Inhalt

VGH München, Urteil v. 04.03.2024 – 24 B 22.30376
Titel:

zum Umfang der personellen Prognosebasis bei unzulässigem Asylantrag

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 35
Rückführungs-RL Art. 3 Nr. 3, Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 2
Verfahrens-RL Art. 33 Abs. 2
Aufnahme-RL Art. Art. 21
GRCh Art. 4, Art. 7
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsätze:
1. Bei der Prüfung, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig ist, weil der Drittstaatsangehörige im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt ist, nach seiner Rückkehr in den Mitgliedstaat, der ihm in der Vergangenheit internationalen Schutz gewährt hat, eine Behandlung zu erfahren, die mit seinen Grundrechten nach der EU- 2 - Grundrechtecharta – insbesondere Art. 4 GRCh – unvereinbar ist, ist eine Prognose vorzunehmen. In personeller Hinsicht sind in diese Gefahrenprognose grundsätzlich nur der oder die Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung einzustellen, nicht aber andere Personen (Familienangehörige), denen in der Bundesrepublik ein Schutzstatus zuerkannt, zu deren Gunsten nationaler Abschiebungsschutz festgestellt oder deren Aufenthalt aus anderen Gründen derzeit erlaubt ist. In gleicher Weise ist die Prognose vorzunehmen, wenn anlässlich einer Unzulässigkeitsentscheidung das Vorliegen eines nationalen Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des schutzgewährenden Mitgliedstaats geprüft wird. (Rn. 27 – 31)
2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr als Familienverband im Rahmen der Prüfung von nationalen Abschiebungsverboten in den Herkunftsstaat ist weder auf die Prüfung nach Art. 4 GRCh i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG noch auf die Prüfung eines nationalen Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des schutzgewährenden Mitgliedstaats zu übertragen. (Rn. 37 – 38 und 50 – 54)
3. Eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) erfasst wegen Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Rückführungsrichtlinie auch Abschiebungsandrohungen, die nach § 35 AsylG einen Mitgliedstaat der Europäischen Union als Zielstaat nennen. Entsprechend dient die Änderung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG durch Art. 2 Nr. 9 Buchst. b des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54)) auch der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie, so dass bei dessen Auslegung die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 5 Rückführungsrichtlinie zu beachten ist. (Rn. 58 – 60)
dddddd (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Rückführungsverbesserungsgesetz, Sekundärmigration (Italien), anerkannt Schutzberechtigte, maßgebliche personelle Rückkehrsituation für die Prognose nach Art. 4 GRCh, Berücksichtigung von Familienmitgliedern mit Aufenthaltstitel bei der Rückkehrprognose (abgelehnt), Anforderungen an das Vorliegen von Vulnerabilität; Kindeswohl als Hindernis einer Abschiebungsandrohung, Unzulässigkeitsentscheidung, Rückkehrentscheidung, Abschiebungsverbot, wirtschaftliche Prognose, personelle Prognose, Familienverband, Sekundärmigration, RL 2008/115/EG
Vorinstanz:
VG Würzburg, Gerichtsbescheid vom 11.03.2022 – W 8 K 21.30622
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3997

Tenor

I. Der Gerichtsbescheid des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. März 2022 – W 8 K 21.30622 – sowie die Nummern 3, 4 und 5 des Bescheids vom 27. Mai 2021 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu jeweils zwei Drittel, die Beklagte jeweils zu einem Drittel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Schuldnerin darf eine Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern die jeweilige Gläubigerin nicht zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
IV. Die Revision wird gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und gemäß § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ihren Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihr die Abschiebung in die Italienische Republik (im Folgenden: Italien) angedroht hat.
2
Die nach eigenen Angaben im Jahr 1995 geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige und reiste, nachdem sie sich zuvor in Italien aufgehalten hatte, hochschwanger im Oktober 2020 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellte dort am 11. Januar 2021 einen förmlichen Asylantrag. Ausweislich eines Schreibens der italienischen Behörden vom 14. Dezember 2020 ist der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis anlässlich der Gewährung von internationalem Schutz befristet bis zum 12. November 2023 erteilt worden („granted the international protection in Italy and a residence permit for ‚Asylum‘ expiring on 12/11/2023“).
3
Die Tochter der Klägerin wurde nach der Einreise am ... Oktober 2020 geboren. Bezüglich der Tochter wurde das Bundesamt durch einen rechtskräftigen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. März 2022 verpflichtet, ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Italiens festzustellen. Seither verfügt die Tochter über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AsylG; ein nationales Asylverfahren wurde bislang nicht durchgeführt. Der Asylantrag des Lebensgefährten der Klägerin und Vaters der gemeinsamen Tochter, die als Familie zusammenleben, wurde ebenfalls abgelehnt; insoweit hat das Bundesamt ein Verfahren nach § 71a AsylG durchgeführt. Die Ablehnung ist noch nicht bestandskräftig.
4
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, sie habe zusammen mit ihrem Lebensgefährten Italien wegen ihrer Schwangerschaft und im Übrigen deshalb verlassen, weil es an einer sicheren Unterkunft fehlte und sie Angst vor der Frau empfunden habe, die sie nach Italien gebracht habe und bei der sie die Reisekosten hätte abarbeiten sollen.
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Mit Bescheid vom 27. Mai 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und forderte diese auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Nr. 3 Satz 1); andernfalls werde sie nach Italien abgeschoben (Nr. 3 Satz 2). Sie könne auch in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben werden (Nr. 3 Satz 3). Nur nach Nigeria dürfe sie nicht abgeschoben werden (Nr. 3 Satz 4). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Nr. 5). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da der Klägerin in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei; einer Unzulässigkeitsentscheidung stehe insbesondere Art. 4 GRCh nicht entgegen.
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Am 2. Juni 2021 erhob die Klägerin Klage und beantragte, den Bescheid vollumfänglich aufzuheben. Mit Gerichtsbescheid vom 11. März 2022 hob das Verwaltungsgericht Würzburg den (im Tenor offenbar versehentlich mit dem Datum „7. März 2019“ bezeichneten) Bescheid mit Ausnahme von Nummer 3 Satz 4 und Nummer 5 auf (Nummer I Satz 1) und wies die Klage im Übrigen – soweit sie sich in unzulässiger Weise gegen das Abschiebeverbot nach Nigeria und Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung richtete – ab (Nummer I Satz 2). Die Kosten des Verfahrens legte es der Beklagten auf (Nummer II). Nummer III regelt die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung. Die Aufhebung des Bescheids begründete das Gericht im Wesentlichen damit, dass hinsichtlich der anzustellenden Rückkehrprognose von einer gemeinsamen Rückkehr der Klägerin mit ihrer einjährigen Tochter und ihrem Lebensgefährten auszugehen sei; die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr im Familienverband als regelmäßige Grundlage der Rückkehrprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG sei auf die vorliegende Konstellation der Sekundärmigration übertragbar. Unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Italien sei davon auszugehen, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt werden würde.
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Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung und beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin tritt der Berufung entgegen und beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die Behördenakte sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.
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Der Senat entscheidet über die Berufung mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO ).
B.
13
Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet. Die Nummern 1 und 2 des Bescheids vom 27. Mai 2021 sind in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtmäßig. Der Asylantrag der Klägerin ist zu Recht als unzulässig abgelehnt worden (I.).
Auch Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens bestehen nicht (II.). Rechtswidrig ist allerdings die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des Bescheids, der insoweit die Klägerin gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in ihren Rechten verletzt (III.). Infolgedessen sind auch das verfügte Einreise- und das Aufenthaltsverbot rechtswidrig (IV.).
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I. Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. Die Norm nutzt die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl Nr. L 180 S. 60 – Verfahrensrichtlinie) eingeräumte und abschließend ausgestaltete Möglichkeit, einen Asylantrag – anstelle einer Sachentscheidung – als unzulässig zu betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2020 – C-564/18 – juris Rn. 29 ff.). Die Voraussetzungen der Norm liegen vor.
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1. Italien ist Mitgliedstaat der Europäischen Union. Es hat ausweislich der Mitteilung der italienischen Behörden vom 14. Dezember 2020 der Klägerin internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt. Die mitgeteilte – und inzwischen abgelaufene – Befristung bis zum 12. November 2023 bezieht sich (nur) auf die Aufenthaltserlaubnis. Ob der Flüchtlingsstatus auch derzeit noch besteht, ist jedenfalls vorliegend für die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung nicht relevant, weil die Klägerin Italien freiwillig verlassen hat (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 ZB 23.30078 – juris Rn. 16 f.).
16
2. Die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung verstößt auch nicht gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (EU-Grundrechtecharta – GRCh, ABl Nr. C 303 S. 1).
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Von der Befugnis nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie bzw. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darf das Bundesamt keinen Gebrauch machen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Italien dort in einer Weise behandelt werden würde, die mit ihren Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist (a). Der deshalb vorzunehmenden Gefahrenprognose ist grundsätzlich die Annahme zugrunde zu legen, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht beachten; daher kann nur bei Vorliegen bestimmter Funktionsstörungen ausnahmsweise eine solche Gefahr prognostiziert werden (b). Entscheidend für die Prognose ist die zu erwartende Rückkehrsituation in wirtschaftlicher oder karitativer sowie in personeller Hinsicht (c). Im vorliegenden Fall droht der Klägerin unter Zugrundelegung der verfügbaren Erkenntnismittel bei Rückkehr nach Italien keine Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung (d).
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a) Beim Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung führen die Mitgliedstaaten Recht der Union durch und müssen daher die EU-Grundrechtecharta beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh i.V.m Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie). Deshalb ist es ihnen untersagt, einen Antrag auf internationalen Schutz gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießt, als unzulässig abzulehnen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass er bei seiner Rückkehr dort in einer Weise behandelt werden würde, die mit seinen Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 30 f.; EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 86/101). In einem solchen Fall ist deshalb bereits die Unzulässigkeitsentscheidung (und nicht erst die Abschiebungsandrohung) rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17).
19
Von praktischer Relevanz ist insoweit Art. 4 GRCh. Die Norm verbietet ausnahmslos insbesondere jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Deshalb darf ein Drittstaatsangehöriger weder zum Zeitpunkt seiner Überstellung im DublinVerfahren noch während seines Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein, eine solche Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 87). Diese Gefahr kann vorliegen, wenn die Lebensverhältnisse, die Rückkehrer als anerkannt Schutzberechtigte in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, entsprechend schlecht sind (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17). Inhaltlich entspricht Art. 4 GRCh ausweislich der Charta-Erläuterungen dem Recht, das durch Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. d. Bek. v. 22. Oktober 2010 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl II S. 1198) garantiert ist (vgl. Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr. C 303 S. 18; s. a. Art. 52 Abs. 3 GRCh).
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b) aa) Die Anforderungen an eine entsprechende Gefahrenprognose sind streng, sie kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Denn im Kontext des Unionsrechts im Allgemeinen sowie des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie im Besonderen besteht der fundamentale Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieser verlangt von jedem Mitgliedstaat, vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Als Regelfall ist deshalb zu vermuten, dass die Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die bereits durch einen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten haben, in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 28 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 82; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 85).
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bb) Außergewöhnliche Umstände im vorstehenden Sinne können allerdings vorliegen, wenn in einem Mitgliedstaat namentlich bei der praktischen Umsetzung des Migrationsrechts größere Funktionsstörungen auftreten. In diesem Fall kann die Vermutung der Beachtung des Unionsrechts widerlegt sein. Die ernsthafte Gefahr einer grundrechtswidrigen, insbesondere mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Behandlung eines Drittstaatsangehörigen im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung setzt wegen der genannten Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes allerdings voraus, dass eine solche Funktionsstörung – erstens – systemischer oder allgemeiner Art ist oder aber bestimmte Personengruppen betrifft, sie – zweitens – eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht und – drittens – anzunehmen ist, dass zudem die Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, für den Drittstaatsangehörigen beachtlich wahrscheinlich ist. Entsprechend genau, aktuell, objektiv und zuverlässig müssen die Angaben sein, die solche erheblichen Schwachstellen belegen (vgl. zum Ganzen EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 31 m.w.N.).
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cc) Festgestellte Schwachstellen erreichen die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit (mit der Folge, keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG treffen zu dürfen) insbesondere erst dann, wenn im betroffenen Mitgliedstaat die Behörden gegenüber Rückkehrern derart gleichgültig sind, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f. m.w.N.; s.a. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 - juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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Hingegen wird wegen dieses strengen Maßstabs die erforderliche Erheblichkeitsschwelle grundsätzlich nicht schon erreicht, wenn eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation zu erwarten ist; anders ist dies nur, wenn diese Situation zugleich mit extremer materieller Not verbunden ist, so dass sich der Betroffene in einer schwerwiegenden Lage befindet, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19).
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dd) Obwohl die im Raum stehenden Rechtsgüter der Drittstaatsangehörigen – Art. 4 GRCH ist eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 87) – hochrangig sind, ist eine Unzulässigkeitsentscheidung nur ausgeschlossen, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine grundrechtswidrige Behandlung als Folge der festgestellten Schwachstellen beachtlich hoch ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Wegen des Vertrauensgrundsatzes darf die Gefahr nicht schon dann bejaht werden, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse sichergestellt sein wird; vielmehr muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass die Befriedigung dieser Bedürfnisse nicht gelingt (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Bei vulnerablen Personen kann eine solche Erwartung allerdings leichter zu bejahen sein als bei gesunden und arbeitsfähigen erwachsenen Personen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19). Der zeitliche Prognosehorizont ist dabei auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet. Die grundrechtswidrige Behandlung als Folge einer festgestellten Schwachstelle muss in einem absehbaren Zeitraum befürchtet werden (vgl. zu § 60 Abs. 5 AufenthG BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25).
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c) Für die Prognose, ob ein Rückkehrer unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, ist entscheidend, welche Rückkehrsituation ihn in wirtschaftlicher oder karitativer Hinsicht erwartet (aa). In personeller Hinsicht ist hierbei grundsätzlich nur von der Rückkehr des oder der Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung, nicht aber von seiner Rückkehr zusammen mit anderen Familienangehörigen auszugehen (bb). Zu prüfen ist ferner, ob der relevante Wahrscheinlichkeitsmaßstab wegen einer besonderen Verletzlichkeit (Vulnerabilität) abzusenken ist (cc).
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aa) In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Rückkehrsituation zum einen durch die örtlich vorherrschenden Möglichkeiten geprägt, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern. Hierbei sind alle realistischen Formen der Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Denn einem Drittstaatsangehörigen ist es im Regelfall zumutbar, auch wenig attraktive oder der Vorbildung nicht entsprechende Arbeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen oder die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs während der Touristensaison, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). Zum anderen kommt für die prognostische Bestimmung der zu erwartenden Rückkehrsituation staatlichen Unterstützungsleistungen oder geeigneten – alleinigen oder ergänzenden – Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen Relevanz zu (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22 ff.). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der Drittstaatsangehörige bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20).
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bb) In personeller Hinsicht sind für die prognostische Bestimmung der zu erwartenden Rückkehrsituation grundsätzlich nur die konkret betroffenen Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung zu berücksichtigen (personelle Rückkehrsituation), nicht hingegen gegebenenfalls vorhandene andere Familienangehörige (siehe im Ergebnis ebenso VG München, U.v. 30.8.2022 – M 11 K 18.31438 – Rn. 59 ff.; VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 32). Die personelle Basis der Prognose grundsätzlich auf den oder die Adressaten zu begrenzen, ist Folge der individualrechtlichen Konzeption des unionsrechtlichen Asylrechts (1), einer andernfalls zu erwartenden erheblichen Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des unionsrechtlichen Ziels der Begrenzung legaler Sekundärmigration (2) sowie dem Charakter der Sperrwirkung als Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dem absoluten Charakter von Art. 4 GRCh (3). Der mit dieser Beschränkung verbundene Eingriff in den grundrechtlichen Schutz der Familie ist gerechtfertigt, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Einwirkung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auf die Prognosebasis (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16 ff.) ist nicht zu übertragen (4).
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(1) Das Unionsmigrationsrecht geht davon aus, dass über die Durchführung eines Asylverfahrens, das mit einer Sachentscheidung endet, für jeden Drittstaatsangehörigen individuell entschieden wird. Wenn die RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl Nr. L 337 S. 9, ber. ABl 2017 Nr. L 167 S. 58 – Anerkennungsrichtlinie) hinsichtlich der Sachentscheidung verlangt, dass ein Antrag auf internationalen Schutz individuell und bezogen auf die Situation des einzelnen Betroffenen zu prüfen ist (vgl. EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-652/16 – juris Rn. 50 f. und 58) und nicht allein deshalb Erfolg haben darf, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat, wenn der Antragsteller nicht selbst bedroht ist (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2021 – C-91/20 – juris Rn. 35), so darf grundsätzlich erst recht nicht die Antwort auf die Frage, ob überhaupt ein solches (Sach-)Verfahren durchzuführen ist, von Dritten abhängig sein. Dies wäre aber der Fall, wenn die personelle Rückkehrprognose um weitere Familienangehörige erweitert würde und im konkreten Fall gerade deshalb die Gefahr einer Behandlung nach Art. 4 GRCh bestehen und eine Unzulässigkeitsentscheidung ausgeschlossen würde. Denn die Folge des Ausschlusses einer Unzulässigkeitsentscheidung bewirkt einen neuen Anspruch auf Sachentscheidung (und damit auch auf einen Wechsel des Zuständigkeitsregimes), unabhängig davon, ob die Prüfung durch das Bundesamt ergebnisoffen oder ob die Schutzgewährung durch den ersten Mitgliedstaat verbindlich ist (vgl. hierzu BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 10 f. und 16 ff.).
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(2) Die Begrenzung der personellen Prognosebasis auf den oder die Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung trägt ferner dem Ziel der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems am besten Rechnung, die Möglichkeiten legaler Sekundärmigration zu begrenzen und hierdurch die Verwaltungsressourcen der Mitgliedstaaten zu schonen (vgl. EG 13, 36, 44 Satz 3 Verfahrensrichtlinie und EG 13 Anerkennungsrichtlinie; siehe auch EuGH, U.v. 1.8.2022 – C-720/20 – juris Rn. 42; EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17 und C-583/17 – juris Rn. 77; Schlussantrag der Generalanwältin v. 20.4.2023, C-228/21, juris Rn. 2, 91 m.w.N.; zu den Vorgänger-Richtlinien EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 79. Zum Ganzen auch O´Brien in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 18 Rn. 13; Progin-Theuerkauf in Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 20 Rn. 37). Die Legitimität dieser Ziele speist sich vorrangig aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auf Beachtung der insbesondere grundrechtlichen Vorgaben (vgl. nur EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 27 ff.; gegenüber Dänemark siehe BayVGH, U.v. 9.1.2024 – 24 B 23.30364 – juris Rn. 25).
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Die Frage nach der Rückkehr im Familienverband betrifft in einer erheblichen Zahl von Fällen nach der Einreise in die Bundesrepublik gegründete oder vergrößerte Familien. Eine personell erweiterte Prognosebasis ist daher mit einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer grundrechtswidrigen Behandlung im Zielstaat und damit dem Ausschluss einer Unzulässigkeitsentscheidung verbunden. Somit begünstigt eine breite Prognosebasis die Legalisierung von Sekundärmigration. Dies ist mit dem auf praktische Wirksamkeit ausgerichteten Unionsrecht und seiner Ziele grundsätzlich nicht vereinbar und muss im Rahmen des primärrechtlich Zulässigen berücksichtigt werden.
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(3) Dafür, die Sperrwirkung von Art. 33 Buchst. a Verfahrensrichtlinie nicht nur in ihren sachlichen Umfang (hierzu oben Rn. 20 ff.), sondern auch in ihrem personellen Umfang restriktiv auszulegen, spricht schließlich auch, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wegen seiner fundamentalen Bedeutung für das Unionsrecht nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 23; vgl. allgemein zur restriktiven Handhabung von Ausnahmevorschriften EuGH, U.v. 6.7.2023 – C-8/22 – juris Rn. 32; EuGH, U.v. 13.9.2018 – C-369/17 – juris Rn. 52). Außerdem ist Art. 4 GRCh als ein keiner Relativierung zugängliches absolutes Grundrecht eng auszulegen. Ferner ist sein wesentlicher Gehalt auf einen Schutz vor unmenschlicher Behandlung gerichtet; dieser hängt aber weder allein noch auch nur vorrangig von einem erneuten Anspruch auf Sachentscheidung ab. Es ist schließlich auch kein Grund ersichtlich, mittels Art. 4 GRCh den Betroffenen zu ermöglichen, durch eine – wenngleich (familien-)grundrechtlich abgesicherte – Änderung ihrer eigenen Lebensumstände einen Anspruch auf Sachentscheidung und einen Zuständigkeitswechsel zu begünstigen, solange nicht die grundrechtlichen Gewährleistungen zum Schutz der Familie dies verlangen (hierzu sogleich).
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(4) Anlass zur Erweiterung der personellen Rückkehrsituation über den oder die Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung hinaus bilden auch nicht die grundrechtlichen Gewährleistungen zum Schutz der Familie, insbesondere Art. 7 CRCh und Art. 8 Abs. 1 EMRK, die insoweit im Wesentlichen wie Art. 6 Abs. 1, 2 GG ausgelegt werden. Zwar schützen diese vor der Zwangslage, die entsteht, wenn nicht alle Mitglieder Adressaten einer Unzulässigkeitsentscheidung und hieran geknüpft einer Rückkehrentscheidung werden, und damit eine Trennung der Familie im Raum steht [a]. Jedoch ist der damit verbundene Eingriff gerechtfertigt [b]. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zusammenhang mit nationalen Abschiebungsverboten hinsichtlich des Herkunftsstaates ist nicht zu übertragen [c].
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[a] In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet zusammenlebende Kernfamilie im Regelfall (nur) im Familienverband ausreisen möchte, und zwar auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern bereits in der Bundesrepublik ein Schutzstatus zuerkannt, für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt oder der Aufenthalt aus anderen Gründen derzeit erlaubt ist. Denn eine Familie ist ein auf Dauer angelegter Sozialverband, der durch das Bestehen besonderer Zuneigung und Nähe, Verantwortlichkeit füreinander sowie durch Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft zwischen seinen Mitgliedern gekennzeichnet ist (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris Rn. 22 f.; Kingreen in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 9 GRCh Rn. 6; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 2; Britz, NZFam 2018, 289 ff.). Eine solche Beistandsgemeinschaft wird regelhaft aus sozialen und emotionalen Gründen die zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigten Familienangehörigen zur Begleitung eines (nach Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung) zur Ausreise verpflichteten Mitglieds und damit zur Aufgabe eigener Aufenthaltspositionen drängen. Dies gilt auch dann, wenn die übrigen Familienangehörigen keinen Bezug zu diesem anderen Mitgliedstaat haben (wohl anders insoweit VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – Rn. 37, vgl. die Revisionszulassung bzgl. nationaler Abschiebungsverbote durch BVerwG, B.v. 22.3.2023 – 1 B 67.22; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 384/18.A – juris Rn. 38). Gerade bei einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat wird der Drang zur gemeinsamen Ausreise bestehen, weil dieser meist weniger vertraut sein wird als der Herkunftsstaat, so dass die praktische Relevanz der Familie für eine erfolgreiche Bewältigung widriger Alltagsbedingungen besonders hoch ist. Außerdem ist der Mitgliedsstaat typischerweise trotz festgestellter Funktionsstörungen weniger gefährlich als der Herkunftsstaat; insoweit sind die emotionalen „Hürden“ zur Begleitung niedriger.
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Auch wenn grundrechtliche Gewährleistungen zum Schutz der Familie anerkanntermaßen keinen Anspruch darauf vermitteln, eine Familie gerade im Inland leben zu können (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 66; EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – juris Rn. 54; Marauhn/Böhringer in Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 23 Rn. 21; BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 19 m.w.N.; Robbers in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 117), so schützen sie doch einen bestehenden (Kern-)Familienverband vor der Zwangssituation „Aufgabe eigener Aufenthaltspositionen oder Hinnahme der Trennung der Familie“ (für die Ehe vgl. BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23/73 – juris Rn. 69). Denn diese Grundrechte zielen gerade auf den Schutz und die Anerkennung der spezifisch psychologischen und sozialen Funktion familiärer Bindungen (vgl. für Art. 6 GG BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris Rn. 22; BVerfG, U.v. 19.2.2013 – 1 BvL 1/11 – juris Rn. 62), wie sie im vorliegenden Kontext zum Tragen kommen.
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Vor diesem Hintergrund ist die fehlende Berücksichtigung familiärer Bindung im Rahmen der Prüfung des Art. 4 GRCh mit einem Eingriff verbunden, da sie eine Zwangslage erzeugt und die Trennung einer Familie forciert.
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[b] Der Eingriff ist allerdings gerechtfertigt. Die Garantien zum Schutz der Familie aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK sind nicht absolut, sondern gegenläufigen Belangen und auch einer konzeptionellen Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber zugänglich. Der relative Charakter der familienrechtlichen Garantien würde vernachlässigt, steuerten diese die tatsächlich-personelle Prognosebasis im Rahmen des Art. 4 GRCh; denn auf diese Weise würden die Grundrechte mittelbar gegen Einschränkungen immunisiert, obwohl sie selbst gerade nicht schrankenlos gewährt werden. Daher ist die individuell-rechtliche Konzeption des Asylrechts durch den Unionsgesetzgeber ebenso zu akzeptieren wie seine Entscheidung, den asylrechtlichen Schutz von Familien (nur) durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu realisieren, Angehörigen Anspruch auf bestimmte Leistungen einzuräumen, die der Wahrung des Familienverbands dienen (vgl. Art. 23 Anerkennungsrichtlinie, hierzu EuGH, U.v. 9.11.2021 – C-91/20 – juris Rn. 35). Da er auch vor unzumutbarer faktischer Trennung schützt, indem bei einer Rückkehrentscheidung – auch hinsichtlich eines anderen Mitgliedstaats (vgl. Rn. 55) – familiäre Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. Art. 5 Buchst. a, b der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – ABl Nr. L 348 S. 98 – Rückführungsrichtlinie), gestaltet er den Schutz der Familie ausreichend effektiv aus und wahrt zugleich sein legitimes Interesse an der Begrenzung von legaler Sekundärmigration. Dass aus Sicht der betroffenen Familien eine einheitliche Sachentscheidung durch den ausgewählten (zweiten) Mitgliedstaat besser wäre, steht dem nicht entgegen; einen Anspruch auf optimale Verwirklichung familiärer Belange besteht im Primärunionsrecht nicht.
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[c] Folgerichtig kommt es vor diesem Hintergrund auch nicht in Betracht, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu übertragen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16 ff.), wonach im Rahmen von Abschiebungsverboten hinsichtlich des Herkunftsstaats gemäß § 60 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), als realitätsnahe Rückkehrsituation im Regelfall eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband der Gefährdungsprognose zugrunde zu legen ist (ob die Regelvermutung der gemeinsamen Rückkehr in den Herkunftsstaat auch eingreift, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon dort bestanden hat, ist noch nicht geklärt, vgl. zur insoweit zugelassenen Revision BVerwG, B.v. 15.8.2019 – 1 B 33.19 – juris Rn. 4; das Revisionsverfahren wurde allerdings eingestellt). Die vorliegende Konstellation der Sekundärmigration ist rechtlich anders ausgestaltet als die vom Bundesverwaltungsgericht entschiedene Situation des (rein) nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich des Herkunftsstaats. Im nationalen Kontext hat die Zuerkennung eines Abschiebeverbots insbesondere andere Wirkungen, weil es nicht die Zuständigkeitsordnung verändert. Schon vor diesem Hintergrund greift die Begründung der im streitgegenständlichen Gerichtsbescheid (vgl. GBA S. 10 ff.) befürworteten Übertragung der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – nämlich der einfache Verweis auf inhaltsgleiche Grundrechtsgewährleistungen zwischen Art. 6 GG einerseits und Art. 7 GRCh andererseits – zu kurz (die Übertragbarkeit ebenfalls bejahend OVG RhPf, U.v. 20.10.2020 – 7 A 10889/18 – juris Rn. 68; VG Weimar, U.v. 12.9.2023 – 7 K 146/22 We – juris Rn. 39; Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, Teil C, Rn. 437; wohl auch OVG NW, U.v. 29.12.2020 – 11 A 1602/17.A – Rn. 49).
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[d] Nur soweit es einmal insbesondere aus Gründen des fairen Verfahrens einer sachwidrigen verfahrensmäßigen Trennung von Familienangehörigen im konkreten Einzelfall zu begegnen gilt, kommt es auch in Konstellationen der Sekundärmigration in Betracht, im Einzelfall die Prognosebasis in personeller Hinsicht zu erweitern (vgl. zu diesem Motiv für eine prognostische Berücksichtigung des gesamten Familienverbands vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 22: Minderung von Friktionen wegen zeitversetzter Entscheidung; s.a. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 30).
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(5) Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der Klägerin für die Gefahrprognose von ihrer alleinigen Rückkehr auszugehen. Weder sind Tochter noch Lebensgefährte Adressaten des Bescheids noch liegt ein Fall einer sachwidrigen verfahrensrechtlichen Trennung vor, der eine Ausnahme rechtfertigen könnte. Die Tochter hat überdies ein Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 3 AufenthG, der Lebensgefährte verfügt gegenwärtig über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG.
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cc) Die Klägerin ist folgerichtig im Rahmen der Gefahrenprognose nach Art. 4 GRCh als alleinstehende Frau anzusehen. Sie gehört weder deshalb noch aus anderen Gründen einer Gruppe besonders verletzlicher (vulnerabler) Personen an, so dass der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht abzusenken ist.
41
(1) Die Prognose, ob im europäischen Mitgliedstaat, in den der Drittstaatangehörige zurückkehren soll, eine ernsthafte Gefahr einer Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh besteht, wird auch davon geprägt, ob er als vulnerabel anzusehen ist. Vulnerabilität ist anzunehmen, wenn die betroffene Person gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweist und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen kann und deshalb wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not geraten wird (vgl. VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 40). Die Auslegung und Anwendung des Begriffs der Vulnerabilität unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, nicht aber den Restriktionen des § 60a Abs. 2c AufenthG analog (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 26.10.2023 – 24 B 22.31109 – juris Rn. 27).
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Die konkrete Einordnung eines Drittstaatsangehörigen richtet sich jeweils nach den Umständen des Einzelfalls. Rechtliche Orientierung bietet allerdings Art. 21 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl Nr. L 180, S. 96 – Aufnahmerichtlinie). Die Norm selbst hat zwar eine andere Regelungsintention als Kriterien für eine Risikoabschätzung nach Art. 4 GRCh zu formulieren (vgl. hierzu Tsourdi in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Art. 21 RL 2013/33/EU Rn. 1 ff.); gleichwohl liegt bei den dort genannten Personengruppen die Annahme von Vulnerabilität auch im Sinne von Art. 4 GRCh besonders nahe (vgl. SächsOVG, U.v. 15.3.2022 – 4 A 506/19.A – juris Rn. 61; vgl. OVG Bremen, B.v. 12.8.2021 – 1 LA 328/21 – juris Rn. 8). Entsprechendes ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 und – die Einzelfallprüfung betonend – Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie (hierzu auch VGH BW, B.v. 13.10.2022 – A 4 S 2182/22 – juris Rn. 6). Vor diesem Hintergrund wird die Annahme von Vulnerabilität häufig bei Opfern von Menschenhandel, bei Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen oder mit psychischen Störungen und bei Personen möglich sein, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.
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(2) Alleinstehende Frauen sind vor diesem Hintergrund nicht schon a priori als vulnerable Personen einzustufen. Gegen eine solche Annahme spricht bereits Art. 21 Aufnahmerichtlinie, der sie in der – allerdings dem Wortlaut nach („wie“) nicht abschließenden – Aufzählung der schutzbedürftigen Personengruppen nicht nennt. Es ist auch nicht erkennbar, dass Frauen aus physiologischen Gründen von vornherein erheblich weniger mit widrigen Umständen umgehen könnten als Männer oder anders als diese wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not geraten. An dieser Einschätzung ändert auch § 44 Abs. 2a AsylG nichts, der die Länder verpflichtet den „Schutz von Frauen“ (ohne jede Einschränkung innerhalb dieser Gruppe) durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten. Abgesehen davon, dass der nationale Gesetzgeber – gleichermaßen wie bei § 60a Abs. 2c AufenthG (analog) – nicht befugt sein dürfte, die unionsrechtliche Gruppe der schutzbedürftigen Personen konstitutiv so zu definieren, dass er ein Hindernis für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie begründet, zielt die Vorschrift gerade in Umsetzung (vgl. Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 44 AsylG Rn. 26 ff.) des vorliegend nur als Auslegungshilfe maßgeblichen Art. 21 Aufnahmerichtlinie auf eine Gestaltung von Aufnahmeeinrichtungen, die den unterschiedlichen (auch Sicherheits-)Bedürfnissen von Männern und Frauen Rechnung trägt, aber nicht auf die unionsrechtlich gesteuerte Prognose nach Art. 4 GrCh einwirken soll. Ungeachtet dessen kann auch aufgrund der spezifischen Situation in Italien für Frauen keine besondere Schutzbedürftigkeit angenommen werden. Es ist nicht ersichtlich, dass alleinstehende Frauen in Italien einem besonderen Risiko von Gewalt, insbesondere sexueller Natur, ausgesetzt wären, das es rechtfertigen würde, sie generell als besonders schutzbedürftig anzusehen. Immerhin beschreiben die Erkenntnismittel auch Umstände, wonach Frauen im Vergleich zu Männern besseren Zugang zu Unterkunftsangeboten von Hilfsorganisationen haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 114; SächsOVG, U.v. 14.3.2022 – 4 A 1220/19.A – juris Rn. 40; NdsOVG, B.v. 28.5.2018 – 10 LB 202/18 – juris Rn. 88).
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(3) Da weder Erkrankungen noch andere besondere Umstände bekannt sind, kann die Klägerin nicht als vulnerabel angesehen werden. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Klägerin (in Italien oder in ihrem Heimatstaat) Opfer von Menschenhandel oder Zwangsprostitution geworden ist (vgl. insoweit auch den Vermerk der Sonderbeauftragten für Opfer von Menschenhandel des Bundesamts vom 8.3.2021, pdf-S.156 f.).
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e) Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Italien nicht der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Auf Basis der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel geht der Senat derzeit in regelmäßiger Rechtsprechung davon aus, dass volljährige, alleinstehende, arbeitsfähige und in Italien anerkannt schutzberechtigte Menschen ohne grundrechtliche Gefährdung nach Italien zurückkehren können, und zwar auch dann, wenn sie keinen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des Zweitaufnahmesystems „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) haben. Da die Klägerin zu dieser Personengruppe gehört, wird entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO bzw. entsprechend § 77 Abs. 3 AsylG (vgl. insoweit BVerwG, B.v. 30.11.1995 – 4 B 248.95 – juris Rn. 7 f.; OVG NW, B.v. 23.1.2020 – 9 A 950/19.A – Rn. 8) auf die den Beteiligten durch Auflistung in der übersandten Erkenntnismittelliste zur Kenntnis gebrachte Einschätzung und Beurteilung des Senats im Urteil vom 11. Oktober 2023 – 24 B 23.30525 – juris Rn. 24 ff. verwiesen. Neue Erkenntnisse, die nach einer anderen Beurteilung der Lage in Italien verlangen, liegen nicht vor.
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II. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht.
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dieses nationale Abschiebungsverbot erfasst nicht nur Gefahren für Leib und Leben, die von einem asylrechtlich relevanten Akteur ausgehen, sondern auch, wenn sie aus zu erwartenden Lebensverhältnisse resultieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasst der Verweis des § 60 Abs. 5 AufenthG auf die Konvention aus (gesetzes-)systematischen Gründen inhaltlich allerdings lediglich Abschiebungsverbote, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen, nicht jedoch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – juris Rn. 9 ff.).
48
Mit Blick auf den Zweck der Konvention, grundsätzlich Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereichs der Vertragsstaaten selbst zu sichern (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8), kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot meist nur die Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht (vgl. zu anderen Vorschriften der EMRK BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 11). Es ist geklärt, dass die im Zielstaat drohende Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen müssen (vgl. EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; s. a. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 68).
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2. a) Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht und deshalb ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten der konkreten Klägerin im Falle ihrer Rückkehr auswirken werden. Die Frage nach einem nationalen Abschiebungsverbot kann nicht allein aufgrund der Umstände in einem Mitgliedstaat, sondern nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret Betroffenen beurteilt werden. Im Unterschied zu der Prüfung einer unionsrechtlich begründeten Anwendungssperre hinsichtlich des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, bei der vorrangig maßgeblich ist, ob ermittelte Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft Schwachstellen aufweisen, die unabhängig vom Einzelfall die Gefahr einer Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, wird die Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG umfassend von den Umständen des Einzelfall gesteuert.
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b) Hinsichtlich der personellen Rückkehrsituation, auf die es bei der Rückkehrprognose hinsichtlich einer möglichen, drohenden unmenschlichen Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG ebenso ankommt wie bei der von Art. 4 GRCh geforderten Gefahrenprognose im Rahmen von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, sind ebenfalls nicht alle Mitglieder einer (Kern-)Familie zu berücksichtigen. Die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2019 begründete Rechtsprechung zur Berücksichtigung aller Familienmitglieder im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG erfasst ausdrücklich nur die Konstellation einer Abschiebung in den Herkunftsstaat. Hinsichtlich einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren die Revision zugelassen, aber bislang noch nicht entschieden (vgl. BVerwG, B.v. 22.3.2023 – 1 B 67.22 – juris Rn. 2).
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Die besseren Gründe sprechen auch hier dafür, diese Rechtsprechung nicht zu übertragen. Ungeachtet dessen, dass es auch im Rahmen der nationalen Abschiebungsverbote der Funktion eines nicht absolut ausgestalteten grundrechtlichen Familienschutzes besser entsprechen dürfte, ihn nicht zur Steuerung der tatsächlichen Prognosebasis einzusetzen, besteht jedenfalls in den Fällen der Sekundärmigration kein Anlass, die personelle Prognosebasis zu erweitern. Zwar fehlt bei der Prüfung von nationalen Abschiebungsverboten im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. zur Pflicht des Bundesamts § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) eine unionsrechtliche Prägung, die - wie bei der Gefahrenprognose nach Art. 4 GRCh – für eine adressatenbezogene Prognosebasis spricht. Allerdings ist die Vermeidung von Sekundärmigration auch den Vorschriften des Grundgesetzes nicht fremd. Es gewährt ebenfalls kein Recht auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens; Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG regelt für das nationale Asylrecht, dass sich auf seinen Schutz nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen sicheren Drittstaat einreist (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 15).
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Auch vorliegend gibt der grundrechtliche Schutz der Familie keinen Anlass, die personelle Prognosebasis zu erweitern. Denn die Auswirkungen auf die Familie, die mit derjenigen Zwangslage verbunden sind, die durch eine nur einen Teil der Familienmitglieder betreffende Entscheidung über Abschiebungsverbote entsteht, sind bei der Abschiebung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mit der in den Herkunftsstaat vergleichbar und rechtfertigen daher eine unterschiedliche Prognosebasis trotz Anwendung derselben Norm (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Sie sind grundsätzlich weniger schwerwiegend. Zwar kann auch innerhalb der Europäischen Union die durch eine Trennung bewirkte räumliche Distanz zwischen Familienangehörigen erheblich sein. Dennoch sind wechselseitige Besuche für jeweils begrenzte Zeiträume rechtlich möglich und nicht selten auch faktisch realisierbar (vgl. Art. 21 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19.6.1990, ABl 2000 Nr. L 239 S. 19, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22.11.2023 (ABl Nr. L 2667 S. 1 – Schengener Durchführungsübereinkommen [SDÜ]), das infolge verschiedener Beitrittsübereinkommen auf insgesamt 27 europäische Länder erstreckt wurde; hierzu Kluth in Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 3 Rn. 10 ff., s.a. die VO (EU) Nr. 265/2010 (v. 25.3.2010, ABl 2010 L 85, 1), die u.a. den erwähnten Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen ergänzt hat und Drittstaatsangehörigen eine vorübergehende Reisefreiheit im Binnenmarkt gewährt – hierzu Thym in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Werkstand 1.10.2023, Art. 77 AEUV Rn. 13 f. (Stand der Kommentierung 1.7.2020).
53
Auch drohen trotz Vorliegens gegebenenfalls hinreichend erheblicher Funktionsstörungen meist keine mit dem Herkunftsstaat vergleichbaren Schwierigkeiten für die Aufrechterhaltung der Familienkontakte durch herkömmliche oder moderne Kommunikationsmittel. Die Kommunikationsinfrastruktur ist verlässlich und auch bei prekären Verhältnissen regelhaft zumindest punktuell verfügbar. Schließlich sind sich gegebenenfalls später eröffnende Möglichkeiten einer rechtmäßigen Familienzusammenführung im Bundesgebiet faktisch leichter realisierbar als im Fall einer Trennung der Familie durch Rückkehr einzelner Mitglieder in den Herkunftsstaat. Außerdem können umgekehrt Drittstaatsangehörige gegebenenfalls ihre Familie in den Mitgliedstaat nachholen, sobald etwaige Anfangsschwierigkeiten überwunden sind.
54
Vor diesem Hintergrund genügt es, den Schutz der Familie als – ein der Abwägung zugängliches – Tatbestandsmerkmal in die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu integrieren (vgl. Rn. 63 f.). Im Rahmen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG ist er hingegen nicht von Relevanz.
55
c) Unter Annahme ihrer alleinigen Rückkehr ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In ihrer Person liegen keine Gründe vor, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und ihrer Abschiebung nach Italien entgegenstehen.
56
3. Da die Klägerin im Wesentlichen gesund ist (vgl. Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 7.12.2023, S. 2), kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von vornherein nicht in Betracht.
57
III. Nummer 3 des Bescheids ist allerdings rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie verstößt gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. Die Berufung ist insoweit zurückzuweisen.
58
1. a) Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54)) hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union reagiert, wonach die bisherigen Regelungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung teilweise nicht den Anforderungen der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) genügten (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 ff.). Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (vgl. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – juris Rn. 60; EuGH, U.v. 8.5. 2018 – C82/16 – juris Rn. 102; EuGH, U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48).
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b) Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass nicht nur eine Abschiebungsandrohung in einen Drittstaat (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 6.5.2020 – 1 C 14.19 – juris Rn. 14; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 9.5.2019 – 1 C 14.19 – juris Rn. 30), sondern auch in einen Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie darstellt. Die Annahme trifft zu (ebenso – noch vor Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes – OVG SH, U.v. 22.6.2023 – 4 LB 6/22 – juris Rn. 97; offen gelassen OVG LSA, B.v. 11.9.2023 – 2 L 38/20 – juris Rn. 59 ff. m.w.N; anders hingegen SächsOVG, U.v. 7.9.2022 – 5 A 153/17.A – juris Rn. 61; wohl auch Kluth in Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, § 5 Rn. 9). Zwar erfasst Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie nur Entscheidungen, die gerade keinen Mitgliedstaat betreffen. Allerdings erklärt Art. 6 Abs. 2 Satz 2 a.E. Rückführungsrichtlinie den Absatz 1 der Norm für anwendbar gegenüber Drittstaatsangehörigen, die – wie die Klägerin infolge ihrer Schutzgewährung durch Italien – Inhaber einer für dort gültigen Aufenthaltsberechtigung sind. Insoweit erweitert Art. 6 Abs. 2 Satz 2 a.E. Rückführungsrichtlinie die Legaldefinition des Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie. Dieses Verständnis einer Rückkehrentscheidung legt schließlich auch Art. 21 Rückführungsrichtlinie nahe, denn damit wurden die speziellen Regelungen in Art. 23 und 24 SDÜ ersetzt und Abschiebungen vollständig durch die Rückführungsrichtlinie geregelt.
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Vor diesem Hintergrund ist § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. im Lichte des Art. 5 Rückführungsrichtlinie und der hierzu ergangenen Rechtsprechung auszulegen; auch für die Anwendung des Art. 6 GG bleibt nunmehr Raum.
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c) Die Betroffenheit der in der § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht hat das Bundesamt als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen. Insoweit müssen die Gerichte „durchentscheiden“. Es kommt hingegen nicht in Betracht, die Abschiebungsandrohung wegen Ermessensausfall allein deshalb aufzuheben, weil das Bundesamt in seinem Bescheid gar keine Prüfung der Belange vorgenommen hat (in diese Richtung noch vor Änderung des § 34 AsylG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung OVG Bremen, B.v. 9.6.2023 – 2 B 19/23 – juris Rn. 41; VG Hannover, U.v. 10.11.2023 – 13 A 108/22 – juris Rn. 45; anders VG SH, U.v. 3.5.2023 – 7 A 285/22 – juris Rn. 13).
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2. Vorliegend steht das Wohl der minderjährigen Tochter, die über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG verfügt, sowie die – durch die Tochter mit der Klägerin begründeten – familiären Bindungen der Klägerin der Abschiebungsandrohung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung entgegen.
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Das Kindeswohl im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG bzw. Art. 5 Buchst. a Rückführungsrichtlinie ist vorliegend zu beachten, obwohl die dreijährige Tochter der Klägerin nicht Adressatin der Rückkehrentscheidung ist. Es genügt ihre Betroffenheit von einer gegenüber der Mutter ergangenen Rückkehrentscheidung (vgl. ausführlich EuGH, U.v. 11.3.2021 – C-112/20 – juris Rn. 31 ff.; s.a. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C441/19 – Rn. 43 ff.; s.a. OVG LSA, B.v. 11.9.2023 – 2 L 38/20 – juris Rn. 59). Entscheidend für die Gewichtung des Kindeswohls sind insoweit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 24 Abs. 3 GRCh misst ausdrücklich regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).
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Die Tochter ist etwas über drei Jahre alt und lebt seit der Geburt bei der Klägerin als ihrer Mutter. Es besteht daher eine emotionale Verbundenheit, die familiäre Gemeinschaft wird – ungeachtet der Beteiligung des Lebensgefährten der Klägerin und Vaters der Tochter hieran – jedenfalls zwischen diesen beiden gelebt. Es besteht eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Die Mutter nimmt ihre Elternverantwortung – das wird nicht bestritten – vollumfänglich wahr (vgl. zu diesem Kriterium EGMR, U.v. 21.12.2010 – 20578/07 – juris Rn. 61; s.a. Koch in Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, § 4 Rn. 1005 f.). Auf die Aufrechterhaltung dieser Mutter-Kind-Beziehung ist die Tochter der Klägerin angesichts ihres geringen Alters zu ihrem Wohl auch angewiesen. Im Allgemeinen und auch im konkreten Fall der Klägerin und ihrer Tochter ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zur Mutter der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient. Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 23 m.w.N.).
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Da die Abschiebungsandrohung schon deshalb rechtswidrig ist, kommt es im konkreten Fall nicht darauf an, inwieweit auch die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten der Abschiebungsanordnung entgegenstehen könnte, obwohl dieser nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt; jedenfalls erfasst der Aspekt der familiären Bindung grundsätzlich auch Bindungen zwischen Erwachsenen (vgl. OVG SH, U.v. 22.6.2023 – 4 LB 6/22 – juris Rn. 97).
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3. Aufzuheben ist auch Nummer 3 Satz 4 des Bescheids, der eine sog. negative Staatenbezeichnung enthält (vgl. § 60 Abs. 10 Satz 1 AsylG für die Gewährung von Flüchtlingsschutz). Die negative Staatenbezeichnung und die Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Frist und der Bezeichnung eines Zielstaates (hier: Italien) nach § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind nicht trennbar (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2023 – 1 C 34.22 – juris Rn. 24 ff.). Nummer 3 Satz 4 des Bescheids teilt daher das Schicksal der genannten übrigen Bestandteile der Abschiebungsandrohung und ist deshalb ebenfalls aufzuheben. Das Verwaltungsgericht hatte die Klage insoweit zu Unrecht als unzulässig angesehen.
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Der Senat ist an der Aufhebung auch nicht durch § 129 VwGO gehindert. Zwar darf hiernach die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nur soweit geändert werden, als eine Änderung beantragt ist. Bei wörtlichem Verständnis hat die Beklagte beantragt, die Klage vollumfänglich abzuweisen, aber nicht ihr dort stattzugeben, wo sie durch das Verwaltungsgericht (als unzulässig) abgewiesen worden ist. Anders jedoch als im Regelfall beim Erlass eines belastenden Verwaltungsakts hat die Beklagte keinerlei Interesse an einer nur teilweisen Aufrechterhaltung hinsichtlich der Nummer 3; sie hat sich auch auf Nachfrage des Senats nicht in diese Richtung geäußert. Im Ergebnis bestehen keine prozessrechtlichen Gründe, der materiell-rechtlichen Unteilbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht durch die Urteilsformel zu entsprechen. Auf das Fehlen einer Anschlussberufung der Klägerin nach § 127 VwGO kommt es insoweit nicht an.
68
IV. Das verfügte Einreise- und das verfügte Aufenthaltsverbot (Nr. 4 des Bescheids) sind ebenfalls rechtswidrig, da hierfür nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG die Abschiebungsandrohung Voraussetzung ist. Die Nummer 5 ist ebenfalls aufzuheben; sie kann ohne eine Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben.
B.
69
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und entspricht dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
C.
70
Die Revision ist nach Maßgabe des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG als sogenannte „Tatsachenrevision“ zuzulassen, da der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris) abweicht.
71
Ferner lässt der Senat die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, weil die Frage grundsätzliche Bedeutung hat, ob für die Prognose des Bestehens der ernsthaften Gefahr einer Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh im Rahmen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG davon auszugehen ist, dass nur der oder die Adressaten einer Unzulässigkeitsentscheidung, nicht aber darüber hinaus die Rückkehr weiterer Mitglieder einer im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie anzunehmen ist. Grundsätzliche Bedeutung hat auch die Frage, ob bei der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren davon auszugehen ist, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückkehren wird, obwohl diese Familienmitglieder über eine Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet verfügen.