Titel:
neuartiges Lebensmittel: Coriolus versicolor (Schmetterlingstramete), Vitalpilz, Verkehrsverbot, Austausch der Rechtsgrundlage, Indizwirkung des Novel-Food-Katalogs, Beweislast des Lebensmittelunternehmers hinsichtlich des Verzehrs in nennenswertem Umfang vor dem Stichtag, Würdigung aller Beweise und Indizien
Normenketten:
VO (EU) 2015/2283 (Novel-Food-Verordnung – Novel-Food-VO)
Durchführungsverordnung (EU) 2018/456
VO (EU) 2017/625 (Kontroll-Verordnung – Kontroll-VO) Art. 138
VO (EG) 178/2002 (Basisverordnung – Basis-VO) Art. 2 f.
Schlagworte:
neuartiges Lebensmittel: Coriolus versicolor (Schmetterlingstramete), Vitalpilz, Verkehrsverbot, Austausch der Rechtsgrundlage, Indizwirkung des Novel-Food-Katalogs, Beweislast des Lebensmittelunternehmers hinsichtlich des Verzehrs in nennenswertem Umfang vor dem Stichtag, Würdigung aller Beweise und Indizien
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39904
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerinnen wenden sich gegen eine Anordnung, mit der ihnen untersagt wird, Lebensmittel, die als Zutat den Pilz Coriolus versicolor enthalten, in den Verkehr zu bringen.
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Die Klägerinnen bzw. deren Schwesterfirmen vertreiben seit Ende 1999 bzw. Anfang 2000 verschiedene Produkte zum menschlichen Verzehr, die Bestandteile des Pilzes „Coriolus versicolor“, zu Deutsch „Schmetterlingstramete“, enthalten.
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Bereits in den Jahren 2011 und 2015 wurde zwischen den Beteiligten die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Coriolus versicolor um ein zulassungspflichtiges Lebensmittel handle. Lebensmittelrechtliche Anordnungen wurden seinerzeit in Bezug auf die von den Klägerinnen vertriebenen Produkte nicht erlassen, nachdem man diese seinerzeit noch als Arzneimittel qualifiziert hatte.
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Anlässlich der Untersuchung von zwei von der Klägerin zu 2 hergestellten Produkten mit der Zutat Coriolus versicolor kam das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend: LGL) in seinem Gutachten vom 27. März 2019 zu dem Ergebnis, dass es sich bei Coriolus versicolor um ein zulassungspflichtiges, aber nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel handle, da er vor dem 15. Mai 1997, dem für die Einordnung als neuartiges Lebensmittel maßgeblichen Zeitpunkt, in der Europäischen Union nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei. In der weiteren Folge wurde auch die Klägerin zu 1 bezogen auf von ihr in Verkehr gebrachte Produkte mit der Zutat Coriolus versicolor über dessen Qualifizierung als neuartiges Lebensmittel informiert.
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In mehreren Schriftwechseln vertraten die Klägerinnen die Sichtweise, dass es sich bei Coriolus versicolor um kein neuartiges Lebensmittel handele, während der Beklagte seine Sichtweise bekräftigte.
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Mit mehreren Schreiben (zuletzt vom 12. November 2021) wurden die Klägerinnen vom Beklagten darüber informiert, dass beabsichtigt sei, betreffend sämtliche Coriolus versicolor Vitalpilz-Produkte eine Anordnung zu erlassen, mit der die Klägerinnen verpflichtet werden sollten, die aufgeführten Mängel innerhalb angemessener Zeit zu beheben, wobei auch die Anordnung eines Zwangsgeldes erforderlich sein dürfte. Den Klägerinnen wurde jeweils Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt.
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Nach weiterem Schriftwechsel untersagte der Beklagte mit zwei streitgegenständlichen Bescheiden vom 31. Januar 2022 (Gesch.-Z.: … und …,- …) den Klägerinnen jeweils ab sofort, Lebensmittel mit der Zutat Coriolus versicolor in Verkehr zu bringen. Diese Untersagung könne auf Antrag aufgehoben werden, sofern ein Nachweis erbracht wird, dass es sich bei der Zutat Coriolus versicolor um kein neuartiges Lebensmittel handelt bzw. eine Zulassung als neuartiges Lebensmittel erfolgt ist (Ziffer 1). Für den Fall der Zuwiderhandlung drohte der Beklagte gegenüber den Klägerinnen jeweils ein Zwangsgeld in Höhe von 150,00 Euro je in Verkehr gebrachter 100 g an (Ziffer 3).
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Zur Begründung der Bescheide wird inhaltlich im Wesentlichen ausgeführt, dass die Anordnung auf § 39 Abs. 1 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) i.V.m. Art. 138 VO (EG) 2017/625 (Kontroll-VO) gestützt werde, wonach geeignete Maßnahmen zu treffen seien, um zu gewährleisten, dass Verstöße beendet und erneute Verstöße verhindert würden. Bei Coriolus versicolor handle es sich um ein neuartiges Lebensmittel nach Art. 3 Abs. 2 lit. a) Ziff. iv) VO (EU) 2015/2283 (Novel-Food-VO). Insbesondere sei Coriolus versicolor vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet worden, wie der fehlende Eintrag im Novel-Food-Katalog der Europäischen Kommission indiziere. Mangels Eintragung in der Unionsliste für zugelassene neuartige Lebensmittel gemäß Art. 6 Abs. 1 Novel-Food-VO dürfe Coriolus versicolor gemäß Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO nicht in den Verkehr gebracht werden. Die Beweislast, dass es sich um kein neuartiges Lebensmittel handle, liege bei den Klägerinnen, wobei mit den vorgelegten Unterlagen ein menschlicher Verzehr von Coriolus versicolor in den Mitgliedsstaaten vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang nicht nachgewiesen worden sei. Die Untersagungsverfügung sei auch verhältnismäßig, da der Verbraucherschutz Vorrang vor der Berufsausübungsfreiheit genieße. Ob von den Produkten mit der Zutat Coriolus versicolor eine konkrete Gesundheitsgefahr ausgehe, sei ohne Bedeutung, da Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO gerade sicherstellen wolle, dass kein neuartiges Lebensmittel in den Verkehr gebracht werde, das nicht zuvor auf Gesundheitsgefahren untersucht worden sei. Schließlich sei die Zwangsgeldandrohung in der gewählten Höhe angemessen, um die Umsetzung der getroffenen Anordnungen sicherzustellen, wobei die Höhe an dem geschätzten wirtschaftlichen Interesse an der Nichterfüllung der Anordnung orientiert worden sei.
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Hiergegen erhob die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit Schriftsatz vom … Februar 2022 Klage zum Verwaltungsgericht München.
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Mit zwei weiteren Bescheiden vom 11. August 2022 (Gesch.-Z.: …-2 und …,- …-2) hob der Beklagte die in den Bescheiden vom 31. Januar 2022 enthaltenen Zwangsgeldandrohungen auf. Zugleich erklärte er, dass ein Zwangsgeld in Höhe von 100,00 Euro (Klägerin zu 1) bzw. 50,00 Euro (Klägerin zu 2) je in Verkehr gebrachter 100 Gramm Lebensmittel mit der Zutat Coriolus versicolor fällig werde, wenn die Klägerinnen den Verpflichtungen aus Nr. 1 der Bescheide vom 31. Januar 2022 ab Zugang nicht oder nicht vollständig nachkommen sollten.
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Der Beklagte begründete dies damit, dass die Änderung erforderlich sei, um Unklarheiten in der Formulierung des Bescheids vom 31. Januar 2022 zu beheben („je in Verkehr gebrachte 100 Gramm Lebensmittel mit der Zutat „Coriolus versicolor““ statt „je in Verkehr gebrachte 100 g“). Die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes habe man geringfügig angepasst, um dem Einwand Rechnung zu tragen, dass die Höhe des Zwangsgeldes den Verkaufswert teilweise übersteige. Im Übrigen solle das Zwangsgeld das wirtschaftliche Interesse des Pflichtigen erreichen (Art. 31 Abs. 2 Satz 2 VwZVG).
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Mit Schriftsatz vom ... September 2022 erklärte die Klägerbevollmächtigte die Klage teilweise zu ändern, soweit die in den Bescheiden vom 31. Januar 2022 enthaltenen Zwangsgeldandrohungen durch die Änderungsbescheide vom 11. August 2022 geändert worden seien.
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In der mündlichen Verhandlung am 11. September 2024 erklärten die Vertreterinnen des Beklagten, in der Zwangsgeldandrohung der Bescheide vom 11. August 2022 die Worte „ab Zugang“ durch „ab Bestandskraft“ zu ersetzen.
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In der mündlichen Verhandlung am 11. September 2024 beantragte die Klägerbevollmächtigte:
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Die Bescheide vom 31. Januar 2022 in der Fassung vom 11. August 2022 mit der heutigen Änderung werden aufgehoben.
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Zur Begründung führte die Klägerbevollmächtigte aus, dass die streitgegenständlichen Bescheide materiell rechtswidrig seien, weil es sich bei Coriolus versicolor nicht um ein neuartiges Lebensmittel handle und er deshalb nicht vom Verbot des Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO erfasst werde.
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Die Tatbestandsvoraussetzungen der in den Bescheiden genannten Eingriffsgrundlage seien nicht erfüllt. Darin werde Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv Novel-Food-VO genannt, der sich auf Pflanzen und Pflanzenteile beziehe. Bei Coriolus versicolor handle es sich aber nicht um eine Pflanze. Wenn sich der Beklagte nunmehr darauf beziehe, dass Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii Novel-Food-VO einschlägig sei, beabsichtige er einen Austausch der Rechtsgrundlage, der vorliegend jedoch nicht möglich sei.
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Darüber hinaus handle es sich bei Coriolus versicolor nicht um ein neuartiges Lebensmittel, weil er zum maßgeblichen Stichtag 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr in der Union verwendet worden sei. Die Klägerinnen hätten den Nachweis hierüber durch die von ihnen vorgelegten Dokumente (u.a. eidesstattliche Versicherungen, ausgedruckte E-Mails, Verbraucherumfragen) erbracht. Hierbei müsse u.a. auch berücksichtigt werden, dass Coriolus versicolor als Vitalpilz in deutlich geringeren Mengen im Vergleich zu Speisepilzen verzehrt werde. In der Beweiswürdigung dürften aus Gründen der Verhältnismäßigkeit keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Im Zivilrecht geltende Maßstäbe seien insoweit auch auf den Verwaltungsprozess zu übertragen. Zu Gunsten der Klägerinnen gelte es den seit dem maßgeblichen Stichtag verstrichenen Zeitraum, die damit verbundene Beweisnot sowie den zwischenzeitlich vollzogenen Wandel der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des „nennenswerten Umfangs“ zu berücksichtigen. Außerdem müsse berücksichtigt werden, dass bei anderen Lebensmitteln wie Kala Namak, Tannenzapfensirup, wässrigem Extrakt aus den Feigenblättern oder Stevia geringere Anforderungen an den Gegenbeweis der Neuartigkeit gestellt worden seien, als vom Beklagten vorliegend gefordert.
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Den Klägerinnen sei es gelungen, die auf den rechtlich unverbindlichen Novel-Food-Katalog gestützte Einstufung des Beklagten zu widerlegen. Die Eintragung von Coriolus versicolor im Novel-Food-Katalog sei ohnehin willkürlich und erst deutlich nach Inkrafttreten der ersten Novel-Food-VO zustande gekommen. Auch die Voraussetzungen für die Durchführung eines Konsultationsverfahrens lägen nicht vor, da die Klägerinnen keinen Zweifel an der Verkehrsfähigkeit der streitgegenständlichen Produkte hätten. Außerdem hätte jeder Mitgliedstaat selbst die Option, die Europäische Kommission zu konsultieren. Auf existierende RASFF-Meldungen könne man sich vorliegend nicht stützen, da diese auf dem fehlerhaften Eintrag im Novel-Food Katalog beruhten.
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Ferner seien Lebensmittel, die Coriolus versicolor enthalten, in Rumänien und Tschechien verkehrsfähig, worüber der Beklagte nicht hinweggehen könne. Insbesondere sei ein in Tschechien zunächst verhängtes Verkehrsverbot nachträglich wieder aufgehoben worden. Wenn Coriolus versicolor in einigen Mitgliedstaaten legal vermarktet werden dürfe, dann könne sein Inverkehrbringen in Deutschland durch den Beklagten nicht untersagt werden, da andernfalls ein nicht gerechtfertigter Binnenmarkteingriff vorliege. Das Landratsamt habe gegen den Amtsermittlungsgrundsatz verstoßen, als es den Vorschlag der Klägerbevollmächtigten nicht aufgegriffen habe, die tschechischen Behörden um Amtshilfe zu ersuchen.
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Jedenfalls sei die Verbotsverfügung unverhältnismäßig. Das Auswahlermessen sei nicht ordnungsgemäß ausgeübt worden. Die Klägerinnen bzw. deren Schwesterunternehmen würden Coriolus versicolor seit nunmehr über zwei Jahrzehnten vertreiben, wobei er einen bedeutenden Anteil am Gesamtumsatz und -gewinn ausmache. Wie sich aus mehreren Untersuchungen ergebe, handle es sich bei Coriolus versicolor um einen sicheren und gut verträglichen Pilz, sodass mit seinem Verzehr keine Gefahren verbunden seien. Diverse Mitbewerber der Klägerinnen würden Coriolus versicolor ebenfalls in Verkehr bringen. Die angedrohten Zwangsgelder überträfen das wirtschaftliche Interesse der Klägerinnen erheblich.
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Der Beklagte beantragte:
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Die Klagen werden abgewiesen.
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Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass es sich bei den Produkten der Klägerinnen sehr wohl um neuartige Lebensmittel handle, für die keine Zulassung erteilt worden sei. Eine Verwendung für den menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang vor dem maßgeblichen Stichtag sei nach wie vor nicht nachgewiesen. Soweit in den Bescheiden Ausführungen zu Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziffer iv Novel-Food-VO enthalten seien, handle es sich um ein Versehen, ein Austausch der Rechtsgrundlagen sei im gerichtlichen Verfahren möglich. Eine zu berücksichtigende Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen Firmen, die Lebensmittel mit der Zutat Coriolus versicolor vertreiben würden, liege nicht vor. Eine Duldung des Inverkehrbringens angesichts in der Vergangenheit eingeleiteter Verwaltungsverfahren durch das Landratsamt habe es nicht gegeben. Eine länderspezifische Zulassung gebe es nicht, weshalb es auf die Ausführungen zur Rechtslage in Tschechien und Rumänien nicht ankomme. Im Übrigen gingen auch die tschechischen Behörden davon aus, dass es sich bei Coriolus versicolor um ein neuartiges Lebensmittel handle. Die Ausführungen der Klagepartei zur Darlegungs- und Beweislast stehe in Widerspruch zur Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. Existierende RASFF-Meldungen einiger Mitgliedstaaten (Finnland, Estland, Portugal, Tschechien, Spanien, Bulgarien), die auf die Novel-Food-Eigenschaft von Coriolus versicolor gestützt seien, könnten berücksichtigt werden. Ferner habe das Verwaltungsgericht Berlin zuletzt in einem Beschluss entschieden, dass es sich bei Coriolus versicolor um ein neuartiges Lebensmittel handle (VG Berlin, B. v. 10.11.2023 – VG 14 L 475/23 – unveröffentlicht). Schließlich werde ergänzend auch auf die im Verfahren vorgelegten Stellungnahmen des LGL vom 27. März 2019, 26. Juni 2019, 6. Mai 2020, 11. Mai 2021, 15. Juli 2024 und vom 21. August 2024 sowie des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend: BVL) vom 15. Juli 2022 und vom 29. August 2024 verwiesen. Die Fachbehörden kämen auch unter Berücksichtigung der von der Klägerbevollmächtigten vorgebrachten Argumente zu dem Ergebnis, dass es sich bei Coriolus versicolor um ein neuartiges Lebensmittel handle. Den Fachbehörden sei ein Verzehr in nennenswertem Umfang vor dem 15. Mai 1997 nicht bekannt. Coriolus versicolor sei im öffentlichen Novel-Food-Katalog nie als nicht neuartiges Lebensmittel aufgeführt worden. Außerdem sei die von der Klägerbevollmächtigten angeführte rumänische Verordnung soweit ersichtlich nicht in Kraft getreten.
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Mit Schriftsatz vom ... September 2024 entgegnete die Klagepartei u.a., dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin nicht rechtskräftig geworden sei.
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Die mündliche Verhandlung hat am 11. September 2024 stattgefunden. Es wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte (auch in den Eilverfahren M 26b S 22.1159 sowie M 26b S 22.3932) und die vorgelegte Behördenakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, die sich angesichts der als sachdienlich zu bewertenden, zulässigen Klageänderung (§ 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) gegen die Bescheide vom 31. Januar 2022 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 11. August 2022 in der Fassung der in der mündlichen Verhandlung erklärten Abänderung richtet, hat keinen Erfolg.
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Die Klage ist zwar zulässig, da die Anfechtungsklage statthaft ist (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO), die Klägerinnen als Adressatinnen der streitgegenständlichen Anordnungen (§ 42 Abs. 2 VwGO) klagebefugt sind und die Klage innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben wurde. Allerdings ist die Klage unbegründet, da die Voraussetzungen von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vorliegen.
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Die gegenüber den Klägerinnen erlassenen Anordnungen, mit denen es ihnen ab sofort untersagt wurde, Lebensmittel mit der Zutat „Coriolus versicolor“ in Verkehr zu bringen, bis der Nachweis erbracht wird, dass es sich bei der Zutat „Coriolus versicolor“ um kein neuartiges Lebensmittel handelt bzw. eine Zulassung als neuartiges Lebensmittel erfolgt ist, sind rechtmäßig und verletzen die Klägerinnen nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Rechtsgrundlage für den Erlass der streitgegenständlichen Anordnung ist § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 Buchst. d Kontroll-VO i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. ii Novel-Food-VO.
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a) Gemäß § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. b Kontroll-VO ergreifen die zuständigen Behörden, wenn ein Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften festgestellt wird, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert. Vom Anwendungsbereich erfasst sind angesichts der sich deckenden Definition des Lebensmittelbegriffs auch die Regelungen der Novel-Food-Verordnung (Art. 138 Abs. 2 Halbs. 1 Kontroll-VO, Art. 1 Abs. 2 Kontroll-VO, Art. 3 Nr. 12 Kontroll-VO i.V.m. Art. 2 Basis-VO, Art. 3 Abs. 1 Novel-Food-VO; so auch OVG Weimar, B. v. 31.01.2023 – 3 EO 569/22 – juris Rn. 30 ff.). Als geeignete Maßnahme kommt hierbei insbesondere in Betracht, das Inverkehrbringen von Waren zu beschränken oder zu verbieten (Art. 138 Abs. 2 Halbs. 2 Buchst. d Kontroll-VO).
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Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO bestimmt, dass nur zugelassene und in der Unionsliste aufgeführte neuartige Lebensmittel nach Maßgabe der in der Liste festgelegten Bedingungen und Kennzeichnungsvorschriften als solche in Verkehr gebracht oder in und auf Lebensmitteln verwendet werden dürfen. „Neuartige Lebensmittel“ sind solche Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und in mindestens eine der in Nr. i) bis x) genannten Kategorien fallen (Art. 3 Abs. 2 Novel-Food-VO). Inverkehrbringen ist das Bereithalten von Lebensmitteln (…) für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf (…) sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst (Art. 3 Abs. 1 Novel-Food-VO i.V.m. Art. 3 Nr. 8 Basis-VO).
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b) Unschädlich ist, dass der Beklagte Coriolus versicolor in den streitgegenständlichen Bescheiden zunächst unter Anwendung der in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. iv Novel-Food-VO genannten Kategorie als neuartiges Lebensmittel qualifiziert hat („Lebensmittel, die aus Pflanzen oder Pflanzenteilen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden (…)“). Zwar handelt es sich bei Coriolus versicolor richtigerweise nicht um eine Pflanze, sondern einen Pilz i. S. d Kategorie in Nr. ii („Lebensmittel, die aus Mikroorganismen, Pilzen oder Algen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden“). Hieraus folgt jedoch nicht die Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Anordnungen, da im vorliegenden Fall der Austausch der einschlägigen Rechtsgrundlage rechtlich zulässig ist.
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Erweist sich die in einem Bescheid getroffene Regelung aus anderen als den angegebenen Rechtsvorschriften und Gründen als rechtmäßig, ohne dass sie durch den Austausch der Begründung in ihrem Wesen geändert wird, ist der Verwaltungsakt nicht im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO rechtswidrig. Dies gilt jedenfalls dann, wenn inhaltliche und strukturelle Parallelen der Vorschrift keine Auswirkungen auf die Ermessensbetätigung haben. Dies ist dann der Fall, wenn die einschlägige Rechtsgrundlage eine identische Zielrichtung verfolgt, eine strukturelle Vergleichbarkeit aufweist und ein Gleichlauf der in Betracht kommenden Rechtsfolgen besteht. Die Frage, ob ein angefochtener Bescheid materiell rechtmäßig ist, richtet sich mithin, sofern höherrangiges oder spezielleres Recht nichts Abweichendes vorgibt, nach dem Recht, das geeignet ist, seinen Spruch zu tragen (BVerwG, B. v. 21.01.2019 – 6 B 120/18 – juris Rn. 27; BVerwG, U. v. 10.12.2015 – 3 C 7/14 – juris Rn. 15 m.w.N.; BVerwG, U. v. 19.08.1988 – 8 C 29/87 – juris Rn. 13; BayVGH, B. v. 02.05.2023 – 11 CS 23.78 – juris Rn. 23; BayVGH, B. v. 20.04.2015 – 20 ZB 15.106 – juris Rn. 4; OVG Hamburg, B. v. 08.06.2022 – 3 Bs 263/21 – juris Rn. 50; VG München, U. v. 16.11.2022 – M 26b K 20.1221 – juris Rn. 38; VG München, B. v. 20.03.2020 – M 26 S 20.1222 – juris Rn. 17 m.w.N.; VG Regensburg, U. v. 09.10.2023 – RN 5 K 20.2144 – juris – Rn. 33; VG Würzburg, U. v. 14.02.2022 – W 8 K 20.1839 – juris Rn. 119; VG Würzburg, B. v. 10.03.2021 – W 8 S 21.258 – juris Rn. 32; VG Würzburg, B. v. 27.07.2018 – W 8 S 18.904 – juris Rn. 30).
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c) Da der Tatbestand von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. ii) Novel-Food-VO anders als Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. iv) Novel-Food-VO keine Ausnahme für Lebensmittel, die eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union haben, vorsieht, kommt es auf die Ausführungen der Parteien hierzu im gerichtlichen Verfahren nicht entscheidungserheblich an.
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2. Die streitgegenständlichen Anordnungen sind formell rechtmäßig. Das Landratsamt München war für deren Erlass sachlich und örtlich zuständig (Art. 1 Abs. 2 Nr. 3, Art. 2 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den gesundheitlichen Verbraucherschutz und das Veterinärwesen (GVVG); Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG). Verfahrensfehler wurden nicht gerügt und sind nicht ersichtlich. Insbesondere wurden die Klägerinnen während des sich über mehrere Jahre andauernden Verwaltungsverfahrens mehrfach angehört (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG), wobei sie von dieser Äußerungsmöglichkeit auch Gebrauch gemacht haben.
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3. Die streitgegenständlichen Anordnungen sind materiell rechtmäßig. Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 138 Abs. 1, Abs. 2 Halbs. 2 Buchst. d Kontroll-VO sind erfüllt. Das Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die die Zutat Coriolus versicolor enthalten, durch die Klägerinnen stellt einen Verstoß im Sinne von § 138 Abs. 1 Kontroll-VO dar. Das Verbot, Lebensmittel mit der Zutat Coriolus versicolor in Verkehr zu bringen, ist verhältnismäßig. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.
39
a) Unter einem Verstoß im Sinne von § 138 Abs. 1 Kontroll-VO versteht man die Nichteinhaltung einer rechtlichen Bestimmung, deren Einhaltung Gegenstand der Überwachung ist (BVerwG, U. v. 15.02.2024 – 3 C 14/22 – juris Rn. 12; Holle, in Streinz/Meisterernst, BasisVO/LFGB, 1. Auflage 2021, § 39 Rn. 42; s. auch BVerwG, U. v. 29.08.2019 – 7 C 29/17 – juris Rn. 27 ff.). Zu den einzuhaltenden Vorschriften in diesem Sinne zählt auch Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO (s. hierzu unter I. 1. a)). Das Vorliegen eines Verstoßes wird hierbei nicht dadurch ausgeschlossen, dass das betroffene Lebensmittel womöglich die Voraussetzungen einer Aufnahme in die Unionsliste gemäß Art. 7 ff. Novel-Food-VO erfüllt, da andernfalls die Verpflichtung zur Durchführung eines Zulassungsverfahrens im Sinne vom Art. 10 ff. Novel-Food-VO umgangen würde.
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b) Das Lebensmittel Coriolus versicolor ist ein nicht zugelassenes und nicht in der Unionsliste (s. hierzu Art. 6 Abs. 1 Novel-Food-VO) aufgeführtes neuartiges Lebensmittel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. ii Novel-Food-VO.
41
Coriolus versicolor erfüllt die kumulativ erforderlichen Voraussetzungen für die Qualifizierung als neuartiges Lebensmittel, da er als Pilz unter die in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Nr. ii Novel-Food-VO definierte Kategorie fällt (s. zur Begriffsdefinition und speziell zum Coriolus versicolor-Pilz: Ballke, in Sosnitza/Meisterernst, Lebensmittelrecht, Stand: August 2024, VO (EU) 2015/2283, Art. 3 Rn. 67 ff.; OLG München, U. v. 21.01.2010 – 29 U 3012/09, LMRR 2019, 38; LG Saarbrücken, U. v. 26.04.2006 – 7 I O 28/06, LMRR 2006, 100) und zugleich zur Überzeugung der Kammer feststeht, dass er vor dem 15. Mai 1997 (maßgeblicher Stichtag) unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurde.
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aa) Ein Lebensmittel wurde nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet, wenn es in einem so geringen Umfang verzehrt worden ist, dass durch sein Inverkehrbringen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ernst zu nehmende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung nicht auszuschließen sind (VGH Mannheim, B. v. 08.02.2021 – 9 S 3951/20 – juris Rn. 21; BGH, U. v. 22.11.2007 – I ZR 77/05 – juris Rn. 22; VG Magdeburg, B. v. 28.11.2023 – 1 B 171/23 – juris Rn. 35; VG Potsdam, B. v. 11.07.2022 – 6 L 831/20 – juris Rn. 88). Allein maßgeblich hierfür ist die Verwendung des betroffenen Organismus als Lebensmittel. Sollte er als Arzneimittel konsumiert worden sein, ist dieser Umstand nicht geeignet, die Qualifizierung als neuartiges Lebensmittel in Frage zu stellen (VGH Mannheim, B. v. 08.02.2021 – 9 S 3951/20 – juris Leitsatz 2).
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Umgekehrt kann jedenfalls dann von einem menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang ausgegangen werden, wenn der vor dem maßgeblichen Stichtag liegende Verzehr und die angesichts dessen zu dem jeweiligen Lebensmittel vorliegenden Erkenntnisse von solchem Umfang und Gewicht sind, sodass sie als Äquivalent zum in der Novel-Food-Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren angesehen werden können bzw. angesichts dessen die Durchführung eines solchen entbehrlich erscheint.
44
Ob ein Lebensmittel neuartig in diesem Sinne ist, muss anhand aller Merkmale des Lebensmittels und des hierfür verwendeten Herstellungsvorgangs beurteilt werden (EuGH, U. v. 09.06.2005 – C-211/03 u.a., BeckRS 2005, 70422 – Leitsatz 8; VGH Mannheim, B. v. 14.04.2022 – 9 S 2278/21 – juris Orientierungssatz 1). Nicht maßgeblich für die Beurteilung sind ähnliche oder vergleichbare Lebensmittel, weshalb es auch auf die Ausführungen der Klagepartei zu anderen Lebensmitteln wie Kalak namak nicht ankommt (Anlagen K 35-37). Darauf, ob in der Vergangenheit in einzelnen Mitgliedstaaten womöglich geringere Anforderungen gestellt worden sein könnten, kommt es ebenfalls nicht entscheidungserheblich an (EuGH, U. v. 09.06.2005 – C-211/03 u.a., BeckRS 2005, 70422 – Rn. 86; OVG Lüneburg, B. v. 12.12.2019 – 13 ME 320/19 – juris Rn. 20).
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Um das Vorliegen dieser Voraussetzungen überprüfen zu können, muss der als Lebensmittel zu verwendende Organismus benannt werden. Außerdem muss angegeben werden, welcher Teil von ihm in welcher Form, Konzentration und Menge (Gewicht, Anzahl der verkauften Einheiten) vor dem 15. Mai 1997 für den menschlichen Verzehr verwendet worden sein soll. Zu berücksichtigen ist auch das jeweils angewendete Herstellungsverfahren. Außerdem kommt es auch auf die Verfügbarkeit des Lebensmittels an, also ob das jeweilige Produkt weit verbreitet oder in nur sehr begrenzter Anzahl in einigen wenigen Spezialgeschäften erworben werden konnte und um welche Art von Geschäften es sich hierbei handelte (Heimverkäufe, begrenzter Kreis der angesprochenen Personen). Ob und ggf. welche weiteren Informationen benötigt werden, um zu überprüfen, ob ein Lebensmittel in nennenswertem Umfang verzehrt wurde, hängt darüber hinaus von den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles ab (s. zum Ganzen auch das von der Europäischen Kommission veröffentlichte Information and Guidance Document, „Human Consumption to a Significant Degree“ – Anlage K 34). Allein maßgeblich sind bei alledem die tatsächlichen Verhältnisse bis zum 15. Mai 1997 (EuGH, U. v. 09.06.2005 – C-211/03 u.a., BeckRS 2005, 70422 – Rn. 86; OVG Lüneburg, B. v. 12.12.2019 – 13 ME 320/19 – juris Rn. 20).
46
bb) Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dieser Voraussetzungen trifft Klägerinnen.
47
(1) Um zu beurteilen, ob ein Lebensmittel vor dem maßgeblichen Stichtag in der Union in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde oder nicht, können die zuständigen Behörden beziehungsweise die Verwaltungsgerichte auf sämtliche verfügbaren Informationen über das Lebensmittel zurückgreifen.
48
Allerdings ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 Novel-Food-VO, dass die Lebensmittelunternehmer (s. zum Begriff Art. 3 Abs. 1 Novel-Food-VO i.V.m. Art. 3 Nr. 3 Basis-VO) zu überprüfen haben, ob Lebensmittel, die sie in der Union in Verkehr bringen wollen, in den Anwendungsbereich der Novel-Food-VO fallen oder nicht. Hieraus ist zugleich eine Obliegenheit des Lebensmittelunternehmers abzuleiten, den zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichten sämtliche Informationen zur Verfügung stellen zu müssen, die erforderlich sind, um die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Novel-Food-VO überprüfen zu können (VGH Mannheim, B. v. 14.04.2022 – 9 S 2278/21 – juris Rn. 15). Für den Fall, dass der Beweis über einen Verzehr in nennenswertem Umfang vor dem maßgeblichen Stichtag nicht erbracht werden sollte (sog. „non-liquet“), trifft den Lebensmittelunternehmer die materielle Beweislast (BayVGH, U. v. 12.05.2009 – 9 B 09.199 – juris Rn. 19; generell zur Beweislastverteilung im Anwendungsbereich der Novel-Food-VO: VGH Mannheim, B. v. 14.04.2022 – 9 S 2278/21 – juris Orientierungssatz 1 mwN; OVG Lüneburg, B. v. 12.12.2019 – 13 ME 320/19 – juris Leitsatz 2; VG Würzburg, U. v. 10.11.2023 – W 8 K 23.340 – juris Rn. 29; VG München, U. v. 26.09.2011 – M 18 K 11.1445 – juris Rn. 42; VG Bayreuth, Gerichtsbescheid v. 28.11.2022 – B 7 K 22.245 – juris Rn. 68). Insofern wird die Reichweite des auch im Anwendungsbereich der Novel-Food-VO geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes durch die in der Novel-Food-VO enthaltenen Regelungen über das Verfahren zur Bestimmung des Status als neuartiges Lebensmittel in Art. 4 Novel-Food-VO überlagert. Darauf, ob im Zivilprozess womöglich andere Maßstäbe gelten – was für die erkennende Kammer nicht ersichtlich ist – kommt es vorliegend nicht entscheidungserheblich an.
49
Um dieser Darlegungs- und Beweislast zu genügen, bedarf es belastbarer und zuverlässiger Informationen und Daten (s. hierzu auch Information and Guidance Document, „Human Consumption to a Significant Degree“). Nicht erforderlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Verzehr in nennenswertem Umfang unmittelbar aus einer einzigen Quelle ergeben muss. Stattdessen gilt es sämtliche verfügbaren Informationen zu berücksichtigen, indem überprüft wird, ob sich in der Zusammenschau dieser Informationen ein Verzehr in nennenswertem Umfang ableiten lässt.
50
Der Einwand der Klagepartei, dass Geschäftsunterlagen nach Ablauf von Aufbewahrungsfristen zwischenzeitlich vernichtet worden seien und hieraus eine Beweisnot resultiere, verpflichtet nicht dazu, von den o.g. anerkannten Grundsätzen der Beweislastverteilung im Anwendungsbereich der Novel-Food-VO abzurücken. Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass der seit dem 15. Mai 1997 verstrichene Zeitraum kontinuierlich größer wird, wodurch die Ermittlung der vor dem Stichtag liegenden tatsächlichen Verhältnisse naturgemäß erschwert werden kann. Allerdings ist diese Schwierigkeit in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden (neuen) Novel-Food-VO (Art. 36 Novel-Food-VO), in welcher an dem seinerzeit bereits über 20 Jahre zurückliegenden Stichtag festgehalten wurde, unmittelbar angelegt, sodass die Annahme einer zu Gunsten der Klägerinnen wirkenden Beweislastumkehr nicht gerechtfertigt erscheint.
51
(2) Zu den berücksichtigungsfähigen Daten und Informationen über ein Lebensmittel zählen grundsätzlich auch die sich aus dem Eintrag im sog. Novel-Food-Katalog enthaltenen Angaben.
52
Beim Novel-Food-Katalog handelt es sich um eine Zusammenstellung fortlaufend aktualisierter Erkenntnisse der Europäischen Kommission und der für neuartige Lebensmittel zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden über (potentiell) neuartige Lebensmittel, die darin durch die Europäische Kommission im Hinblick auf ihren Verzehr vor dem maßgeblichen Stichtag bewertet werden (OVG Schleswig, B. v. 24.07.2024 – 3 MB 12/24 – juris Rn. 13; VGH Mannheim, B. v. 07.06.2023 – 9 S 412/23 m.w.N.; Ballke, in Sosnitza/Meisterernst, VO (EU) 2015/2283, Stand: August 2024, Art. 3 Rn. 41).
53
Die jeweilige Eintragung eines Lebensmittels im Novel-Food-Katalog entfaltet hierbei grundsätzlich Indizwirkung für die Frage, ob ein Lebensmittel als neuartig zu qualifizieren ist (OVG Münster, B. v. 23.01.2020 – 13 B 1423/19 – juris Rn. 14 m.w.N.; VGH Mannheim, B. v. 14.04.2022 – 9 S 2278/21 – juris Rn. 24; OVG Lüneburg, B. v. 12.12.2019 – 13 ME 320/19 – juris Rn. 22). Gleichwohl sind Behörden und Gerichte an den Inhalt des Novel-Food-Katalogs nicht gebunden (BayVGH, B. v. 11.05.2023 – 20 CE 23.626 – juris Orientierungssatz 1; BayVGH, B. v. 07.03.2022 – 20 CS 22.307 – juris Rn. 7; VGH Kassel, B. v. 11.05.2020 – 8 B 2915/19 – juris Rn. 22). Ihnen obliegt es deshalb zu überprüfen, ob im Einzelfall belastbare Informationen vorliegen, die die inhaltliche Richtigkeit der Eintragung in Frage stellen. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass Lebensmittelunternehmer die im Novel-Food-Katalog enthaltenen Angaben durchaus widerlegen können, indem sie entsprechende Nachweise für einen nennenswerten Verzehr vor dem maßgeblichen Stichtag beibringen (OVG Hamburg, B. v. 04.05.2021 – 5 Bs 29/21 – juris Rn. 25; VGH Mannheim, B. v. 08.02.2021 – 9 S 3951/20 – juris Leitsatz 1; VG München, B. v. 06.10.2021 – M 26a S 21.4118 – juris Rn. 42, Rn. 45; VG Würzburg, U. v. 10.11.2023 – W 8 K 23.340 – juris Rn. 36; VG Augsburg, B. v. 18.01.2023 – Au 9 S 22.2403 – juris Rn. 51; VG Bayreuth, Gerichtsbescheid v. 28.11.2022 – B 7 K 22.245 – juris Rn. 68; VG Regensburg, B. v. 21.01.2022 – RN 5 S 21.2172 – juris Rn. 53 ff.).
54
Angesichts der Widerlegbarkeit der Indizwirkung des Novel-Food-Katalogs verfängt der Einwand (s. hierzu Anlage K 30) der Klagepartei, dass die konkrete Eintragung nach ihrer Auffassung aus einem intransparenten und gesetzlich nicht legitimierten Verfahren resultiere, im Ergebnis nicht (so auch VG Berlin, B. v. 10.11.2023 – VG 14 L 475/23 – unveröffentlicht).
55
Überdies ist die Klagepartei in Bezug auf die Eintragung auch nicht etwa schutzlos gestellt, weil Art. 4 Abs. 2 Novel-Food-VO die Möglichkeit zur Durchführung eines sog. Konsultationsverfahrens zur Klärung des Novel-Food-Status eines Lebensmittels vorsieht. Hierbei bleibt der Einwand der Klägerinnen ohne Erfolg, dass die Voraussetzungen für dessen Einleitung nicht vorlägen. So kann sich die Klagepartei angesichts des zwischen den Parteien seit Jahren bestehenden Streits und gegenteilig lautender gerichtlicher Entscheidungen nicht allein darauf berufen, dass sie selbst keine Zweifel an der Novel-Food-Eigenschaft von Coriolus versicolor habe. Zudem ist angesichts des Verweises durch das BVL in seiner Stellungnahme vom 29. August 2024 auf das Konsultationsverfahren auch nichts dafür ersichtlich, dass den Klägerinnen die Durchführung des Konsultationsverfahrens verweigert würde.
56
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung enthielt der Novel-Food-Katalog hinsichtlich aller Bestandteile von Coriolus versicolor den Eintrag, dass auf Basis der verfügbaren Informationen davon auszugehen sei, dass Coriolus versicolor innerhalb der Europäischen Union vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde.
57
Der Beklagte gelangte auf der Grundlage von ihm eingeholter fachbehördlicher Stellungnahmen zu der Einschätzung, dass die Richtigkeit des Eintrags im Novel-Food-Katalog vorliegend auch nicht in Frage zu stellen sei. Sowohl das LGL als auch das BVL gelangten als zuständige Fachbehörden mit nachvollziehbarer Begründung und auch unter Berücksichtigung der fehlenden Verbindlichkeit des Novel-Food-Katalogs zu der Einschätzung, dass im konkreten Fall keine ausreichenden Nachweise erbracht worden seien, die Zweifel an der Richtigkeit des Eintrags im Novel-Food-Katalog aufkommen ließen. Unter keinen Umständen ausreichend sei die bloße Behauptung, dass der Eintrag im Novel-Food-Katalog inhaltlich falsch sei. Aus den von der Klagepartei vorgelegten Dokumenten ließen sich keine ausreichenden Belege über eine Verwendung von Coriolus versicolor für den menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang in der Union vor dem maßgeblichen Stichtag entnehmen. Dies wurde u.a. insbesondere damit begründet, dass sich den vorgelegten Nachweisen nicht entnehmen lasse, welche Teile von Coriolus versicolor verwendet worden seien. Unklar bleibe auch, ob Coriolus versicolor womöglich nicht als Lebensmittel, sondern zu medizinischen Zwecken verwendet worden sein könnte. Schließlich decke sich diese Einschätzung auch mit der Auffassung anderer Mitgliedstaaten, die Coriolus versicolor ebenfalls als ein nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel qualifizierten, wie sich aus mehreren RASFF-Meldungen ergebe. Diese Einordnung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
58
cc) Die oben dargestellten Maßstäbe zugrunde gelegt, steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) auf der Grundlage aller von den Parteien beigebrachten Unterlagen fest, dass Coriolus versicolor zum maßgeblichen Stichtag nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurde.
59
(1) Der Einwand der Klagepartei, dass sie bzw. ihr Schwesterunternehmen seit Betriebsaufnahme eine große Menge an Lebensmitteln mit der Zutat Coriolus versicolor in der Union in Verkehr gebracht habe, ist unbehelflich, weil die Unternehmensgruppe der Klägerin den Geschäftsbetrieb nach eigenen Angaben erst nach dem maßgeblichen Stichtag (15. Mai 1997) aufgenommen hat. Darauf, dass es seitdem zu keinen Vorfällen gekommen sei, aus denen sich Bedenken an der Sicherheit des Konsums von Coriolus versicolor ableiten ließen, kommt es hinsichtlich der Qualifizierung als neuartiges Lebensmittel nicht an. Relevanz erlangt dieser Umstand erst bei der Frage, ob ein neuartiges Lebensmittel zulassungsfähig ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf den Einwand, dass Produkte von Wettbewerbern, die Coriolus versicolor enthalten, nach wie vor beanstandungslos in den Verkehr gebracht würden, weil auch diesem im Hinblick auf Menge und Zeitraum nicht näher konkretisierten Vorbringen nicht zu entnehmen ist, dass der Vertrieb insgesamt zu einem Verzehr in nennenswertem Umfang noch vor dem maßgeblichen Stichtag geführt hat.
60
(2) Der Einwand, dass in Rumänien und Tschechien Lebensmittel, die Coriolus versicolor enthalten, im Verkehr seien, verfängt nicht.
61
Aus den von der Klagepartei vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass von den benannten Mitgliedstaaten ein Konsultationsverfahren i.S.d. Art. 4 Abs. 2, Abs. 3 Novel-Food-VO i.V.m. den Vorschriften der Durchführungsverordnung (EU) 2018/456 mit dem Ergebnis der Ablehnung der Neuartigkeit durchgeführt worden wäre. Stattdessen kommt die tschechische Staatliche Agrar- und Lebensmittelinspektion am Ende des Beschlusses über den Einspruch gegen die Maßnahme Nr. … selbst zu dem Schluss, dass es sich bei Coriolus versicolor mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein neuartiges Lebensmittel handle. Auch im Beschluss des tschechischen Ministeriums für Gesundheitswesen vom 17. August 2006 (Anlage K 16) wird nicht festgestellt, dass Coriolus versicolor nicht neuartig ist. Gleiches gilt hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung übergebenen Dokuments aus dessen maschineller Übersetzung mittels deepl.com sich ergibt, dass es sich dabei um die Bestätigung der Anmeldung für das Inverkehrbringen von Nahrungsergänzungsmitteln handelt und worin die Einhaltung einer Meldepflicht bestätigt wird. Weitergehende Aussagen – insbesondere im Hinblick auf die Einstufung von Coriolus versicolor als neuartiges Lebensmittel – ergeben sich hieraus zur Überzeugung des Gerichts nicht. Auch den die rumänische Rechtslage betreffenden Unterlagen lässt sich keine rechtsverbindliche Feststellung entnehmen, dass es sich bei Coriolus versicolor um kein neuartiges bzw. ein neuartiges, aber zugelassenes Lebensmittel handeln würde.
62
Eine nicht den Vorgaben der Novel-Food-VO entsprechende rein mitgliedstaatliche Zulassung als neuartiges Lebensmittel stünde außerdem nicht in Einklang mit den Vorgaben der Novel-Food-VO. Eine solche europarechtswidrige Zulassung wäre von vornherein nicht dazu geeignet, die Behörden anderer Mitgliedstaaten an ein derartiges vertragswidriges Handeln zu binden. Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit von neuartigen Lebensmitteln ist, dass sie zugelassen und in der Unionsliste aufgeführt werden. Zuständig für die Entscheidung über die Zulassung eines neuartigen Lebensmittels ist allein die Kommission (Art. 7 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 Novel-Food-VO). Die Mitgliedstaaten haben hingegen keine Kompetenz, um unmittelbar selbst die Zulassung eines neuartigen Lebensmittels zu bewirken.
63
(3) Soweit die Klagepartei im Verfahren Dokumente (E-Mails, eidesstattliche Versicherungen) vorgelegt hat, die den Vertrieb von Coriolus versicolor vor dem maßgeblichen Stichtag innerhalb der Europäischen Union belegen sollen (Anlagen K 3, K 20, K 21, K 22, K 23, K 27 und K 31 – „vertriebsbezogene Beweismittel“), vermögen diese zur Überzeugung der Kammer – auch nicht aus deren Zusammenschau heraus – die Indizwirkung des Novel-Food-Katalogs zu erschüttern.
64
Die ausgedruckte E-Mail des Dr. B. D. (Anlage K 23) ist nicht geeignet, den damit bezweckten Nachweis zu erbringen. Sie trifft keine Aussage über einen Vertrieb vor dem maßgeblichen Stichtag. Der Verfasser erklärt darin lediglich, dass die Firma M. Ende 1999 den Vertrieb von Coriolus versicolor in Frankreich begonnen habe.
65
Gleiches gilt hinsichtlich der spanischen Preisliste der Firma S. N. Zwar wird darin Coriolus versicolor aufgeführt. Allerdings lässt sich dem Scan der Preisleiste nicht entnehmen, aus welchem Jahr sie stammt, weil keine Jahreszahl vollständig lesbar ist. Auch in der mündlichen Verhandlung konnte dies nicht aufgeklärt werden. Hinzukommt, dass allein die Preisliste, selbst wenn sie vor dem maßgeblichen Stichtag angefertigt worden sein sollte, für sich allein gesehen noch nicht geeignet wäre, neben dem Vertrieb auch einen Verzehr in nennenswertem Umfang zu belegen.
66
Zur Überzeugung der Kammer genügen auch die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen und ausgedruckten E-Mails nicht, um einen menschlichen Verzehr in der Union in nennenswertem Umfang vor dem maßgeblichen Stichtag zu belegen. Die darin enthaltenen Aussagen erweisen sich als pauschal und ungenau und damit nicht belastbar. Die darin getroffenen Aussagen konnten auch nicht durch Vorlage weiterer Unterlagen belegt werden.
67
So erklärte M. V. in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 18. Mai 2011 (Anlage K 20) zwar, Coriolus versicolor ab 1994 angebaut und in Europa vertrieben zu haben. Belastbare Angaben über Abnehmer und über konkrete Mengen sind jedoch nicht enthalten. Die Unterzeichnerin mutmaßt, Coriolus versicolor an zwei oder drei Firmen in nicht völlig untergeordneten Mengen geliefert zu haben und dass das Produkt zum Verzehr genutzt worden sein könnte. Diese Angabe ist zu vage und unsubstantiiert, um die Indizwirkung des Novel-Food-Katalogs zu erschüttern. Außerdem genügt die bloße Möglichkeit, dass das Produkt verzehrt worden sein könnte, nicht, um einen tatsächlich erfolgten Verzehr in nennenswertem Umfang zu belegen.
68
Nicht hinreichend substantiiert sind auch die vorgelegten Unterlagen des D. L. Die E-Mail vom 8. Juli 2021 (Anlage K 3) enthält lediglich die allgemeine Aussage, dass er Coriolus versicolor Mitte der 1990er Jahre in das Vereinigte Königreich und später in die Europäische Union exportiert habe. Geschäftsunterlagen lägen nicht vor. Gleiches gilt hinsichtlich der von ihm unterzeichneten eidesstattlichen Versicherung vom 11. Dezember 2023 (Anlage K 27). Zwar enthält das Dokument Mengenangaben, welche jedoch nicht eindeutig sind, da einerseits die Rede von 20% von 1.200 kg (240 kg) und andererseits von 960 kg ist. Zu welchem Zweck das in die Union exportierte Produkt verwendet wurde und ob es tatsächlich von Menschen verzehrt wurde, ergibt sich hieraus jedoch nicht. Schließlich handelt es sich auch hierbei laut dem Unterzeichner um eine reine Schätzung, wobei es auch insoweit auf bloße Schätzungen nicht ankommen kann.
69
Auch die E-Mail des W. A. vom 18. Mai 2011 (Anlage K 21) sowie seine eidesstattliche Versicherung vom 18. Mai 2011 (Anlage K 22) genügen nicht für den Beleg eines Verzehrs von Coriolus versicolor in nennenswertem Umfang. Dieser gibt an, vor dem maßgeblichen Stichtag einen Coriolus versicolor enthaltenden Flüssigextrakt auf Glycerinbasis, der zumindest auch teilweise weitere Pilze enthielt, an vier Firmen in der Union veräußert zu haben (10.500 Einheiten à 600 ml). Zur Überzeugung der Kammer genügt diese Menge jedoch nicht, um davon ausgehen zu können, dass ein Verzehr durch Menschen vor dem Stichtag in so großem Umfang erfolgt ist, sodass bezogen auf den maßgeblichen Stichtag ernst zu nehmende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung mit der gebotenen Sicherheit ausgeschlossen werden könnten. Dies ist insbesondere auch darauf zurückzuführen, dass aus den Angaben der konkrete Coriolusgehalt der einzelnen Produkte nicht hervorgeht. Weder der eidesstattlichen Versicherung noch der E-Mail lässt sich entnehmen, welche Teile des Pilzes Coriolus versicolor in den Mischungen und in welcher Konzentration enthalten waren. Schließlich ist den Angaben des Herrn A. auch nicht zu entnehmen, ob die Konsumenten die Ampullen als Lebensmittel oder als Heilmittel zu sich genommen haben.
70
Auch aus einer Zusammenschau aller vertriebsbezogenen Beweismittel ergibt sich zur Überzeugung der Kammer nicht, dass Coriolus versicolor vor dem maßgeblichen Stichtag in nennenswerten Umfang innerhalb der Union durch Menschen verzehrt wurde. Hinsichtlich der Beurteilung des Beweiswerts der Angaben gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei den beteiligten Personen um solche handelt, die vom Vertrieb von Coriolus versicolor selbst profitiert haben oder noch profitieren, woraus ein Eigeninteresse an seiner Verkehrsfähigkeit innerhalb der Union resultiert. Selbst wenn man die darin enthaltenen Angaben vollständig als wahr unterstellt, bleibt jedoch unklar, zu welchem Zweck die genannten Produkte verwendet wurden und in welcher Konzentration Coriolus versicolor darin enthalten war. Insofern sind die vorgelegten Dokumente mit Einfuhr- und Vertriebslisten vergleichbar, denen oftmals der Makel anhaftet, dass ihnen nicht entnommen werden kann, zu welchem Zweck und für welche Verwendung der jeweilige Stoff in die Europäische Union eingeführt und in welcher konkreten Form er verzehrt wurde (s. hierzu auch Information and Guidance Document, „Human Consumption to a Significant Degree“, S. 3). Darüber hinaus kann aus den Angaben über die Zahl der Importeure in der Union auch vernünftigerweise nicht darauf geschlossen werden, dass Coriolus versicolor für den Verzehr als Lebensmittel für Verbraucher vor dem maßgeblichen Stichtag allgemein verfügbar gewesen ist. Hiergegen spricht auch die Angabe der Klagepartei, dass der Vertrieb über den online-Handel, im Direktvertrieb oder über Spezialgeschäfte und nur vereinzelt über Apotheken und Heilpraktiker erfolgt sei. Selbst wenn man unterstellen würde, dass die genannte Menge als Lebensmittel verzehrt worden wäre, lässt sich hieraus in Anbetracht des vergleichsweise kurzen Zeitraums vor dem maßgeblichen Stichtag zur Überzeugung der Kammer nicht darauf schließen, dass ein Verzehr von solchem Umfang erfolgt ist, angesichts dessen aus dem Verzehr abgeleitet werden könnte, dass ernst zu nehmende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung ausgeschlossen werden können.
71
(4) Die Klagepartei hat im Verfahren mehrere Beweismittel vorgelegt, welche unmittelbar den Verzehr durch Verbraucher von Coriolus versicolor vor dem maßgeblichen Stichtag belegen sollen (Anlagen K 13, K 25, K 28 sowie K 29 – „konsumbezogene Beweismittel“). Allerdings gelangt die Kammer hinsichtlich dieser Beweismittel zu der Überzeugung, dass sich diesen keine der Qualifizierung als neuartiges Lebensmittel entgegenstehende Verwendung für den menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang vor dem 15. Mai 1997 entnehmen lässt.
72
Die als Scan vorgelegte Verpackung eines Nahrungsergänzungsmittels (Anlage K 28), welches Herr R. N. nach eigenen Angaben im Jahr 1997 gekauft habe (Anlage K 29), ist für sich gesehen – ungeachtet des Umstandes, dass unklar ist, ob der Erwerb und Verzehr vor dem maßgeblichen Stichtag erfolgt ist – nicht geeignet, einen Verzehr von solchem Umfang zu belegen, auf Grund dessen Sicherheitsbedenken ausgeschlossen erscheinen.
73
Gleiches gilt hinsichtlich der vorgelegten Verbraucherumfragen. Zwar erscheint es nicht ausgeschlossen, Verbraucherumfragen zum Beweis eines Verzehrs in nennenswertem Umfang heranzuziehen. Allerdings müssen der Aufbau und die Konzeption der Umfrage, ihr Umfang, die Art und Weise ihrer Durchführung sowie die zu Tage getretenen Ergebnisse bezogen auf den maßgeblichen Stichtag den Schluss rechtfertigen, dass beim Verzehr des untersuchten Lebensmittels keine Sicherheitsbedenken bestehen. Hierbei gilt es im Rahmen der Überzeugungsbildung mit zu berücksichtigen, dass Verbraucherumfragen – in weit höherem Ausmaß als Zeugenbefragungen – die Gefahr innewohnt, dass Teilnehmer unrichtige Angaben machen. Dies gilt umso mehr, wenn Hintergrund für die Durchführung der Umfrage ein Verkehrsverbot ist, den Teilnehmern dies bekannt ist und es sich bei diesen um potentielle Konsumenten des Produkts handelt.
74
Im Hinblick auf die vorliegende Verbraucherumfrage (Anlage K 13) gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass einige Teilnehmer angaben, Coriolus versicolor sei vor dem maßgeblichen Stichtag durch die Klägerinnen bzw. deren Schwesterfirma angeboten worden (z.B. die Umfragen mit den Nummern #4 (7f./242), #9 (17f./242), #14 (27f./242), #30 (59f./242), #38 (75f./242), #41 (81f./242), #49 (97f./242), #70 (139f./242), #92 (183f./242), #114 (227f./242), #117 (233f./242), #278 (1f./3)), obwohl diese ihren Geschäftsbetrieb nach eigenen Angaben erst nach dem maßgeblichen Stichtag aufgenommen haben. Hinzukommt im Hinblick auf die Beurteilung der Aussagekraft der Verbraucherumfrage zur Überzeugung der Kammer, dass die Umfrage durch den Verband „… (…) e.V.“ durchgeführt wurde. Hierbei handelt es sich nicht um eine unabhängige Vereinigung, sondern um einen Verein, der seinen Zweck nach eigenen Angaben darin sieht, die gemeinsamen Interessen der Vertreiber von Nahrungspilzprodukten gegenüber den nationalen und europäischen Institutionen und Gesetzgebungsorganen zu vertreten und durchzusetzen. So heißt es auf der Homepage des Verbandes, dass sich der … e.V. als „Stimme der Nahrungspilzbranche“ sieht und sich dafür einsetzen wird, die rechtlichen Rahmenbedingungen von Pilzen zur Nahrungsergänzung positiv zu verändern und deren europaweiten Vertrieb rechtssicher zu gestalten. Personell ist der Verein mit den Klägerinnen verflochten, da vertretungsberechtigter Vorstand laut Impressum der Homepage des Vereins einer der Geschäftsführer der Klägerinnen ist. Zudem gilt es aus Sicht der Kammer bei der Beurteilung der Aussagekraft der Umfrage deren Gestaltung zu berücksichtigen. So sind die Fragebögen mit den Überschriften „We need your support: Use of Coriolus versicolor“ bzw. „Wir brauchen eure Unterstützung: Verwendung von Coriolus versicolor“ versehen. Auf der Homepage des … e.V. ersichtlich wurden die Umfrageteilnehmer außerdem über den Hintergrund für die Durchführung der Umfrage in Kenntnis gesetzt.
75
Dies zugrunde gelegt hält es die Kammer zwar für nicht völlig ausgeschlossen, dass womöglich einzelne Umfrageteilnehmer Coriolus versicolor bereits vor dem maßgeblichen Stichtag als Lebensmitteln verzehrt haben könnten. Unter Würdigung aller Umstände spricht jedoch Einiges dafür, dass die Zahl der in der Umfrage aufgeführten tatsächlichen Konsumenten nach unten zu korrigieren sein dürfte.
76
Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerinnen – auch unter Einbeziehung der Auskünfte von 14 Verbrauchern (Anlage K 25) – davon ausgehen würde, dass alle Umfrageteilnehmer, Coriolus versicolor tatsächlich vor dem maßgeblichen Stichtag konsumiert haben, steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die im niedrigeren dreistelligen Bereich liegende Teilnehmerzahl nicht den erforderlichen nennenswerten Umfang erreicht, also den Schluss rechtfertigt, dass vor dem Stichtag ein Verzehr von solchem Umfang erfolgt ist, angesichts dessen sich keinerlei Bedenken gegen die Sicherheit des Konsums ergeben. Die aus der Verbraucherumfrage gewonnenen Erkenntnisse erreichen nicht einen solchen Umfang, sodass diese als Äquivalent zum Zulassungsverfahren angesehen werden können.
77
(5) Angesichts der vorstehenden Ausführungen gelangt die Kammer auch nicht zu der Überzeugung, dass aus der Zusammenschau aller von der Klagepartei vorgelegten Beweismittel ein Verzehr von Coriolus versicolor in nennenswertem Umfang abgeleitet werden kann.
78
c) Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Insbesondere sind die zuständigen Behörden, wenn sie einen Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften feststellen, dazu verpflichtet, einzuschreiten. Aus dem Umstand, dass in der Vergangenheit begonnene Verwaltungsverfahren nicht mit dem Erlass aufsichtlicher Anordnungen abgeschlossen wurden, kann die Klagepartei nicht für sich in Anspruch nehmen, dass der Beklagte hierauf konkludent verzichtet habe.
79
Die Anordnung eines Verbots, Lebensmittel mit der Zutat Coriolus versicolor in Verkehr zu bringen, ist angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 Novel-Food-VO auch in Art. 138 Abs. 2 Halbs. 2 Buchst. d Kontroll-VO vorgesehen und die Klägerinnen als hierfür verantwortliche Lebensmittelunternehmerinnen auch taugliche Adressatinnen der Maßnahme.
80
Darüber hinaus kann die Klagepartei gegen die Anordnung nicht mit Erfolg einwenden, dass gegen den Konsum von Lebensmitteln, die die Zutat Coriolus versicolor enthalten, jedenfalls aus heutiger Sicht und der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse keine Sicherheitsbedenken bestünden, weil der Verzehr mit keinerlei Gesundheitsgefahren für den Menschen verbunden sei.
81
Mit dem Erlass der Novel-Food Verordnung verfolgt der europäische Gesetzgeber das Ziel, ein hohes Verbraucherschutzniveau innerhalb der Union zu etablieren, indem neuartige Lebensmittel nur dann in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn ein Zulassungsverfahren erfolgreich durchlaufen worden ist (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Dieses gesetzgeberisch vorgesehene System und die vorgesehenen Verfahrensschritte würden umgangen, ließe man es zu, dass die Klägerinnen mit Erfolg gegen die streitgegenständlichen Anordnungen einwenden könnten, dass der Verzehr von Coriolus versicolor als unbedenklich zu qualifizieren ist.
82
Vor diesem Hintergrund kann die Klagepartei auch nicht mit Erfolg einwenden, dass sie persönlich seit nunmehr über 20 Jahren Produkte, ohne Beanstandung Lebensmittel, die die Zutat Coriolus versicolor enthalten, in den Verkehr bringt. Hinzukommt bei alledem, dass das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel während dieses gesamten Zeitraums sowohl durch die aktuelle Novel-Food-Verordnung (VO (EU) 2015/2283) als auch die Verordnung (EG) 258/97 reguliert wurde.
83
d) Die Anordnungen sind auch verhältnismäßig. Im Falle eines Verstoßes gegen ein Verbot des Inverkehrbringens ist eine entsprechende Verbotsverfügung zur Vermeidung weiterer Verstöße geeignet und auch erforderlich, da ein milderes, gleich wirksames Mittel nicht ersichtlich ist. Im Falle eines Verstoßes gegen ein Verbot des Inverkehrbringens ist eine entsprechende Verbotsverfügung zur Vermeidung weiterer Verstöße geeignet und auch erforderlich, da ein milderes, gleich wirksames Mittel nicht ersichtlich ist. Ferner ist es auch angemessen im engeren Sinne. Zwar ist mit dem Verbot ein Eingriff in die Grundrechte der Klägerinnen verbunden. Demgegenüber ist jedoch der Schutz der Gesundheit von Verbrauchern und deren gewichtiger Grundrechte angesichts der von neuartigen Lebensmitteln ausgehenden abstrakten Gefahren der Vorrang einzuräumen. Hierbei wird nicht verkannt, dass der Vertrieb von Coriolus versicolor einen nicht unerheblichen Anteil am Gesamtumsatz und -gewinn der Klägerinnen ausmacht.
84
Angesichts des Umstandes, dass die Klägerinnen im Verwaltungsverfahren frühzeitig mit der im Raum stehenden Rechtswidrigkeit des Vertriebs von Lebensmitteln, die Coriolus versicolor enthalten, konfrontiert wurden und der Dauer bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erscheint es auch nicht unverhältnismäßig, dass ihnen keine Übergangszeit eingeräumt wurde, sondern das Inverkehrbringen ab sofort untersagt wurde. Den Klägerinnen stand insoweit ausreichend Zeit zur Verfügung, um ihren Geschäftsbetrieb auf das in Aussicht gestellte Verbot einzustellen.
85
Die gegenüber den Klägerinnen angedrohten Zwangsgelder sind unter Berücksichtigung der im Verfahren erfolgten Änderungen rechtmäßig. Die Voraussetzungen von Art. 18 ff., 29, 30, 31 und 36 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) sind erfüllt. Auch deren Höhe begegnet insbesondere angesichts der nunmehr erfolgten Differenzierung zwischen den beiden Klägerinnen und unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses der Klägerinnen am Vertrieb der streitgegenständlichen Produkte zu den von ihnen angegebenen Preisen keinen Bedenken.
86
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.