Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Grund- und Teilurteil v. 29.05.2024 – 2 O 107/23
Titel:

Widerruf eines nachträglich vereinbarten Beitragsentlastungstarifs

Normenketten:
VVG § 8 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 2 (idF bis 12.6.2014
BGB § 242
ZPO § 256
Leitsätze:
1. Ein nachträglich zum Haupttarif vereinbarter Beitragsentlastungstarif in der privaten Krankenversicherung kann isoliert widerrufen werden. (Rn. 33 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Widerrufsbelehrung, die statt einer ladungsfähigen Anschrift eine Großkundenpostleitzahl enthält, ist nicht ordnungsgemäß und setzt den Lauf der Widerrufsfrist nicht in Gang. (Rn. 42 – 59) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
private Krankenversicherung, Beitragsentlastungstarif, Widerruf, Widerrufsbelehrung, Postfach, ladungsfähige Anschrift, Feststellungsklage
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Endurteil vom 03.02.2025 – 8 U 1284/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39935

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass der Versicherungsvertrag zwischen dem Kläger und der Beklagten (Vertragsnummer ...) im Tarif B nicht mehr fortbesteht, sondern insoweit durch den Widerruf vom 29.11.2022 beendet wurde und der Kläger für die Zukunft nicht zur Zahlung der Prämie aus diesem Tarif verpflichtet ist.
2. Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung an die Beklagte gezahlter Prämien im Tarif B wegen des Widerrufs vom 29.11.2022 ist dem Grunde nach berechtigt.
3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die Feststellung der Wirksamkeit eines Widerrufs bezüglich eines Beitragsentlastungstarifs sowie um Rückzahlung von auf diesen Tarif geleisteten Versicherungsprämien sowie von gezogenen Nutzungen.
2
Zwischen den Parteien besteht seit dem 01.01.2002 ein Versicherungsverhältnis in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung (Vertragsnummer ...).
3
Am 19.09.2011 beantragte der Kläger per vom Versicherungsmakler G an die Beklagte übermitteltem Fax zusätzlich den Einschluss der streitgegenständlichen Beitragsentlastungskomponente in dem Tarif B (sog. Beitragsentlastungstarif; Anlage BLD1)). Das Antragsformular enthielt auf der Rückseite die folgende Widerrufsbelehrung (Anlage BLD2):
4
Am 11.10.2011 nahm die Beklagte das Angebot an und übersandte dem Kläger den Versicherungsschein. Die Versicherungsbedingungen sowie ein Policenbegleitschreiben.
5
Das Begleitschreiben enthielt auf Seite 1 folgende Widerrufsbelehrung:
6
Durch am 08.02.2022 zurückgenommene Klage vor dem LG Nürnberg-Fürth, Az. 2 O 3786/21 hatte der Kläger die Wirksamkeit von Beitragserhöhungen (u.a.) in dem hier streitgegenständlichen Tarif B zum 01.04.2012, 01.04.2013 und 01.01.2015 angegriffen. Es erfolgten außerdem weitere Prämienerhöhungen zum 01.05.2016, 01.01.2019, 01.01.2020 und 01.01.2023. Der Beitragsverlauf ergibt sich aus folgender, von der Klagepartei vorlegten Übersicht, deren tatsächlichen Grundlagen zwischen den Parteien unstreitig sind:
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Zum 01.01.2023 wurde eine weitere Beitragserhöhung auf 194,57 € vorgenommen. Bis zum 21.03.2024 wurden somit Prämien in Höhe von insgesamt 21.744,18 € auf den streitgegenständlichen Tarif einbezahlt.
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Mit anwaltlichem Schreiben vom 29.11.2022 (Anlage K1) erklärte der Kläger den Widerruf beschränkt auf die Tarifkomponente B (Beitragsentlastungstarif). Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 05.12.2022 und lehnte den Widerruf aufgrund Verfristung ab.
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Der Kläger vertritt die Auffassung, dass der Klageantrag in Ziff. 1 als Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) zulässig sei, da sich die Beklagte laufender Ansprüche auf Prämien im Tarif B berühme.
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Der Beitragsentlastungstarif sei als abtrennbare Einheit gegenüber der übrigen Krankenversicherung anzusehen und folglich auch selbstständig widerrufbar. Der Rückzahlungsanspruch ergebe sich sodann aus § 812 Abs. 1 1 Alt. 1 BGB, da der Widerruf mangels wirksamer Belehrung noch fristgerecht erklärt worden sei. Nach Ansicht des Klägers stelle bereits die erneute Belehrung als solche einen Belehrungsmangel dar, jedenfalls gelte wegen Überholung allenfalls die zweite Belehrung in dem Begleitschreiben. Diese zweite Belehrung sei fehlerhaft; insbesondere greife die Gesetzlichkeitsfiktion des § 8 Abs. 5 S. 1 VVG a.F. nicht, da zahlreiche Unterschiede zwischen der damals gültigen Musterwiderrufsbelehrung und der von der Beklagten im Begleitschreiben verwendeten Belehrung bestünden. Davon ausgehend erfülle die Belehrung nicht die gesetzlichen Anforderungen des § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VVG (keine ladungsfähige Anschrift, falscher Fristbeginn, keine deutliche Gestaltung etc.).
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Eine Verwirkung des Widerrufs sei mangels Vertragstreue suggerierenden Verhaltens des Klägers nicht eingetreten; im Übrigen fehle es wegen der erst ab dem 65. Lebensjahr eintretenden Leistungspflicht der Beklagten schon am Zeitmoment.
12
§ 9 VVG sei bei Beitragsentlastungstarifen nicht als vorrangige Spezialregelung anzusehen, da die Vorschrift nach Sinn und Zweck nur auf solche Tarife Anwendung finde, die in tatsächlicher Hinsicht schon vor Ablauf der Widerrufsfrist Versicherungsschutz gewähren (können). Außerdem sei § 9 VVG wegen Verstoßes gegen die RL 2002/65/EG (Fernabsatz-RL) europarechtswidrig und bereits deshalb nicht anwendbar.
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Der Anspruch auf Rückerstattung könne auch nicht um den Abschluss- und Verwaltungskostenanteil gemindert werden. Für die Berechnung von gezogenen Nutzungen aus den gezahlten Prämien sei die in den Geschäftsberichten ausgewiesene Höhe der mit den Kapitalanlagen der Beklagten erzielten Nettozinsen als Grundlage geeignet. Hieraus ergebe sich ein Anspruch auf Herausgabe von gezogenen Nutzungen in Höhe von insgesamt 2.630,13 €.
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Der Kläger beantragt zuletzt,
1) Es wird festgestellt, dass der Vertragsschluss im Tarif B zur Vertragsnummer ... zwischen dem Kläger und der Beklagten wirksam widerrufen wurde und der Kläger für die Zukunft nicht zur Zahlung der Prämie aus diesem Tarif verpflichtet ist.
2) Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger in den unter dem Antrag zu 1) aufgeführten Tarif eingezahlte Prämien in Höhe von 21.744,18 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen und die Nutzungen in Höhe von 2.630,13 € herauszugeben, die die Beklagte bis zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit aus diesem Prämienanteil gezogen hat.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, dass die Klage in Ziff. 1 mangels Feststellungsinteresse bereits unzulässig sei. Die Leistungsklage in Ziff. 2 sei vorrangig, da die Wirksamkeit des Widerrufs hierfür inzident zu prüfen sei. Ein darüberhinausgehendes Interesse sei nicht erkennbar, da über das betreffende Rechtsverhältnis bereits im Urteil über den Leistungsantrag entschieden werde.
17
Die Beklagte geht weiter davon aus, dass ein isolierter Widerruf der Beitragsentlastungskomponente bereits nicht zulässig sei, da es sich um eine einheitliche Vertragserklärung bzgl. der gesamten Krankenversicherung handele.
18
Im Übrigen sei ein Widerruf jedenfalls nicht fristgerecht erklärt, da der Kläger bereits auf der Antragsrückseite, jedenfalls aber im Policenbegleitschreiben ordnungsgemäß belehrt worden und somit die 14-tätige Widerrufsfrist durch Erhalt des Versicherungsscheins in Gang gesetzt worden sei.
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Hilfsweise stellt die Beklagte darauf ab, dass der Widerruf wegen Verwirkung treuwidrig und damit unzulässig sei. Dabei sei von besonderer Bedeutung, dass ein etwaiger Belehrungsfehler die Ausübung des Widerrufs nicht erschwert habe und ein Teilwiderruf dem Sinn und Zweck des § 8 VVG widerspräche. Der Kläger habe außerdem durch seine Klage gegen die Beitragsanpassungen im Entlastungstarif gezeigt, dass er mit dem Einschluss dieser Tarifkomponente dem Grunde nach einverstanden sei.
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Weiter hilfsweise ist die Beklagte der Auffassung, dass der Kläger selbst bei einem unterstellten wirksamen Widerruf keine Rückzahlung der Prämien für den gesamten Vertragszeitraum verlangen könne. Die Rechtsfolgen richteten sich ausschließlich nach § 9 VVG, wobei hier wegen Inanspruchnahme von Leistungen aus der Krankenversicherung, zu welcher die Tarifkomponente B nur einen unselbstständigen Annex darstelle, im ersten Vertragsjahr auch § 9 Abs. 1 S. 2 VVG nicht anwendbar sei.
21
Hilfsweise bringt die Beklagte zu den Rechtsfolgen vor, dass von einem etwaigen Prämienerstattungsanspruch die Risikokosten in Abzug gebracht werden müssten, da es sich insoweit um eine vom Kläger erlangte Versicherungsleistung handele.
22
In Bezug auf die Nutzungen stünden Risikokosten a priori nicht zur Nutzungsziehung zur Verfügung. Auch Abschluss- und Verwaltungskosten blieben bei der Nutzungsziehung außer Betracht; zumindest könnten sie nicht in voller Höhe angesetzt werden. Für die Zinsberechnung dürfe nicht auf die Nettoverzinsung der Kapitalanlagen der Beklagten, sondern allenfalls auf die zehnjährige Null-Kupon-Euro-Swaprate abgestellt werden.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die wechselseitigen Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
24
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 04.04.2024 keinen Beweis erhoben.

Entscheidungsgründe

25
Die Klage ist – bei sachgerechter Auslegung – bezüglich des Antrags zu 1) zulässig und begründet, bzgl. des Antrags zu 2) dagegen noch nicht entscheidungsreif. Die Kammer macht deshalb von der Möglichkeit eines Teil- und Grundurteils Gebrauch (§ 301 ZPO).
A.
26
Die Feststellungsklage (Ziffer 1. des Klageantrags) ist zulässig (I.) und begründet (II.)
27
I. Die Voraussetzungen sowohl des § 256 Abs. 1 als auch des § 256 Abs. 2 ZPO liegen vor.
28
1. Bedenken bestehen zwar insoweit, als (auch) die Feststellung der Wirksamkeit eines Widerrufs begehrt wird. Denn die Wirksamkeit eines Widerrufs kann nicht Gegenstand einer Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1, 2 ZPO sein, weil es sich hierbei lediglich um eine Vorfrage über den Bestand eines feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses handelt (BGH Urt. v. 17.10.2023 – XI ZR 72/22, BeckRS 2023, 31075 Rn. 16 zu einer Kündigungserklärung; zu § 256 Abs. 2: BGH, Urteil vom 3. 5. 1977 – VI ZR 36/74, NJW 1977, 1288 unter II.1.; vgl. auch OLG Dresden Hinweisbeschluss v. 18.3.2024 – 4 U 2056/23, BeckRS 2024, 6863 Rn. 6).
29
Klagebegehren sind allerdings – ggf. auch gegen ihren Wortlaut – dahingehend verständig auszulegen, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht (BGH, Urteil vom 8.7.2015 – VIII ZR 106/14, NJW 2015, 3564 Rn. 18 f.). Demnach ist der Feststellungsantrag als – zulässige – Feststellung auszulegen, dass der Versicherungsvertrag im Tarif B nicht mehr fortbesteht, sondern insoweit beendet ist.
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2. Der Kläger kann sich insoweit auf ein Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO) hinsichtlich der begehrten Feststellung berufen. Allein mit dem vom Kläger erstrebten Leistungsurteil wäre nicht rechtskräftig festgestellt, dass er zukünftig nicht zur Zahlung des sich aus dem Beitragsentlastungstarif verpflichtet ist. Die Situation ist insofern vergleichbar mit der einer Feststellungsklage in Hinblick auf die Unwirksamkeit mehrerer zeitlich gestaffelter Prämienerhöhungen, worüber der BGH bereits entschieden hat (Urteil vom 19.12.2018, IV ZR 255/17, Rn. 17, Juris). Der Leistungsantrag betrifft nur die Leistungen für die Vergangenheit und hat keinerlei rechtliche Bedeutung für die Zukunft. Dass ein „vernünftiger Beklagter“ bei Erlass eines Leistungsurteils keine Beiträge aus dem streitigen Tarif mehr einfordern würde, ändert am Feststellungsinteresse nichts.
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3. Die begehrte Feststellung der Wirksamkeit ist zudem eine Vorfrage für den Leistungsantrag und geht zugleich über das dort erfasste Rechtsschutzziel des Klägers hinaus, sodass auch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Für letzteres muss zumindest eine Möglichkeit bestehen, dass die angestrebte Zwischenfeststellung für die Rechtsbeziehungen der Parteien über den Hauptantrag hinaus Bedeutung hat oder gewinnen kann (BGH, Urteil vom 10.12.1993, V ZR 158/92, Rn. 5, Juris). Dies ist hier ohne weiteres der Fall, da der Kläger lediglich einen Teil des an sich fortlaufenden Versicherungsvertrages widerrufen will. Klageantrag 1 ist deshalb auch als Zwischenfeststellungsklage im Sinne von § 256 Abs. 2 ZPO zulässig (BGH aaO).
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II. Die Feststellungsklage ist begründet, da der mit Schreiben vom 29.11.2022 erklärte Widerruf nach § 8 Abs. 1 VVG wirksam war.
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1. Ein isolierter Widerruf der Tarifkomponente B ist möglich (§ 8 Abs. 1 VVG).
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a) Da der Vertragsschluss hinsichtlich der Tarifkomponente B im September/Oktober 2011 erfolgte, ist § 8 Abs. 1 VVG in der vom 04.08.2011 bis 12.06.2014 geltenden Fassung anwendbar. Demnach kann der Versicherungsnehmer seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen widerrufen. Der Widerruf ist in Textform gegenüber dem Versicherer zu erklären und muss keine Begründung enthalten; zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.
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b) Der Versicherungsnehmer kann seinen Widerruf grundsätzlich auch auf einen Teil des Vertrages beschränken (Teilwiderruf).
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aa) Das Widerrufsrecht erfasst nicht nur den erstmaligen Abschluss eines Vertrages, sondern auch später vorgenommene einvernehmliche Änderungen unabhängig von ihrem Umfang und ihrer Bedeutung (BGH, Urteil vom 12.9.2012 – IV ZR 258/11, r+s 2012, 552 Rn. 8).
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bb) Auch wenn man ein „erneutes“ Widerrufsrecht auf Änderungen von einigem Gewicht, die auch Gegenstand eines eigenständigen Versicherungsvertrages sein könnten, beschränken wollte (offen gelassen von BGH, Urteil vom 12.9.2012 – IV ZR 258/11, r+s 2012, 552 Rn. 9), würde dies einem Teilwiderruf im Streitfall nicht entgegenstehen: Durch die Vertragserweiterung um den Tarif B hat zu einer Prämienerhöhung um 110,88 € und damit zu einer wesentlichen finanziellen Zusatzbelastung der Klagepartei als Versicherungsnehmer geführt; der Versicherungsvertrag wurde so wesentlich geändert.
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cc) Zudem spricht für einen Teilwiderruf hinsichtlich des Beitragsentlastungstarifs auch, dass dieser eine eigenständige Krankenversicherung im Rahmen der „Hauptversicherung“ darstellt. Die rechtliche Eigenständigkeit dieses Tarifs zeigt sich zum einen darin, dass er zwar neben einer Krankheitskostenversicherung, aber nicht zugleich mit dieser vereinbart werden muss, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen und jederzeit durch Kündigung des Versicherungsnehmers unabhängig von der Hauptversicherung beendet werden kann. Zum anderen wird für die vereinbarte Beitragsentlastungsleistung eine eigene Prämie erhoben und unabhängig von den Prämien in den bestehenden Krankheitskosten- oder Krankenhaustagegeldtarifen kalkuliert (zu alledem BGH, Urteil vom 17.01.2024, IV ZR 51/22).
39
dd) Schließlich indiziell spricht für einen Teilwiderruf auch, dass es die Beklagte offenbar ohne weiteres für erforderlich hielt, den Kläger über ein (eigenständiges) Widerrufsrecht hinsichtlich des Beitragsentlastungstarifs zu belehren.
40
c) Der Teilwiderruf bezieht sich dann nur auf die Vertragsänderung, während der Vertrag im Übrigen, soweit bei diesem das Widerrufsrecht abgelaufen ist, bestehen bleibt (BGH, Urteil vom 12.9.2012 – IV ZR 258/11, r+s 2012, 552 Rn. 9).
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Im Streitfall verbliebe nach wirksamem Teilwiderruf ein Vertragsinhalt, der dem „Status Quo“ vor der dahingehenden (Zusatz-)Vereinbarung der Parteien entspricht. Insoweit behält der Versicherungsvertrag zweifellos einen Sinn und ist der Geltung fähig. Die Teilbarkeit ergibt sich ferner auch daraus, dass gemäß den besonderen Vertragsbedingungen zum streitgegenständlichen Tarif (unstreitig) die Möglichkeit eingeräumt wird, diesen unabhängig vom Hauptvertrag zu kündigen.
42
2. Der Kläger wurde über sein Widerrufsrecht nicht ordnungsgemäß belehrt, sodass die Widerrufsfrist gemäß § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VVG a.F. nicht begonnen hatte. Damit war der am 29.11.2022 erklärte Widerruf noch fristgemäß.
43
a) Die maßgebliche Fassung des § 8 VVG (vom 27.07.2011, gültig vom 04.08.2011 bis 12.06.2014) lautete auszugsweise wie folgt:
„(1) 1Der Versicherungsnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen widerrufen. 2Der Widerruf ist in Textform gegenüber dem Versicherer zu erklären und muss keine Begründung enthalten; zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.
(2) 1Die Widerrufsfrist beginnt zu dem Zeitpunkt, zu dem folgende Unterlagen dem Versicherungsnehmer in Textform zugegangen sind:
1. der Versicherungsschein und die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen sowie die weiteren Informationen nach § 7 Abs. 1 und 2 und 2. eine deutlich gestaltete Belehrung über das Widerrufsrecht und über die Rechtsfolgen des Widerrufs, die dem Versicherungsnehmer seine Rechte entsprechend den Erfordernissen des eingesetzten Kommunikationsmittels deutlich macht und die den Namen und die ladungsfähige Anschrift desjenigen, gegenüber dem der Widerruf zu erklären ist, sowie einen Hinweis auf den Fristbeginn und auf die Regelungen des Absatzes 1 Satz 2 enthält.
2Der Nachweis über den Zugang der Unterlagen nach Satz 1 obliegt dem Versicherer.
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b) Den vorgenannten Anforderungen des § 8 VVG wurde im Streitfall vonseiten der Beklagten nicht genügt.
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(1) Die Kammer geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass es für die Prüfung der Ordnungsgemäßheit maßgeblich nur auf die zweite Belehrung im Policenbegleitschreiben vom 11.10.2011 (Anlage B3) ankommt (so im Ergebnis bei zeitlich gestaffelter doppelter Belehrung auch BGH, Urteil vom 17.06.2015, IV ZR 489/14, Rn. 12, Juris und Urteil vom 28.01.2004, IV ZR 58/03, Rn. 16, Juris je zu § 5a VVG aF).
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(a) Ausgangspunkt hierfür ist die höchstgerichtliche Rechtsprechung, die bei der Ordnungsgemäßheit einer von mehreren Widerspruchsbelehrungen danach fragt, ob der Versicherungsnehmer durch eine weitere – formal oder inhaltlich nicht ordnungsgemäße – Belehrung irregeführt oder von einem rechtzeitigen Widerspruch abgehalten wurde (BGH, Urteil vom 16.12.2015, IV ZR 71/14, Rn. 11, Juris in Abgrenzung zu BGH, Urteil vom 18. Oktober 2004 – II ZR 352/02 –, juris Rn. 17).
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Bei gleichzeitigen widersprüchlichen Belehrungen gehen einige Gerichte (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 24.05.2012, 4 U 48/12, BeckRS 2012, 13246; LG Dortmund, Urteil vom 09.12.2016, 3 O 569/15, Rn. 21, Juris; vorsichtig LG Frankfurt, Urteil vom 31.05.2016, 2 O 200/15, Rn. 36, Juris) darüber hinaus bereits aufgrund dieses Umstandes von einer insgesamt nicht ordnungsgemäßen Belehrung aus. Eine Belehrung sei nur dann ordnungsgemäß, wenn sie für den Verbraucher eindeutig klarstellt, welche einzelnen Bedingungen für die Ausübung des Rechts gelten und welche Folgen die Ausübung des Rechts hat. Es dürften somit grundsätzlich keine unterschiedlichen Belehrungen erteilt werden, weil der Verbraucher dadurch irritiert werde und letztlich nicht wisse, welche der Belehrungen richtig ist und gelten soll. Ob dem gefolgt wird, kann vorliegend dahinstehen.
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(b) Es ist überaus naheliegend, dass ein verständiger Versicherungsnehmer davon ausgehen dürfte, dass eine „jüngere“ Belehrung eine vorher erfolgte „ersetzt“. Bezöge man in die Prüfung auch die erste Belehrung im Antragsformular (Anlage K2) ein, bestünde die Gefahr, dass der Versicherungsnehmer zur Geltendmachung seiner Rechte in verschiedenen Schriftstücken nach den richtigen Informationen „suchen“ müsste und schon wegen etwaiger Falschinformationen in der späteren Belehrung ggf. von der Ausübung seines Widerrufsrechts abgehalten würde. Der Versicherer könnte dagegen zeitlich gestaffelt gefahrlos verschiedene Belehrungen verwenden, solange nur (irgend) eine den gesetzlichen Anforderungen genügt. Dies würde dem gesetzgeberisch intendierten Verbraucherschutz in keiner Weise gerecht und gilt hier umso mehr, da in der zweiten Belehrung nicht auf die Belehrung im Antragsformular Bezug genommen wurde.
49
Bei dem hier vorliegenden zeitlichen Ablauf (erste Belehrung – zugunsten der Beklagten: unterstellt – ordnungsgemäß, zweite Belehrung fehlerhaft) ist nach der o.g. BGH-Rechtsprechung deswegen davon auszugehen, dass der Versicherungsnehmer durch die weitere – nachfolgende – Belehrung irregeführt wurde.
50
(2) Die Beklagte kann sich nicht auf die Gesetzlichkeitsfiktion nach § 8 Abs. 5 S. 1 VVG aF berufen. Demnach genügt zu erteilende Belehrung den Anforderungen, wenn das Muster der Anlage zum VVG in Textform verwendet wird.
51
Auch unter Berücksichtigung der nach § 8 Abs. 5 S. 2 VVG aF zulässigen Abweichungen genügt die Belehrung des Policenbegleitschreibens aber nicht dem Muster:
52
So wird in diesem erklärt, dass die Frist erst beginnt, nachdem der Versicherungsnehmer „den Versicherungsschein, die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die weiteren Informationen nach § 7 Abs. 1 und 2 des Versicherungsvertragsgesetzes in Verbindung mit den §§ 1 bis 4 der VVG-Informationspflichtenverordnung und diese Belehrung jeweils in Textform erhalten haben“. In der streitgegenständlichen Belehrung wird für den Fristbeginn aber nur auf den Zugang des Versicherungsscheins abgestellt. Zudem wird zu den Widerrufsfolgen – abweichend vom Muster – nicht darauf hingewiesen, dass der Versicherungsschutz endet und auch nicht, dass die Beklagte ggf. gezogene Nutzungen herauszugeben hat.
53
(3) Ungeachtet dessen entspricht die maßgebliche Belehrung im Policenbegleitschreiben vom 11.10.2011 (Anlage B3) aber auch sonst in mehrerlei Hinsicht nicht den gesetzlichen Vorgaben.
54
(a) Erstens enthält die Belehrung keine „ladungsfähige Anschrift“.
55
(i) Dabei kann dahinstehen, ob der im Begleitschreiben hierzu vorgenommene Verweis auf den Briefkopf überhaupt zulässig ist. Dagegen spricht, dass das Gesetz die Nennung der Anschrift in der Belehrung fordert („Belehrung (…), die (…) die ladungsfähige Anschrift (…) enthält“).
56
(ii) Die im Briefkopf angegebene Bezeichnung „A“ ist keine ladungsfähige Anschrift im Sinne des § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VVG (so ausdrücklich zur Postleitzahl auch Prölss/Martin/Armbrüster, 31. Aufl. 2021, VVG § 8 Rn. 21; Ebers in: Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, 4. Aufl. 2021, § 8 VVG Rn. 49; vgl. auch OLG Koblenz, Urteil vom 9. Januar 2006 – 12 U 740/04 –, juris).
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Die Beklagte verweist zwar an sich zutreffend darauf, dass das insoweit von der Klagepartei angeführte Urteil des BGH vom 20.06.2017 (XI ZR 72/16, Rn. 26, Juris) den Widerruf eines Verbraucherdarlehens betrifft. Aus der insoweit maßgeblichen Passage
„Entgegen Gestaltungshinweis (3) der Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV aF fehlte die – insoweit in Übereinstimmung mit den höherrangigen gesetzlichen Vorschriften geforderte – Angabe der ladungsfähigen Anschrift (Senatsurteil vom 12. Juli 2016 – XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 24). Die Kombination der Ortsangabe mit einer Großkundenpostleitzahl anstelle der Angabe von Straße und Hausnummer nebst zugehöriger Postleitzahl ist zwar gesetzeskonform, entsprach aber der Vorgabe der BGB-Informationspflichten-Verordnung nicht“ (Rn. 26, Juris)
ergibt sich aber, dass der BGH eine Großkundenpostleitzahl nicht als „ladungsfähige Anschrift“ (welche von Gestaltungshinweis (3) der Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV a. F. gefordert wird) ansieht.
58
Dort hatte dies (nur) den Verlust der Gesetzlichkeitsfiktion zur Folge, hier war die Angabe einer „ladungsfähigen Anschrift“ aber (weitergehend) Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Belehrung. Da es in beiden Fällen gleichfalls um die Angabe der Adresse für die Widerrufserklärung (nicht etwa: erhaltene Ware) geht, steht der Übertragbarkeit auch nicht entgegen, dass das o.g. Urteil in Zusammenhang mit einem Verbraucherdarlehen erging.
59
Nur diese Auslegung entspricht außerdem dem Zweck des Gesetzes, in das das Erfordernis einer „ladungsfähigen Anschrift“ erst mit der zum 17.12.2009 geltenden Fassung ausdrücklich aufgenommen wurde (vgl. abgrenzend BGH, Urteil vom 12.7.2016 – XI ZR 564/15, NJW-RR 2017, 1197 Rn. 16 zu § 355 BGB aF). Durch die Verwendung einer Großkundenpostleitzahl wird die Geltendmachung des als allgemeines Reuerecht konstruierten Widerrufsrechts nicht ganz unerheblich erschwert, da dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer die fehlende Angabe von Straße und Hausnummer unbekannt vorkommen dürfte. Die Beklagte bringt selbst vor, dass Großkundenpostleitzahlen im geschäftlichen Verkehr üblich seien.
60
(iii) Dass schließlich in der Fußzeile auf Seite 1 des Anschreibens in „Millimeterschrift“ eine Adresse genannt ist (“C“), kann das vorbeschriebene Defizit nicht beheben. Zum einen kann der Versicherungsnehmer nicht gehalten sein, bei einem Verweis auf den BriefKOPF in der FUßzeile zu suchen; zum anderen wird dort auch noch geschrieben: „Postanschrift: …“, was unmittelbar nachfolgend zur vorgenannten Adresse die Verwirrung komplett macht.
61
(iv) Rein vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass auch die Belehrung im Antrag vom 19.09.2011 (Anlage BLD1 i.V.m. BLD2) lediglich eine „Postfach-Anschrift“ benennt – zudem eine nochmals andere als im Begleitschreiben („Postfach ..., ...“).
62
(b) Zweitens mangelt es im Begleitschreiben insoweit an der Angabe von „Namen und die ladungsfähige Anschrift desjenigen, gegenüber dem der Widerruf zu erklären ist“, als im Briefkopf neben der Großkundenpostleitzahl der Beklagten selbst auch der betreuende Versicherungsvertreter und mit diesem zwei gänzlich verschiedene Adressen genannt werden.
63
Das Gesetz verlangt indes eindeutig im Singular den Namen und die Anschrift; der Versicherungsnehmer soll sich keine Gedanken dahingehend machen müssen, wie er sein Recht „am besten“ ausübt. Es ist überdies auch jedenfalls denkbar, dass die doppelte Benennung bei einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer Unklarheit hervorruft und ihn von der Ausübung seines Widerrufrechts abhält. Es ist nämlich nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer weiß, dass der Widerruf an beide Adressen versendet werden könnte bzw. vom Vertreter an den Versicherer weitergeleitet würde.
64
Zudem ist auch für den Versicherungsvertreter eine Telefonnummer angegeben (dazu unmittelbar nachfolgend).
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(c) Drittens verstößt die Belehrung gegen das Gebot einer „deutlichen Gestaltung“.
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Hierzu ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Angabe einer Telefonnummer in einer Widerrufsbelehrung die Gefahr bergen kann, dass der Verbraucher den Inhalt der Widerrufsbelehrung irrtümlich dahin versteht, er könne sein Widerrufsrecht auch telefonisch ausüben, was das Gesetz gerade nicht erlaubt. Die Angabe der Telefonnummer ist dann geeignet, den Leser von dem zutreffenden Inhalt der Widerrufsbelehrung abzulenken und verletzt deshalb das Deutlichkeitsgebot (so übereinstimmend OLG Frankfurt, Urteil vom 17.06.2004, 6 U 158/03, Rn. 8 f.; KG, Beschluss vom 07.09.2007, 5 W 266/07, Rn. 5; OLG Hamm, Urteil vom 02.07.2009, 4 U 43/09, Rn. 43; allgemein zu „ablenkenden“ Zusätzen in der Belehrung BGH, Urteil vom 04.07.2002, I ZR 55/00, Rn. 17; jeweils Juris).
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Hier wird die Telefonnummer zwar nicht in der Belehrung selbst aufgeführt, befindet sich aber unmittelbar unterhalb der Adresse bzw. Großkundenpostleitzahl im Briefkopf, auf die in der Belehrung verwiesen wird. Demnach kann die Angabe der Telefonnummer hier nur so verstanden werden, dass der Widerruf auch telefonisch erklärt werden kann – wie gerade nicht. Dem steht auch nicht entgegen, dass in der eigentlichen Widerrufsbelehrung (zutreffend) steht, dass der Widerruf in Textform zu erklären ist. Der Verbraucher weiß nicht, was denn nun gelten soll, wenn er mit zwei widersprüchlichen Informationen konfrontiert wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 02.07.2009, 4 U 43/09, Rn. 44). Die telefonische Regelung von Vertragsverhältnissen ist für Verbraucher weiterhin eine geläufige Sache, zum streitgegenständlichen Zeitpunkt ohnehin.
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(d) Viertens belehrte der Passus nicht hinreichend über die „Rechtsfolgen des Widerrufs“.
69
Nach einhelliger Ansicht in der Literatur wird zu Recht verlangt, dass die Belehrung auch darüber in Kenntnis setzt, dass durch einen Widerruf der Versicherungsschutz endet (BeckOK-VVG / Brand, 01.08.2023, § 8 Rn. 33; MüKo-VVG / Eberhardt, 3. Auflage 2022, § 8 Rn. 74; Langheid/Rixecker/Rixecker, 7. Aufl. 2022, VVG §§ 8nF, 8 Rn. 12; Prölss/Martin/Armbrüster, 31. Aufl. 2021, VVG § 8 Rn. 20; Ebers in: Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, 4. Aufl. 2021, § 8 VVG Rn. 41), was hier nicht geschehen ist.
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Zudem gehört zur ordnungsgemäßen Belehrung iSv § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG für den Fall, dass der Versicherungsschutz nicht vor dem Ende der Widerrufsfrist beginnt, neben dem Hinweis auf die Rückgewähr empfangener Leistungen auch der Hinweis auf die herauszugebenden gezogenen Nutzungen (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2023 – IV ZR 40/22 –, juris). Im Begleitschreiben wird auf keine von beiden hingewiesen.
71
(e) Fünftens enthält die Belehrung keinen ordnungsgemäßen „Hinweis auf den Fristbeginn“.
72
Die Belehrung nennt nicht sämtliche Unterlagen, deren Zugang für die Fristauslösung erforderlich ist. Nach der maßgeblichen Fassung des § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VVG waren dies a) der Versicherungsschein, b) die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen sowie c) die weiteren Informationen, die nach der VVG-Informationspflichtenverordnung mitzuteilen sind. Die Nichtbenennung aller Unterlagen, die für die Auslösung der Frist zugegangen sein müssen, verhindert die Ingangsetzung der Widerrufsfrist (so BGH, Urteil vom 07.09.2016, IV ZR 306/14, Rn. 11).
73
(4) Die damit fehlerhafte bzw. unvollständige Belehrung steht einer nicht erteilten Belehrung gleich (allg. Grundsatz; vgl. EuGH, Urteil vom 10.04.2008, C-412/06, Rn. 35).
74
(5) Dem Kläger ist es nicht verwehrt, sich auf diese Belehrungsfehler zu berufen.
75
(a) Zwar kann nach jüngerer höchstrichterlicher Rechtsprechung (unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 19.12.2019, C-355/18 u.a., Rn. 79, Juris) die Berufung auf Belehrungsfehler gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein nur geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Dann ist es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus dem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (BGH, Urteil vom 15.02.2023, IV ZR 353/21, Rn. 16, Juris).
76
Eine derartige geringfügige Abweichung der erfolgten von der erforderlichen Belehrung nimmt der BGH z.B. an, wenn die Belehrung eine Schriftform des Widerrufs verlangt, wo nur eine Textform notwendig war. Dagegen liegt kein geringfügiger Belehrungsfehler vor, wenn der Verbraucher über keinerlei Form eines Widerrufs belehrt wurde (BGH, Urteil vom 15.03.2023, IV ZR 40/21, Rn. 14, Juris).
77
(b) Nach diesem rechtlichen Rahmen ist im Streitfall ein geringfügiger Belehrungsfehler und ein Verstoß gegen Treu und Glauben nicht gegeben.
78
Zwar ist der unterblieben Hinweis auf die Übersendung von Versicherungsschein, Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen für den Beginn der Widerspruchsfrist vom BGH bereits als geringfügiger Belehrungsfehler eingestuft worden – allerdings unter der weiteren Voraussetzung, dass an anderer Stelle des Begleitschreibens ausdrücklich auf die Übersendung von Versicherungsschein, Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen hingewiesen wurde (BGH, Urteil vom 17. Januar 2024 – IV ZR 19/23 –, juris Rn. 13 f.). Im Streitfall sind die übrigen Unterlagen – außer dem Versicherungsschein – jedoch im Begleitschreiben nicht benannt.
79
Die streitgegenständlich maßgebliche Belehrung enthält zudem nicht nur mehrere Fehler (vgl. dazu BGH, Urteil vom 17. Januar 2024 – IV ZR 19/23 –, juris Rn. 15), sondern mit der in mehrerlei Hinsicht fehlerhaften und undeutlichen Angabe der Empfängeradresse auch mindestens einen „nicht geringfügigen“ im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung. Dies ergibt sich zumindest aus der Kombination von Verweisung auf den Briefkopf statt unmittelbarer Nennung der Anschrift, Nennung zweier Anschriften im Briefkopf sowie der Verwendung einer Großkundenpostleitzahl.
80
3. Der Widerruf ist nicht wegen Verwirkung bzw. treuwidriger Rechtsausübung (§ 242 BGB) ausgeschlossen.
81
a) Nach der Rechtsprechung des BGH kann auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerrufsbelehrung die Geltendmachung des Widerrufsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind (ausdrücklich zu § 8 VVG: BGH, Urteil vom 11. Oktober 2023 – IV ZR 41/22 –, BGHZ 238, 282-302 Rn. 24 m.w.N.).
82
Die langjährige Durchführung als solche, wie im Streitfall über ca. 11 Jahre, genügt jedenfalls für sich genommen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2023 – IV ZR 40/22 –, juris Rn. 21). Ein langer Zeitablauf ist auch nicht im Rahmen der Gesamtwürdigung besonders gravierender Umstände, die ein Vertrauen der Beklagten in den Bestand des Versicherungsvertrages begründen und den erklärten Widerruf als grob widersprüchliches Verhalten erscheinen lassen durften, miteinzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2024 – IV ZR 297/22 –, juris Rn 18). Dabei stellt die reine Prämienzahlung keinen besonders gravierenden Umstand dar (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 – IV ZR 399/15 –, juris).
83
Der von der Beklagten angeführten Regelung bzw. absoluten 10-Jahresgrenze des § 124 Abs. 3 BGB kann in diesem Zusammenhang keine entscheidende Bedeutung beikommen (überzeugend OLG München, Urteil vom 29. September 2022 – 14 U 2690/21 –, juris Rn. 66 f.; OLG Rostock, Urteil vom 8. März 2022 – 4 U 51/21 –, juris Rn. 108).
84
b) Anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Kläger vor Erklärung des Widerrufs klageweise gegen Beitragserhöhungen in der Krankenversicherung, auch im streitgegenständlichen Tarif, vorgegangen ist (LG Nürnberg-Fürth, Az. 2 O 3786/21).
85
(1) Die von Beklagtenseite zitierten Entscheidungen, welche aus einer vorangegangenen Klage gegen Beitragserhöhungen auf Verwirkung bzw. treuwidrige Rechtsübung schließen, beruhen entscheidend auf der Annahme, dass eine solche Klage zum Ausdruck bringe, dass der (jeweilige) Kläger „grundsätzlich am Vertrag festhalten möchte, denn die Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit etwaiger Beitragserhöhungen ist gerade, dass zwischen den Parteien ein Vertrag besteht.“ Durch das Angreifen von Erhöhungen werde „zum Ausdruck gebracht, dass er sich mit dem Inhalt des Vertrags auseinandergesetzt hat, diesen grundsätzlich als wirksam erachtet und nunmehr bestimmte Rechte aus dem Vertrag geltend macht“.
86
(2) Dieser Folgerung vermag sich die Kammer aus nachfolgenden Gründen nicht anzuschließen:
87
(a) Erstens ist es kein Widerspruch, wenn ein Versicherungsnehmer zunächst Rechte aus einem bestehenden Vertrag geltend macht und sich später auf Rechte aus dem Widerruf dieses Vertrages beruft. Die Erklärung eines Widerrufs setzt die bis zur Widerrufserklärung bestehende (schwebende) Wirksamkeit des Vertrages vielmehr (im Grundsatz) voraus (vgl. Prölss/Martin/Armbrüster, 31. Aufl. 2021, VVG § 8 Rn. 9).
88
Entsprechend hat der BGH in Bezug auf Lebensversicherungsverträge entschieden, dass die zuerst erklärte Kündigung des Versicherungsvertrages den späteren Widerruf nicht ausschließt. Bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Belehrung über das Widerrufsrecht sei nicht sichergestellt, dass dem Versicherungsnehmer zur Zeit der Kündigung bewusst ist, neben dem Kündigungsrecht ein Recht zum Widerruf zu haben, um so die Vor- und Nachteile einer Kündigung gegen die eines Widerrufs abwägen zu können (BGH, Urteil vom 16.10.2013, IV ZR 52/12, Rn. 24, Juris).
89
Dieser Gedanke ist auf die vorliegende Konstellation übertragbar, da dem Versicherungsnehmer mit der Klage gegen die Beitragserhöhungen sowie dem Widerruf des gesamten Tarifs auch hier mehrere Optionen gegen das Fortbestehen der (erhöhten) Beitragspflicht zur Verfügung standen. Der Kläger hat durch seine Klage gegen die Beitragserhöhungen gerade gezeigt, dass er sich gegen die (erhöhte) Beitragspflicht zur Wehr setzt. Damit kann es nicht überzeugen, aus diesem Umstand gerade umgekehrt ein Vertrauen des Versicherers für einen unbedingten Willen des Versicherungsnehmers herzuleiten, am Vertrag festhalten zu wollen.
90
Jedenfalls aber kann der Versicherungsnehmer mit seiner Klage gegen Beitragserhöhungen aus der maßgeblichen Sicht der Beklagten als Vertragspartner genauso gut zum Ausdruck bringen (wollen), mit dem status quo des Versicherungsvertrages nicht zufrieden zu sein und an diesem uneingeschränkt festhalten zu wollen.
91
b) Zweitens darf bei der maßgeblichen Würdigung des Verhaltens aus Sicht des Versicherers nicht außer Betracht bleiben, dass der Versicherungsnehmer sich aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen durchaus dazu entscheiden kann, zunächst nur gegen Beitragserhöhungen vorzugehen und im Anschluss den Vertrag insgesamt zu widerrufen.
92
Es ist zwanglos denkbar, dass ein Versicherungsnehmer den Beitragsentlastungstarif nur bis zu einer bestimmten Beitragshöhe als Vorteil empfindet und es bei Übersteigen dieser „Schwelle“ – dabei könnte unabhängig von versicherungstechnischen Erwägungen auch schlicht die aktuelle finanzielle Situation des Versicherungsnehmers ein Beweggrund sein – vorzieht, sich vom Beitragsentlastungstarif insgesamt zu lösen und auf die angesparte Beitragsersparnis im Alter zu verzichten.
93
Sofern die für den Versicherungsnehmer subjektiv „beste“ Variante (Beibehaltung des ursprünglichen / bisherigen Beitrags) aus Rechtsgründen nicht erreichbar ist, liegt es gerade nach Abweisung der Anpassungsklage (bzw. hier: Rücknahme nach entsprechendem Hinweis des Gerichts) nahe, nach Kenntniserlangung von der Widerrufbarkeit die „zweitbeste“ Lösung zu suchen (Befreiung vom Entlastungstarif insgesamt). Mit anderen Worten zeigt der Versicherungsnehmer durch die Klage gegen die Beitragsanpassungen (nur), dass er am bisherigen Beitrag festhalten will, nicht aber gleichzeitig am Vertrag zum erhöhten Beitrag insgesamt. Weitergehende Erklärungen und / oder einen Verzicht auf sonstige (Gestaltungs-)Rechte vermag die Kammer in einer solchen Klage damit nicht zu erkennen.
94
Diese Überlegung gälte im Übrigen sogar dann unverändert, wenn dem Versicherungsnehmer die Widerrufbarkeit des Vertrages von Anfang an bekannt wäre. Denn auch dann ginge der Versicherungsnehmer durch eine Klage gegen Beitragserhöhungen ein unzumutbar großes Risiko ein, da von ihm taktische Erwägungen zu den Erfolgsaussichten solcher Klage im Verhältnis zu den Risiken der Ausübung seines Widerrufrechts verlangt würden. Warum dies zum Vorteil des Versicherers gereichen soll, dem mangels ordnungsgemäßer Belehrung im Ausgangspunkt gerade kein schutzwürdiges Vertrauen zusteht, überzeugt die Kammer nicht.
B.
95
Über den Leistungsantrag in Ziffer 2. kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht entschieden werden, sodass insoweit ein Grundurteil (§ 304 Abs. 1 ZPO) ergeht. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen zur Rückabwicklung infolge des nach dem Vorstehenden zu A.II. wirksamen Widerrufs:
96
I. Maßgeblich für die Rückabwicklung sind im Streitfall die §§ 357 Abs. 1 S. 1, 346 ff. BGB in der bis zum 12.06.2014 geltenden Fassung (Art. 229 § 32 Abs. 1 EGBGB); § 9 VVG ist hingegen nicht anwendbar.
97
1. In seinem Anwendungsbereich ist § 9 VVG lex specialis gegenüber den allgemeinen Regeln der §§ 355 ff. BGB zum (Verbraucher-)Widerruf (BGH, Urteil vom 13.09.2017, IV ZR 445/14, Rn. 20 – Juris). Die Rückabwicklung richtet sich, sofern § 9 VVG grundsätzlich Anwendung findet, nur dann (dennoch) nach den allgemeinen Vorschriften, wenn der Versicherungsnehmer einem vorzeitigen Beginn des Versicherungsschutzes nicht wirksam zugestimmt hat.
98
2. § 9 Abs. 1 VVG ist jedoch schon tatbestandlich auf solche Fälle nicht anwendbar, in denen die Parteien nicht vereinbart haben, dass der Versicherungsschutz vor Ablauf der Widerrufsfrist beginnen soll (BeckOK-VVG / Brand, 01.08.2023, § 9 Rn. 3; Schwintowski/Brömmelmeyer / Ebers, 4. Auflage 2021, § 9 Rn. 12). § 9 Abs. 1 VVG setzt nicht nur in dem von seinem Satz 1 erfassten Fall voraus, dass der Versicherungsnehmer in der Belehrung nach § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VVG auf sein Widerrufsrecht, die Rechtsfolgen des Widerrufs und den zu zahlenden Betrag hingewiesen worden ist, sondern auch im Fall seines Satzes 2, in dem der genannte Hinweis – wie hier – unterblieben oder unrichtig erteilt worden ist, dass ein Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist vereinbart wurde und der Versicherungsnehmer dem Beginn zugestimmt hat (BGH aaO, Rn. 21 – Juris).
99
3. Demnach ist der Anwendungsbereich des § 9 VVG nicht eröffnet.
100
a) Der Antrag des Klägers (Anlage BLD1) stammt vom 19.09.2011, das Policenbegleitschreiben (Anlage BLD3) ist auf den 11.10.2011 datiert, wohingegen der Versicherungsschutz im streitgegenständlichen Tarif – worauf es hier allein ankommt – erst ab dem 01.12.2011 und damit deutlich mehr als 14 Tage später beginnen sollte. Damit stellt sich die zwischen den Parteien streitige Frage der Anwendbarkeit von § 9 VVG nach Sinn und Zweck auf den streitgegenständlichen Beitragsentlastungstarif im Ergebnis – was auch von der Kammer zunächst übersehen worden war – nicht.
101
b) Außerdem läge auch die erforderliche Zustimmung zu einem vorzeitigen Versicherungsbeginn, wollte man etwa auf den bereits laufenden Schutz aus dem „Hauptvertrag“ abstellen, nicht vor.
102
Der Versicherungsschutz begann am 01.12.2011. Eine ausdrückliche Zustimmung des Klägers dazu, dass der Versicherungsschutz vor Ende der – nie in Gang gesetzten (dazu s.o.) – Widerrufsfrist beginnen soll, ist nicht erfolgt.
103
Diese Zustimmung kann indes zwar auch konkludent erteilt werden (grundlegend hierzu BGH, Urteil vom 24.01.2024, IV ZR 306/22, Rn. 14 ff. – juris). Voraussetzung für die Annahme einer konkludenten Zustimmungserklärung ist demnach, dass der Versicherungsnehmer über das Widerrufsrecht belehrt wurde oder der Versicherer aufgrund anderer Umstände davon ausgehen konnte, diesem sei sein Widerrufsrecht bekannt gewesen. Die Zustimmung zu einem vorzeitigen Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist ist dann konkludent erfolgt, wenn der vereinbarte Versicherungsbeginn noch vor dem Zeitpunkt der Antragstellung liegt und der Versicherungsnehmer über das grundsätzliche Bestehen eines Widerrufsrechts informiert ist.
104
Dabei käme es nicht darauf an, ob die erteilte Belehrung ordnungsgemäß war, es genügt die Kenntnis von einem fristgebundenen Widerrufsrecht als solchem. Die im Rahmen des § 9 Abs. 1 VVG geforderte Kenntnis des Versicherungsnehmers von seinem Widerrufsrecht soll diesem nämlich nicht die sachgerechte Entscheidung über den Widerruf ermöglichen. Diesem Zweck dient bereits § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG, wonach die Widerrufsfrist nicht zu laufen beginnt. Für § 9 Abs. 1 VVG genügt eine grundsätzliche Kenntnis von der Existenz des Widerrufsrechts und der dazu laufenden Frist, um dem Verhalten des Versicherungsnehmers entnehmen zu können, dass er vor Ablauf dieser Frist mit dem Versicherungsschutz beginnen will (BGH aaO, Rn. 17 – juris).
105
Demnach wurde hier aber auch konkludent keine solche Zustimmung erteilt. Der Antrag des Klägers (Anlage B1) stammt vom 19.09.2011, das Policenbegleitschreiben (Anlage B3) ist auf den 11.10.2011 datiert, wohingegen der Versicherungsschutz im streitgegenständlichen Tarif erst ab dem 01.12.2011 beginnen sollte. Ein Versicherungsbeginn vor der Antragsstellung liegt also schon nicht vor.
106
4. Bei Nichtanwendbarkeit des § 9 VVG sind Leistungen aus einem nach § 8 VVG widerrufenen Versicherungsvertrag nach den §§ 355 ff. BGB abzuwickeln (so ausdrücklich BT-Drs. 16/3945, S. 62: „Kommt § 9 Satz 1 VVG-E nicht zur Anwendung, weil der Versicherungsschutz nicht vor Ende der Widerrufsfrist beginnt, bestimmen sich die Rechtsfolgen des Widerrufs nach § 346 BGB in Verbindung mit § 357 Abs. 1 BGB; bereits geleistete Zahlungen sind zurückzugewähren.“). Der Einwand von Beklagtenseite, dass die §§ 357, 346 ff. BGB grundsätzlich gesperrt seien und allenfalls Bereicherungsrecht zur Anwendung kommen dürfe, verfängt nicht, da der Rückgriff auf die allgemeinen Widerrufsvorschriften nur im Rahmen des Anwendungsbereiches des § 9 VVG ausgeschlossen ist. Hier ist § 9 VVG aber schon tatbestandlich nicht einschlägig (s.o.) und deswegen bei der Rückabwicklung vollständig außer Betracht zu lassen.
107
II. Nach § 357 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. finden auf das Widerrufs- und das Rückgaberecht, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, die Vorschriften über den gesetzlichen Rücktritt entsprechende Anwendung.
108
1. Herauszugeben sind demnach zunächst im Ausgangspunkt die bezahlten Prämien als „empfangene Leistungen“. Diese belaufen sich unstreitig auf mittlerweile insgesamt 21.744,18 € (vgl. im Einzelnen die Berechnung in der Klageschrift, S. 15).
109
Zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung einer Lebensversicherung hat der BGH entschieden, dass der Rückgewähranspruch des Klägers nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle Prämien umfasse, die er an die Beklagte gezahlt hat, ohne hierzu durch einen wirksamen Versicherungsvertrag verpflichtet zu sein. Der Versicherungsnehmer müsse sich den Versicherungsschutz anrechnen lassen, den er jedenfalls bis zur Kündigung des (dort: Lebensversicherungs-)Vertrages genossen hat. Erlangter Versicherungsschutz sei ein Vermögensvorteil, dessen Wert nach den §§ 812 Abs. 1 Satz 1, 818 Abs. 2 BGB zu ersetzen sein könne (BGH, Urteil vom 07.05.2014, IV ZR 76/11, Rn. 45 – Juris). Der Wert des Versicherungsschutzes könne unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden; bei Lebensversicherungen sei dabei etwa der Risikoanteil bedeutend.
110
Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Beitrags für eine Risikokomponente trägt der Versicherer. Der Gegenanspruch des Versicherers ist vom Bereicherungsanspruch des Versicherungsnehmers abzuziehen, so dass dieser den Saldo geltend machen kann (BeckOK-VVG / Brand, 01.08.2023, § 9 Rn. 44a).
111
Auf den Streitfall übertragen bedeutet dies, dass im Tarif enthaltene Sicherheitszuschläge für Sterblichkeit und Stornierung grundsätzlich in Abzug zu bringen sein dürften (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2024 – IV ZR 51/22 – Juris Rn. 19 zur Auswirkung der Sterbewahrscheinlichkeit auf die Leistung des Versicherers im Beitragsentlastungstarif und damit die Kalkulation). Zu deren Höhe wurde vonseiten der Beklagten erstmals nach Schluss der mündlichen Verhandlung im nachgelassenen Schriftsatz vom 30.04.2024 (S. 2 unten) fristgerecht vorgetragen. Hierzu steht eine Stellungnahme der Klagepartei noch aus.
112
2. In Hinblick auf die ebenfalls gemäß § 346 Abs. 1 Var. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB vom Versicherer herauszugebenden Nutzungen (so ausdrücklich BGH, Urteil vom 11.10.2023, IV ZR 41/22, Rn. 18 – Juris; implizit auch BGH, Urteil vom 13.09.2017, IV ZR 445/14, Rn. 26 – Juris) ist der Rechtsstreit ebenfalls nicht entscheidungsreif.
113
a) Der Anspruch beschränkt sich schon nach dem Wortlaut auf die tatsächlich gezogenen Nutzungen (vgl. statt vieler BGH, Urteil vom 29.07.2015, IV ZR 384/14, Rn. 46 – Juris).
114
Ein Versicherungsnehmer, der vom beklagten Versicherer die Herausgabe von Nutzungen aus wegen Widerrufs zu erstattenden Beitragszahlungen verlangt, ist für Anfall und Höhe tatsächlich gezogener Nutzungen darlegungs- und beweisbelastet. Dies verlangt ihm, wie der BGH wiederholt entschieden hat, einen Tatsachenvortrag ab, der nicht ohne Bezug zur Ertragslage des jeweiligen Versicherers auf eine tatsächliche Vermutung einer Gewinnerzielung in bestimmter Höhe gestützt werden kann (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 29.04.2020, IV ZR 5/19, Rn. 16 – Juris).
115
b) Als Berechnungsgrundlage für Nutzungen ist lediglich der Sparanteil zu berücksichtigen, sodass neben den Risikokosten auch Abschluss- und Verwaltungskosten in Abzug gebracht werden müssen.
116
aa) Für die Risikokosten ergibt sich dies bereits aus den obigen Ausführungen; dieser Prämienanteil steht für eine Nutzungsziehung nicht zur Verfügung und wird für die Erbringung der Versicherungsleistung verwendet (vgl. BGH, Urteil vom 29.04.2020, IV ZR 5/19, Rn. 14 – juris).
117
bb) Der auf die Abschlusskosten entfallende Prämienanteil bleibt für Nutzungsersatzansprüche regelmäßig außer Betracht; mangels abweichender Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass der Versicherer diesen Prämienanteil nicht zur Kapitalanlage nutzen konnte (BGH, Urteil vom 29.04.2020, IV ZR 5/19, Rn. 14 – juris; Urteil vom 26.09.2018, IV ZR 304/15, Rn. 31 – juris; Urteil vom 01.06.2016, IV ZR 482/14, Rn. 30 – juris).
118
cc) Nutzungen aus Verwaltungskostenanteilen sind nach BGH-Rechtsprechung nur dann herauszugeben, wenn sich die Beklagte auf diese Weise den Einsatz sonstiger Finanzmittel ersparte, die sie zur Ziehung von Nutzungen verwenden konnte (Urteile vom 29.07.2015, IV ZR 384/14, Rn. 42 und 448/14, Rn. 47 – Juris). Dabei kann nicht vermutet werden, dass der Versicherer Nutzungszinsen in bestimmter Höhe erzielt hat (BGH, Urteil vom 01.06.2016, IV ZR 482/14, Rn. 30 – juris). Der Versicherungsnehmer ist insoweit darlegungsbelastet; konkreter Vortrag hierzu indes bislang nicht ersichtlich.
119
Sofern die Klagepartei vorträgt, die Beklagtenpartei könne sich bezüglich dieser Prämienanteile nicht auf Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen, betrifft dies eine von der Berechnungsgrundlage für Nutzungen abzugrenzende Rechtsfrage. Es muss insoweit unterschieden werden zwischen der rechtlichen Verteilung des Entreicherungsrisikos und dem tatsächlich zur Ziehung von Nutzungen zur Verfügung stehenden Vermögen (BGH, Urteil vom 11.11.2015, IV ZR 513/14, Rn. 44 – Juris). Wenn sich der Versicherer gleichwohl so behandeln lassen müsste, als hätte er die Gelder gewinnbringend angelegt, stünde er schlechter, als er ohne die Prämienzahlungen des widersprechenden Versicherungsnehmers gestanden hätte (BGH aaO, Rn. 45 – juris).
120
dd) Zur Höhe der Anteile für Abschluss- und Verwaltungskosten hat die Beklagte ebenfalls erstmals im Schriftsatz vom 30.04.2024 vorgetragen (S. 3), sodass eine rechtzeitige Stellungnahme der Klagepartei bis zum Verkündungstermin nicht mehr erfolgen konnte.
121
c) Schließlich stellt sich die Frage nach dem für die Nutzungsberechnung anzuwendenden Zinssatz. Eine Bezugnahme auf die konkrete Nettoverzinsung der Beklagten dürfte dabei grundsätzlich zulässig sein (OLG Schleswig, Urteil vom 03.05.2021, 16 U 59/20, Rn. 28, 37 – juris; OLG Köln, Urteil vom 28.10.2016, 20 U 30/16, Rn. 53 – juris).
122
Soweit ersichtlich, führt die Beklagte im Schriftsatz vom 30.04.2024 (S. 4 f.) unter Zugrundelegung der laufenden Durchschnittsverzinsung selbst höhere Zinssätze an als die Klagepartei (Klage, S. 16) unter Zugrundelegung der Nettoverzinsung. Das Rechenergebnis unterscheidet sich jedoch ganz erheblich, was vom Gericht im Einzelnen bislang nicht nachvollzogen werden kann. Bereits jetzt ist indes darauf hinzuweisen, dass gezogene Nutzungen wohl nur bis zur Vertragsbeendigung durch Widerruf zu erstatten sind; für die Folgezeit kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Beklagte bestimmte Beträge zugunsten der Klägerin angelegt hat, weil sie dazu vertraglich nicht mehr gehalten war (OLG Köln aaO, Rn. 53 – juris).
123
III. Ist damit der Zahlungsantrag 2) nach Grund (wirksamer Widerruf) und Betrag streitig, kann die Kammer über den Grund vorab entscheiden (§ 304 Abs. 1 ZPO).
124
Zudem wäre ein Teilurteil alleine hinsichtlich des Feststellungsantrags 1) wegen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen unzulässig (dazu z.B. BGH Urt. v. 1.7.2020 – VIII ZR 323/18, BeckRS 2020, 16802 Rn. 18). Über die Voraussetzungen des Zahlungsanspruchs, die Gegenstand des Grundurteils sind, ist ebenso bei der Entscheidung über den Feststellungsantrag zu befinden (vgl. BGH Urt. v. 22.7.2009 – XII ZR 77/06, BeckRS 2009, 22799 Rn. 11).
125
Über den Feststellungsantrag kann nicht durch Grundurteil entschieden werden, sodass insofern ein Teil-Endurteil ergeht (vgl. BGH, Urteil vom 22.07.2009, XII ZR 77/06, Rn. 10 – juris). Anders als etwa im Urteil des BGH vom 04.10.2000, Az. VIII ZR 109/99 (NJW 2001, 155) wird vorliegend gerade der Feststellungsantrag zur Grundlage des Teilurteils gemacht. In den Fällen, in denen vom Bundesgerichtshof zur Unzulässigkeit eines Teilurteils bei objektiver Klagehäufung von Leistungsbegehren und Feststellungsansprüchen befunden wurde, wurde aber jeweils ein Grundurteil lediglich hinsichtlich der Zahlungs- und Freistellungsansprüche erlassen und der Feststellungsantrag ausgeklammert. Daraus ergab sich die Situation, dass über die bei dem Zahlungsanspruch und den Freistellungsansprüchen geprüften Fragen beim Feststellungsantrag hinsichtlich der Erstattungspflicht allen weiteren Schadens noch einmal zu befinden gewesen wäre. So liegt der Fall hier aber nicht, da die Wirksamkeit des Widerrufs – in dieser Instanz – abschließend geprüft ist und im weiteren Verlauf des Rechtsstreits ggf. lediglich zur Höhe des Anspruchs zu verhandeln sein wird.
C.
126
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten. Denn mit einem im ersten Rechtszug ergangenen Zwischenurteil über den Grund des Anspruchs steht noch nicht fest, in welchem Umfang die eine oder andere Partei unterliegt (BGH 29.5.1956 – VI ZR 205/55, NJW 1956, 1235).
127
Da dem Urteil auch ein vollstreckbarer Inhalt fehlt, unterbleibt insoweit eine Anordnung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit (vgl. Anders/Gehle/Hunke, 82. Aufl. 2024, ZPO § 304 Rn. 35).