Titel:
Erfolgreicher Eilantrag wegen Nichtberücksichtigung familiärer Belange
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
AsylG § 3,§ 4, § 30 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Rückführungs-RL Art. 5 lit. a, lit. b
Leitsatz:
Vor Erlass der Abschiebungsandrohung sind das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen gebührend zu berücksichtigen; eine Berücksichtigung nach Erlass der Abschiebungsandrohung, aber noch vor deren Vollstreckung ist nicht ausreichend. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, in der Bundesrepublik Deutschland geborenes Kind, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Gebot der Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Belange vor Erlass einer Abschiebungsandrohung, Abschiebungsandrohung, Berücksichtigung des Kindeswohls, familiäre Belange
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39792
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Oktober 2024 (Gz. *) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Dem Antragsteller wird für die Verfahren Au 9 K 24.31112 und Au 9 S 24.31113 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S. P.,, beigeordnet. Mehrkosten, die sich daraus ergeben, dass der Bevollmächtigte seinen Sitz nicht im Gerichtsbezirk hat, werden nicht erstattet.
Gründe
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Der Antragsteller wendet sich im Wege vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine sofort vollziehbare Androhung der Abschiebung in den Irak.
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Der am *. * 2022 in Kempten (Allgäu) (Bundesrepublik Deutschland) geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkzugehörigkeit und muslimisch-sunnitischem Glauben.
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Für den Antragsteller wurde am 2. März 2023 ein Asylantrag aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) als gestellt erachtet. Eine Beschränkung des Asylantrags gemäß § 13 Abs. 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Zur Begründung des Asylantrages wurden für den Antragsteller keine eigenen individuellen Gründe geltend gemacht. Von einer persönlichen Anhörung im Asylverfahren wurde gemäß § 24 Abs. 1 Satz 7 AsylG abgesehen.
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Die Eltern des Antragstellers haben bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 2. März 2023 für den Antragsteller keine eigenen Asylgründe geltend gemacht.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 7. Juli 2023 wurde der Asylantrag des Antragstellers zunächst als unzulässig abgelehnt und ihm gegenüber die Abschiebung nach Litauen angeordnet. Das Bundesamt hat mit Schreiben vom 9. Oktober 2023 erklärt, dass der Bescheid vom 7. Juli 2023 aufgehoben wird und eine Entscheidung im nationalen Verfahren ergehen wird.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 29. Oktober 2024 (Gz. *) wurden die Anträge des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids lehnt den weitergehenden Antrag auf subsidiären Schutz ebenfalls als offensichtlich unbegründet ab. In Nr. 4 des Bescheids wird festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. In Nr. 5 wird der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde dem Antragsteller die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass beim Antragsteller die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Unter Berücksichtigung der Feststellungen im Bescheid der Eltern des Antragstellers komme nur eine ablehnende Entscheidung in Betracht. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Überdies werde der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sei ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht habe, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang seien. Die Eltern des Antragstellers hätten für den Antragsteller keinerlei Asylgründe geltend gemacht. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Antragstellers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Nach der Erkenntnislage des Bundeamts im Zeitpunkt der Asylentscheidung lägen gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG keine kindlichen und/oder familiären Belange als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis i.S.v. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a) und/oder b) der RL 2008/115/EG vor. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Auf die weiteren Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 29. Oktober 2024 wird ergänzend verwiesen.
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Der Antragsteller hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 6. November 2024 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben (Az. Au 9 K 24.31112) über die noch nicht entschieden worden ist.
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Ebenfalls mit Schriftsatz vom 6. November 2024 hat der Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzes beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage wird wiederhergestellt/angeordnet.
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Zur Begründung wurde auf das Vorbringen des Antragstellers bzw. dessen Eltern im Verfahren Bezug genommen und dieses zum Gegenstand der Klage- und Antragsbegründung gemacht.
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Weiter wurde für den Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung für das Klage- und Antragsverfahren begehrt.
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Das Bundesamt hat dem Gericht die einschlägige elektronische Verfahrensakte vorgelegt.
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Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg hat in Bezug auf die Eltern und Geschwister des Antragstellers mit Beschluss vom 13. November 2024 (Az. Au 9 S 24. 31130) die aufschiebende Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage (Az. Au 9 K 24.31129) angeordnet. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 11. November 2024 sein Vorbringen ergänzt und vertieft. Er hat ausgeführt, dass ein Offensichtlichkeitsurteil vorliegend keinen Bestand haben könne. Die Eltern des Klägers und Antragstellers hätten sich auf das eigene Verfolgungsschicksal bezogen. Dies könne nicht dazu führen, dass der Asylantrag des nachgeborenen Kindes als offensichtlich unbegründet abgelehnt werde.
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Das Bundesamt ist für die Antragsgegnerin dem Antrag mit Schriftsatz vom 8. November 2024 entgegengetreten und beantragt,
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den Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) abzulehnen.
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Zur Begründung wurde auf die mit Klage und Eilantrag angegriffene Entscheidung verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte elektronische Verfahrensakte verwiesen.
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Der zulässige Antrag ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) begründet.
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1. Gegenstand des Antrags ist die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) sofort vollziehbare Androhung der Abschiebung des Antragstellers in den Irak (Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts vom 29. Oktober 2024). Die Antragsfrist von einer Woche (§ 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) wurde eingehalten.
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2. Der Antrag ist auch in der Sache begründet. Die im Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Zwar bestehen keine ernstlichen im Eilverfahren beachtlichen Zweifel hinsichtlich der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, jedoch gebietet die Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Belange im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die erlassene Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einer Woche. Dies ist Folge der gerichtlichen Entscheidung vom 13. November 2024 im Verfahren Az. Au 9 S 24.31130, in dem die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage in Bezug auf das Asylverfahren und die Abschiebungsandrohung der Eltern und Geschwister des Antragstellers unanfechtbar angeordnet worden ist.
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Aufgrund dieser Entscheidung überwiegt das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse an der sofort vollziehbaren (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) Abschiebungsandrohung, weil sich diese zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als voraussichtlich rechtswidrig erweist.
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Eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung ist an der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 (Rückführungsrichtlinie) zu messen. Es handelt sich dabei um eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Rückführungsrichtlinie (vgl. BVerwG, B. v. 8.6. 2022 – BVerwG 1 C 24.21 – juris Rn. 18). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie vor Erlass einer Abschiebungsandrohung festzustellen, ob das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen im Bundesgebiet, die von Art. 6 GG, Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK geschützt sind, eine Aufenthaltsbeendigung zulassen. Denn aus Art. 5 Buchst. a) und b) Rückführungsrichtlinie folgt, dass vor Erlass der Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen gebührend zu berücksichtigen sind. Dabei muss die Situation des Minderjährigen umfassend und eingehend beurteilt werden. Unionsrechtlich reicht nicht aus, dass dessen Belange nach Erlass der Abschiebungsandrohung, aber noch vor deren Vollstreckung – etwa in einem ausländerrechtlichen Verfahren auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG – berücksichtigt werden (vgl. EuGH, B. v. 15.2. 2023 – C-484/22 – juris Rn. 24 ff.). Auch kommt es nicht darauf an, ob die Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen oder gegen seine Eltern ergeht (vgl. EuGH, U.v. 11.3. 2021 – C-112/20 – juris Rn. 33):
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Nach diesen Maßgaben liegt eine schützenswerte familiäre Verbindung zwischen dem Antragsteller und seinen Eltern offensichtlich vor. Im Falle einer Abschiebung wäre der minderjährige Antragsteller als Kleinstkind von seinen Eltern für die Dauer des Asylverfahrens (Gerichtsverfahrens) getrennt. Die Trennung jüngerer Kinder, wie des Antragstellers, von einem Elternteil belastet indes schon bei kurzer Dauer die gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) geschützten familiären Belange sowie die Eltern-Kind-Beziehung erheblich und beeinträchtigt damit das Kindeswohl, welchem nach Art. 6 Abs. 3 GG besonderes Gewicht zukommt.
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Dem folgend war die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheids vom 29. Oktober 2024 auszusetzen und die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren Au 9 K 24.31112 antragsgemäß anzuordnen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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4. Da nach den vorstehenden Ausführungen hinreichende Erfolgsaussichten für das vom Antragsteller angestrengte Eil- und Klageverfahren bestehen, war dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für die Verfahren Az. Au 9 S 24.31113 und Au 9 K 24.31112 unter Rechtsanwaltsbeiordnung zu bewilligen. Für das Eilverfahren ist diese Entscheidung aufgrund der Gerichtskostenfreiheit des vorliegenden Verfahrens und der unanfechtbaren Kostenentscheidung zu Lasten der Antragsgegnerin lediglich von deklaratorischer Wirkung. Da der vom Antragsteller bevollmächtigte Rechtsanwalt seinen Sitz nicht im Gerichtsbezirk hat, waren hierdurch veranlasste Mehraufwendungen nicht für erstattungsfähig zu erklären.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).