit bei Erbringung von Pflegeleistungen
Normenketten:
VVG § 174
BB-BUZ § 2, § 5, § 7
SGB XI § 19 S. 1
SGB VI § 1 S. 1 Nr. 1, § 3 S. 1 Nr. 1a
Leitsatz:
Zur Frage der Möglichkeit einer (konkreten) Verweisung einer Reinigungskraft in einem Kindergarten und Kurierfahrerin auf eine Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin "ohne jede zusätzliche Qualifikation" sowie zur Frage des zuletzt ausgeüten Berufs bei vom Versicherten neben einer Teilzzeittätigkeit nicht erwerbsmäßig für einen Angehörigen erbrachten Pflegeleistungen iSv § 19 S. 1 SGB XI (s. insoweit OLG Nürnberg BeckRS 2023, 43714 Rn. 23 ff.). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufsunfähigkeitsversicherung, konkrete Verweisung, Nachprüfungsverfahren, Einstellungsmitteilung, Änderungsmitteilung, Pflegeleistungen
Vorinstanzen:
OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss vom 15.12.2023 – 8 U 1646/23
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 11.07.2023 – 20 O 6997/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3998
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 11.07.2023, Aktenzeichen 20 O 6997/22, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1. genannte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 46.172,48 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Parteien streiten über Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, die die Klägerin seit dem Jahre 2003 gemeinsam mit einer Kapitallebensversicherung bei der Beklagten unterhält (Anlagenkonvolut K 1, Seiten 5 ff.).
2
Die Zusatzversicherung läuft bis zum 01.10.2024. Ihr liegen die Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BB-BUZ; Anlagenkonvolut K 1, Seiten 27 ff.) zugrunde. Abweichend von § 2 Nr. 1 BB-BUZ haben die Parteien Folgendes vereinbart:
Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen mindestens zu 50% außerstande ist, ihren Beruf auszuüben. Dies gilt nicht, wenn die versicherte Person eine andere, ihrer Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausübt.
Die in den Bedingungen für die R..-Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung enthaltenen Regelungen zur Verweisbarkeit auf eine nicht tatsächlich ausgeübte Tätigkeit finden keine Anwendung, insbesondere gelten § 2 Ziffer 2 und 4 der Bedingungen für die R...-Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung nicht.
Bei der Nachprüfung der Berufsunfähigkeit (§ 7 Ziffer 1) werden neuerworbene Fähigkeiten in einem tatsächlich ausgeübten Beruf berücksichtigt.
3
Für den Fall der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit sind die Zahlung einer jährlichen Berufsunfähigkeitsrente von 9.600,00 € sowie die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht für Haupt- und Zusatzversicherung vereinbart. Die Jahresprämie für die gesamte Versicherung betrug bei Vertragsbeginn 1.184,99 €.
4
Im Juli 2019 zeigte die Klägerin gegenüber der Beklagten eine eingetretene Berufsunfähigkeit an (Anlage B 1). Mit Schreiben vom 31.10.2019 erkannte die Beklagte eine seit dem 01.05.2018 bestehende Berufsunfähigkeit an (Anlage K 2) und erbrachte die vertraglichen Leistungen bis einschließlich März 2020. Unter dem 07.01.2020 teilte die Beklagte der Klägerin schriftlich mit, dass sie ihre Leistungen ab dem 01.04.2020 einstelle (Anlage K 3). Begründet wurde dies mit einer Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin bei der Fa. Ra.., die die Klägerin seit dem 01.10.2019 in Vollzeit ausübt.
5
Die Klägerin hält die Beklagte für weiterhin leistungspflichtig.
6
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
7
Das Landgericht hat die zuletzt auf Zahlung von rückständiger Berufsunfähigkeitsrente von 25.600,00 € (für April 2020 bis November 2022), Zahlung weiterer Rente von monatlich 800,00 €, Feststellung der Freistellung von der Beitragszahlungspflicht und Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.728,48 € gerichtete Klage ohne Beweisaufnahme vollständig abgewiesen. Es hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Klägerin in der Lage sei, eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden könne und ihrer bisherigen Lebensstellung entspreche. Die Klägerin müsse sich auf ihre aktuelle Tätigkeit verweisen lassen.
8
Dieses Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 11.07.2023 zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufung ging am 11.08.2023 beim Oberlandesgericht Nürnberg ein (Bl. 1 f. d.A. – OLG). Das Rechtsmittel wurde innerhalb verlängerter Frist mit einem am 11.10.2023 eingegangenen Schriftsatz begründet (Bl. 8 ff. d.A. – OLG).
9
Die Klägerin beantragt im Berufungsrechtszug, das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 11.07.2023, Aktenzeichen 20 O 6997/22, aufzuheben und wie folgt zu erkennen:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin aus der Berufsunfähigkeitsversicherung, Versicherungs-Nr. 70 .., Leistungen in Höhe von monatlich 800,00 € längstens bis zum 30.09.2024 zu zahlen, zahlbar monatlich im Voraus bis zum 3. Werktag eines Monats.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für den Zeitraum vom 01.04.2020 bis 30.11.2022 eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von € 800,00 (gesamt € 25.600,00) jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB
seit dem 04.04.2020 aus € 800,00
seit dem 05.05.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.06.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.07.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.08.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.09.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.10.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.11.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.12.2020 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.01.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.02.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.03.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.04.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.05.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.06.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.07.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.08.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.09.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.10.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.11.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.12.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.01.2022 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.02.2022 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.03.2022 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.04.2022 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.05.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.06.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.07.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.08.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.09.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 05.10.2021 aus weiteren € 800,00
seit dem 04.11.2021 aus weiteren € 800,00 zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin ab dem 01.12.2022 von der Beitragszahlungspflicht für die Berufsunfähigkeitsversicherung freizustellen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.728,48 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB ab Rechtshängigkeit zu bezahlen.
10
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
11
Sie verteidigt das angegriffene Urteil mit ihrer Erwiderung vom 11.12.2023 (Bl. 20 ff. d.A. – OLG).
12
Mit Beschluss vom 15.12.2023 hat der Senat darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung mangels Erfolgsaussicht zurückzuweisen (Bl. 28 ff. d.A. – OLG). Hierzu hat die Klägerin mit Schriftsätzen vom 29.01.2024 und 30.01.2024 Stellung genommen (Bl. 41 ff. d.A. – OLG).
13
1. Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 11.07.2023, Aktenzeichen 20 O 6997/22, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
14
Zur Begründung wird gemäß § 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 15.12.2023 Bezug genommen. Die Ausführungen in der Gegenerklärung der Klägerin vom 29.01.2024 wurden zur Kenntnis genommen und geprüft. Sie geben zu einer Änderung in der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Berufung jedoch keinen Anlass.
Ergänzend ist auszuführen:
15
a) Die Gegenerklärung verkennt abermals, dass es nicht auf den von der Klägerin erlernten Beruf ankommt, sondern auf die unmittelbar vor Eintritt der Berufsunfähigkeit – mithin im April 2018 – ausgeübte Tätigkeit.
16
b) Warum die – hypothetischen – Kosten einer Pflege der Schwiegermutter durch externe Kräfte oder in einem Heim dem Ehemann der Klägerin zur Last gefallen wären, erschließt sich für den Senat nicht. Im Übrigen lässt auch diese Überlegung die ehrenamtliche Pflegetätigkeit der Klägerin nicht als einen versicherten Beruf erscheinen.
17
Die Feststellungen des Landgerichts zur maßgeblichen Tätigkeit in gesunden Tagen (LGU 9) sind mit der – fristgebundenen – Berufungsbegründung nicht angegriffen worden (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO). Dort hatte die Klägerin erklärt, sich gegen diese Auffassung des Erstgericht nicht wenden zu wollen (Seite 2). Sofern dies nunmehr mit der Gegenerklärung erfolgt, ist dieser Einwand als verspätet zurückzuweisen (§§ 530, 296 Abs. 1 ZPO). Es entsprach ordnungsgemäßer Prozessführung, die nunmehr geltend gemachten Umstände innerhalb der Berufungsbegründungsfrist vorzubringen. Dies ist nicht erfolgt, ohne dass Entschuldigungsgründe ersichtlich sind. Die Sache ist entscheidungsreif. Eine Zulassung des Vortrags würde die Erledigung des Berufungsverfahrens verzögern.
18
c) Die Ausführungen der Gegenerklärung zur erforderlichen Qualifikation und zum sozialen Prestige der zu vergleichenden Tätigkeiten rechtfertigen keine andere Sichtweise als sie der Senat in seinem Hinweisbeschluss auf Seiten 6 bis 8 dargelegt hat.
19
Es stellt das landgerichtliche Urteil schließlich auch nicht in Frage, dass die Klägerin geltend macht, sie habe die Verweisungstätigkeit nur aufgenommen, weil ihr Ehemann seit mehr als einem Jahr erkrankt sei und nur mit dem Krankengeld zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitrage. Zum einen übt die Klägerin die Tätigkeit bei der Fa. Ra... seit dem 01.10.2019 aus, also weit vor der behaupteten Erkrankung des Ehemannes. Darüber hinaus ließe auch eine derartige Motivation den Wegfall der Leistungspflicht des Versicherers nicht als unbillig erscheinen. Die Berufsunfähigkeitsversicherung soll die finanziellen Nachteile, die mit dem Ausfall oder einer wesentlichen Einschränkung der Arbeitskraft regelmäßig einhergehen, ausgleichen und helfen, einen sozialen Abstieg des Versicherten im Berufsleben und in der Gesellschaft zu verhindern. Das Risiko einer Erkrankung des nicht mitversicherten Ehemannes wird davon hingegen nicht gedeckt.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10, 709, 711 ZPO.
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3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1, 43 Abs. 1 GKG, § 9 ZPO bestimmt. Neben den eingeklagten Rückständen sind die zukünftige Rente und die Beitragsfreistellung für den geltend gemachten Zeitraum, d.h. bis zum vertraglichen Ende der Zusatzversicherung, zu berücksichtigen.