Titel:
Äthiopien, Tigray, geschlechterspezifische Verfolgung, Flüchtlingseigenschaft, innerstaatliche Fluchtalternative
Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 3e
Schlagworte:
Äthiopien, Tigray, geschlechterspezifische Verfolgung, Flüchtlingseigenschaft, innerstaatliche Fluchtalternative
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39810
Tenor
I.Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin unter insoweitiger Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.Die Beklagte trägt die Kosten des gerichts-kostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1
Die Klägerin, nach eigenen Angaben orthodoxe Christin und dem Volk der Tigray zugehörig, reiste am 23. Januar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24. Januar 2020 einen Asylantrag.
2
Bei der Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 10. Mai 2022 gab die Klägerin an, Äthiopien am 9. November 2020 verlassen zu haben und am 23. Januar 2022 in Deutschland eingereist zu sein. Sie sei von Äthiopien aus zunächst in den Sudan gereist, dort habe sie sich 1,5 Monate aufgehalten. Danach sei sie weiter nach Libyen gereist und nach einem zehn Monate langem Aufenthalt in Libyen dann nach Italien. Dort habe sie sich 2,5 Monate aufgehalten und sei anschließend über Belgien nach Deutschland gereist.
3
Die Klägerin habe in Äthiopien zehn Jahre lang die Schule besucht und anschließend die Ausbildung zur Krankenschwester durchlaufen. In diesem Beruf habe sie anschließend auch gearbeitet.
4
Die Klägerin erklärt weiter, in Äthiopien herrsche Krieg, es sei dort unsicher und gefährlich. Sie habe zwei Wochen vor der Ausreise aus Äthiopien ihren älteren Bruder besucht. Dieser wohne in Maikadra, einer kleinen Stadt, die mehr als zehn Autofahrstunden von Alamata entfernt sei. Anlass des Besuches sei das christliche Fest Amne Argadawie gewesen, welches am 14. Oktober 2020 in dem Wohnort ihres Bruders stattgefunden habe. Ihr jüngerer Bruder sei auch dabei gewesen. Unruhen hätten bis zum 29. Oktober 2022 an diesem Ort nicht geherrscht, sodass das Fest stattfand.
5
Am 1. November 2020 seien Soldaten zu dem Haus ihres Bruders gekommen. Der Fahrer und ihr kleiner Bruder hätten das Haus verlassen um mit den Soldaten zu reden. Die Soldaten hätten die Klägerin und ihre Familie als Tigray beschimpft und gesagt, die Familie solle sich stellen. Der Fahrer und der kleine Bruder der Klägerin seien durch die Soldaten erschossen wurden. Sie habe zwar versucht, ihren Bruder zu schützen. Dies sei ihr aber nicht gelungen. Die Soldaten seien dann in das Haus gekommen. Ein Soldat habe die Klägerin geschlagen und gegen die Kochstelle gestoßen. Ein Topf mit heißer Suppe habe den Rücken der Klägerin verbrüht. Der Soldat habe der Klägerin anschließend gesagt, sie solle sich ausziehen. Er habe die Klägerin vergewaltigen wollen. Ein anderer Soldat habe nach ihm gerufen und er musste sodann das Haus verlassen. Er habe der Klägerin gedroht, dass er sie vergewaltigen würde, wenn er das nächste Mal wiederkäme. Im Nachbarzimmer lag die Frau des Fahrers auf dem Boden. Sie sei vergewaltigt worden. Die Klägerin wollte ihr beim Aufstehen helfen. Da sie nicht aufstehen konnte, habe die Klägerin sie mit einem Kleidungsstück zugedeckt.
6
Auf Nachfrage erklärte die Klägerin, dass der Soldat eine beige Uniform getragen habe. Er habe der FANO, einer Sondereinheit der Regierung, angehört. Am 1. November 2020 habe es Luftangriffe gegeben. Das Ausmaß der Kampfhandlungen könne die Klägerin nicht einschätzen. Weder sie noch ihre Familie seien in Äthiopien politisch aktiv.
7
Die Klägerin erklärt außerdem, sie sei in Äthiopien bereits im Kindesalter beschnitten worden und fürchte bei einer Rückkehr keine weitere Beschneidung.
8
Mit Bescheid vom 8. Juli 2022 erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu und lehnt den Asylantrag im Übrigen ab.
9
Dies begründete die Beklagte im Wesentlichen damit, dass aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass der Klägerin in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte lägen nicht vor. Für die Feststellung des Flüchtlingsstatus müsse zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung müsse der Klägerin gerade wegen mindestens einem dieser Verfolgungsgründe drohen (§ 3a Abs.°3 AsylG). Die Klägerin sei aus keinem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe in ihrem Heimatland verfolgt worden. Als Verfolgungsgrund sei nach dem Vortrag der Klägerin die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu prüfen. Die Klägerin sei eine Frau, die dem Volk der Tigray angehöre. Diese Merkmale würden in dem Vielvölkerstaat Äthiopien keine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen. Wegen der von der Klägerin erlebten physischen und sexualisierten Gewalt würde sie nicht von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft als andersartig betrachtet werden. Anhaltspunkte für ein von außen erkennbares Stigma wurden weder von der Klägerin vorgetragen, noch sind sie durch sonstige Erkenntnisquellen erkennbar. Darüber hinaus drohe der Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag keine erneute Beschneidung bei einer Rückkehr nach Äthiopien. Nach alledem sei der Flüchtlingsschutz der Klägerin abzulehnen.
10
Ausweislich der Behördenakte des Bundesamtes wurde der Bescheid als Einschreiben am 12. Juli 2022 zur Post gegeben.
11
Gegen den Bescheid ließ die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Juli 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragt,
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wird teilweise aufgehoben bzw. abgeändert.
- 2.
-
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
12
Dies begründet die Klägerin im Wesentlichen damit, dass ihr jüngerer Bruder in ihrem Heimatgebiet von der äthiopischen Armee getötet worden sei. Sie sei von drei Soldaten der äthiopischen Armee attackiert worden. Wäre es nicht zu einer Explosion in der Nähe gekommen, wäre sie vergewaltigt worden. Aufgrund der Explosion habe die Klägerin fliehen können. Ergänzend verweist die Klägerin auf das Urteil des EuGH vom 16. Januar 2024, Aktenzeichen C 621/21. Danach könnten Frauen eines Herkunftslandes auch insgesamt und nicht nur als enge eingegrenzte Gruppe als bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art.°10 Abs. 1 D der Qualifizierungsrichtlinie angesehen werden, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physisch und psychische Gewalt einschließlich sexualisierter und häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.
13
Die Beklagte beantragt Klageabweisung und nimmt zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung Bezug.
14
Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 1. September 2023 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
15
Verschiedene, im Einzelnen benannte Unterlagen wurden zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
16
Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2024, auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Bundesamtes, die Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
17
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Aufhebung der Ziffer 1 des Bescheides der Beklagten vom 8. Juli 2022. Streitgegenständlich ist somit ausschließlich die versagte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
18
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der ordnungsgemäß geladenen Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
19
Die zulässige Klage hat Erfolg.
20
Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juli 2022, da sich der angegriffene Bescheid als rechtswidrig erweist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt soweit mit dem Bescheid der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
21
Dies ergibt sich aus Folgendem:
22
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK –), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
23
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG wird gewährt, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Rechtsverletzungen aufgrund von Handlungen im Sinne von § 3a AsylG durch einen Akteur im Sinne von § 3c AsylG in seinem Herkunftsland drohen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in sein Herkunftsland zurückzukehren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – NVwZ 1990, 151 f.; BVerwG, U.v. 29.11.1987 – 1 C 33.71 – BVerwGE 55, 82, 83 m.w.N.).
24
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Asylsuchende Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).
25
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit kommt damit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 22; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
26
Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
27
Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Situation des Asylsuchenden und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass diese die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Anspruch auf die Gewährung politischen Asyls oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Antragsteller den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Schutzbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – Buchholz § 108 VwGO Nr. 147). Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts sind u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden zu berücksichtigen (BVerwG, B.v. 3.8.1990 – 9 B 45.90 – juris Rn. 2; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 27 m.w.N.).
28
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint sowie auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90 – InfAuslR 1991, 94/95; BVerwG, U.v. 30.10.1990 – 9 C 72/89 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 135; BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 113).
29
Gemessen an diesen Voraussetzungen könnte die Klägerin glaubhaft machen, dass sie bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung droht und kein interner Schutz besteht.
30
Unter Einbeziehung der dem Verfahren zu Grunde liegenden Verwaltungsakten, sämtlicher Schriftsätze der Klagepartei und den in der mündlichen Verhandlung gewonnen Erkenntnisse ist das Vorbingen der Klägerin dazu, dass diese Opfer physischer und sexualisierter Gewalt durch einen Regierungssoldaten wurde, glaubhaft. Insbesondere schilderte die Klägerin die Geschehnisse in der mündlichen Verhandlung sprunghaft und dennoch mit Detailreichtum, sowie ohne, dass die Schilderung dabei Widersprüche aufwies. Soweit in dem Schriftsatz vom 26 Oktober 2023 anders als im Anhörungsprotokoll vom 25. Oktober 2022 beschrieben wurde, dass die Klägerin von drei Regierungssoldaten attackiert wurde, stellte die Klägerin in ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung klar, dass zwar drei Soldaten in das Haus eindrungen, einer davon Wache stand, während von den anderen beiden jeweils einer die Klägerin selbst und der andere die Bekannte der Klägerin bedrängte. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung von ihrem kleinen Bruder und einem Pfarrer berichtet, im Protokoll der Anhörung dagegen von dem kleinen Bruder der Klägerin und einem Fahrer die Rede ist, kann dies aus Sicht des Gerichts auf eine undeutliche Aussprache des Dolmetschers zurückzuführen sein und spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin.
31
Bei einer Rückkehr nach Äthiopien droht der Klägerin nach der Überzeugung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
32
Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschriften, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG).
33
Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmung der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchstabe a) der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft. Ausgehend davon ist bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU sowie § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bereits die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylG. Die weitere Voraussetzung der deutlich abgegrenzten Identität der Gruppe im Herkunftsland i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG wird nach der Rechtsprechung des EuGH von Frauen erfüllt, die neben dem angeborenen Merkmals des weiblichen Geschlechts ein zusätzliches gemeinsames Merkmal wie einen gemeinsamen Hintergrund teilen, der nicht verändert werden kann und aufgrund dessen diese Frauen aufgrund der im Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen und rechtlichen Normen eine deutlich abgegrenzte Identität haben (EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 50 ff.).
34
Ausgehend davon stellen Frauen, die dem Volk der Trigray zugehörig sind, eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, denen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eine Verfolgung in Form sexueller Übergrifft droht.
35
Die Erkenntnisquellen berichten von sexualisierten Gewalttaten in der Region Tigray. Insbesondere im Zuge des Konflikts in Tigray, der in der Nacht vom 3. November auf dem 4. November 2020 begann, kam es häufig zu sexueller Gewalt gegenüber Frauen. Darüber hinaus wird davon berichtet, dass es in dem Regionalstaat Tigray auch nach dem im November 2022 geschlossenen Abkommen zur Beilegung der Feindseligkeiten gegenüber Frauen und Mädchen zu sexueller Gewalt mit der Folge von ungewollten Schwangerschaften und HIV-Infektionen durch militärische und paramilitärische Gruppen gekommen ist (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Äthiopien, 11. September 2023, 25. September 2023, 23. Oktober 2023). Ebenso geht aus den Erkenntnismitteln hervor, dass die Konflikte im Norden Äthiopiens trotz des geschlossenen Friedensabkommens weiter anhalten und es in diesem Zusammenhang immer wieder zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt insbesondere gegenüber Frauen und Mädchen aus dem Volk der Tigray kommt, die ein alarmierendes Ausmaß erreicht haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Aktuelle Informationen zur Lage von Frauen, bzw. alleinstehender Frauen vom 25. Oktober 2023).
36
Die sexuellen Übergriffe auf Frauen und Mädchen erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie weiblich sind. Diese Übergriffe betreffen damit unverhältnismäßig oft Frauen, womit geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht der Einzelrichterin nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen, die in der Region Tigray leben im Gegensatz zu Männern sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, entsprechend dem oben ausgeführten als soziale Gruppe mit abgrenzbarer Identität angesehen werden.
37
Der Klägerin droht nach alldem bei einer Rückkehr in die Region Tigray mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form von sexualisierter Gewalt.
38
Die Klägerin hat darüber hinaus nicht die Möglichkeit, sich dieser sexualisierten Gewalt zu entziehen, indem sie sich in einem anderen Teil des Landes niederlässt. Eine Möglichkeit internen Schutzes besteht für die Klägerin und ihre Familie, die in die Beurteilung mit einzubeziehen ist, nicht.
39
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil des Landes keine begründete Furcht vor der Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Ob einem Ausländer in einem anderen Landesteil keine relevante Gefahr droht, ist nur dann entscheidungserheblich, wenn die in einem anderen Landesteil drohende Gefahr nicht von dem Staat ausgehen. Geht die Gefahrenlage im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG von einem anderen Akteur aus und besteht sie nur in einem Teil des Herkunftslandes, setzt der Verweis auf einen anderen Landesteil als Ort des internen Schutzes voraus, das dem Ausländer dort nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris).
40
Anhaltspunkte dafür, dass für Frauen wegen ihrer Geschlechterzugehörigkeit in ganz Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Vergewaltigung oder sexualisierter Gewalt besteht, liegen keine vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln geht zwar hervor, dass Frauen, die dem Volk der Tigray angehören, im Norden Äthiopiens von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Dies beschränkt sich jedoch nur auf den Norden des Landes, insbesondere den Regionalstaat Tigray. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frauen aus dem Volk der Tigray in anderen Landesgebieten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Vergewaltigungen oder sexualisierter Gewalt droht.
41
Dennoch ist es der Klägerin nicht zumutbar, sich in einem anderen Landesteil wie beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba niederzulassen und dort eine neue Existenz aufzubauen.
42
Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt (BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris).
43
Ein verfolgungssicherer Ort soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erwerbsfähigen Personen ein hinreichendes wirtschaftliches Existenzminimum in aller Regel dann bieten, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden könnten. Nicht zumutbar ist die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder der Teilnahme an Verbrechen besteht (BVerwG, U.v. 1. Februar 2007 – 1 C 24/06 –, juris Rn. 1; BVerwG, B.v. 13. Juli 2017 – 1 VR 3/17, juris Rn. 119; VGH Mannheim, U.v. 16. Oktober 2017 – A 11 S 512/17, juris Rn. 87).
44
So soll die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen verhindern, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich mit den Gefährdungen auseinanderzusetzen, deren er zuvor aufgrund der Möglichkeit des internen Schutzes verwiesen worden war (VGH Mannheim, U.v. 16. Oktober 2017 – A 11 S 512/17, juris Rn. 89).
45
Aufgrund der allgemein Wirtschaftslage in Äthiopien wird die Klägerin nach der Überzeugung des Gerichts in der Lage sein, für sich und ihre Familie ohne ein soziales Netzwerk ein zumutbares Existenzminimum zu erwirtschaften. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrem Lebensgefährten und ihren beiden zum einen knapp zwei Jahre alten und zu anderen vier Monate alten Kindern nach Äthiopien zurückkehren wird. Die Mutter der Klägerin lebt nach den glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung in Alamata in der Region Tigray, die übrige Familie über die Region Tigray verteilt, sodass die Klägerin nicht zu ihrer Familie zurückkehren kann. Insbesondere Familien mit mehreren Kindern können von der in Äthiopien vorherrschenden Lebensmittelknappheit besonders betroffen sein. (BayVGH, B.v. 12.9.2023 – 23 ZB 23.30669 – juris Rn. 17). Dies gilt vor allem dann, wenn die Betroffenen wie im vorliegenden Fall nicht auf den Rückhalt der (Groß-)Familie zurückgreifen können. Zwar verfügt die junge und arbeitsfähige Klägerin über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Krankenschwestern und konnte in diesem Beruf bereits vor ihrer Ausreise aus Äthiopien Berufserfahrung sammeln. Dennoch wird es ihr aufgrund der erforderlichen Betreuung der ihrer beiden, sich noch im Kleinkindalter befindenden Kinder, ohne den Rückgriff auf ein soziales Netzwerk nicht möglich sein, ihren Lebensunterhalt zu sichern und zeitgleich die für die Kinder erforderliche Betretung sicherzustellen.
46
Insgesamt kann daher von der Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass diese sich in einer größeren Stadt oder einem anderen Ort außerhalb ihrer Ursprungsregion niederlässt und ohne familiären Rückhalt ihre Existenz sichert.
47
Nach alldem ist der Klage stattzugeben.
48
Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.