Titel:
Anspruch auf Differenzschaden bei Dieselfahrzeug mit Motor EA 288 (hier: VW Golf VII 2.0 TDI)
Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; BeckRS 2023, 22177; BeckRS 2023, 26995; OLG Brandenburg BeckRS 2023, 24365; BeckRS 2023, 26097; BeckRS 2023, 27729; BeckRS 2023, 38244; OLG Braunschweig BeckRS 2024, 5362; OLG Dresden BeckRS 2022, 18927; BeckRS 2023, 28462; BeckRS 2023, 38952; BeckRS 2023, 38953; BeckRS 2022, 25164; BeckRS 2022, 21940; BeckRS 2023, 8578; BeckRS 2023, 10871; OLG Düsseldorf BeckRS 2023, 38254; OLG Hamm BeckRS 2023, 39321; BeckRS 2023, 36031; OLG Karlsruhe BeckRS 2022, 10880; OLG Köln BeckRS 2024, 2723; OLG Rostock BeckRS 2024, 1951; OLG Stuttgart BeckRS 2023, 38147 (mwN in Ls. 1); OLG Schleswig BeckRS 2022, 10559 (mwN in Ls. 1); anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388; offen gelassen bei BGH BeckRS 2023, 27169. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein objektiv sittenwidriges Handeln der Herstellerin kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass im Fahrzeug Einrichtungen vorhanden sind, die die Abgasemissionen beeinflussen und möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtungen iSv Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sind. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum der Herstellerin kann nicht angenommen werden, wenn diese zwar umfangreich zur nachrangigen Frage der Unvermeidbarkeit eines Irrtums (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 63) ausgeführt hat, jedoch jeder Vortrag zum Verbotsirrtum sämtlicher ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses fehlt. (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein in jeder Hinsicht – sowohl was die Art als auch was die möglichen Folgen des Verstoßes angeht – mittelschwerer Fall rechtfertigt innerhalb der unionsrechtlich vorgegebenen Bandbreite von 5% bis 15% die Anwendung des mittleren Prozentsatzes von 10%. (Rn. 66) (redaktioneller Leitsatz)
5. Einen Differenzschaden bejahend auch: KG BeckRS 2024, 13983; OLG Celle BeckRS 2023, 32827; OLG Dresden BeckRS 2023, 22299; BeckRS 2023, 32835; BeckRS 2024, 28982; OLG Hamburg BeckRS 2023, 26911; BeckRS 2024, 13979; OLG Hamm BeckRS 2023, 25175; BeckRS 2023, 29622; BeckRS 2023, 32870; OLG München BeckRS 2024, 5142; BeckRS 2024, 5496; BeckRS 2024, 5589; BeckRS 2024, 6664; BeckRS 2024, 6950; BeckRS 2024, 7525; BeckRS 2024, 8552; BeckRS 2024, 8714; BeckRS 2024, 11301; BeckRS 2024, 23145; BeckRS 2024, 24738; BeckRS 2024, 27999; BeckRS 2024, 27994; BeckRS 2024, 34038; OLG Oldenburg BeckRS 2024, 643; BeckRS 2024, 5526; OLG Saarbrücken BeckRS 2024, 31665; OLG Schleswig BeckRS 2023, 35465; BeckRS 2024, 3307; OLG Stuttgart BeckRS 2023, 35483; BeckRS 2024, 394; für Wohnmobil: OLG Naumburg BeckRS 2023, 27644. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, Schutzgesetzverstoß, Übereinstimmungsbescheinigung, Differenzschaden, unvermeidbarer Verbotsirrtum, Restwert, Nutzungsentschädigung
Vorinstanz:
LG München II, Urteil vom 24.06.2021 – 14 O 4549/20
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39731
Tenor
I. Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts München II vom 24.06.2021, Az. 14 O 4549/20, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei € 2.540,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15.12.2020 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Klägerin 87% und die Beklagte 13%.
IV. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts in obiger Fassung sind vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Rahmen des sog. Dieselskandals betreffend einen VW Golf VII 2.0 TDI.
2
Die Klagepartei erwarb das Fahrzeug mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) ... am 29.05.2015 von der ... GmbH, Weilheim als Tageszulassung zu einem Kaufpreis von € 25.400. Das Fahrzeug war am 30.03.2015 erstzugelassen worden (Anlage K 1). Der Kilometerstand bei Kauf betrug 100 km. Es verfügt über einen Motor des Typs EA 288 nach der Abgasnorm Euro 5. Das Fahrzeug verfügt weder über einen NOx-Speicherkatalysator (NSK), noch über einen SCR-Katalysator (Ad Blue). Die NOx-Reduktion erfolgt innermotorisch und zwar über die Abgasrückführung (AGR). In der Motorsteuerungssoftware des streitgegenständlichen Fahrzeugs ist eine Fahrkurvenerkennung hinterlegt. Das Fahrzeug verfügt über eine wirksame EG-Typgenehmigung.
3
Das Fahrzeug wies im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht (24.06.2021) einen Kilometerstand von 73.421 km auf (Bl. 310 d.A.). Am 28.11.2024 betrug der Kilometerstand 97.779 km (Bl. 612; 643 d.A.).
4
Die Klagepartei behauptet., das Fahrzeug sei ebenso wie die Fahrzeuge mit dem zuerst vom Dieselskandal betroffenen Motor EA 189 nicht in der Lage, die geltenden Emissionsgrenzwerte für Stickoxide einzuhalten. Auch beim hiesigen Motor EA 288 würden die Emissionsgrenzwerte mithilfe der unzulässigen Fahrkurvenerkennung und des unzulässigen Thermofensters nur auf dem Prüfstand erreicht. Als weitere unzulässige Abschalteinrichtung sei das manipulierte OBD-System anzusehen.
5
Die Klagepartei hat erstinstanzlich zuletzt beantragt (Bl. 194/195.; 310 d.A.):
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 19.190,09 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz sei dem 6. Januar 2020 zu zahlen. Die Verurteilung erfolgt Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 2.0 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) ... nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein und Kfz-Brief.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Schadensersatz zu zahlen für Schäden, die aus dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 EG-VO 715/2007 durch die Beklagte in das Fahrzeug der Marke VW vom Typ Golf VII 2.0 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) ... resultieren.
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme der in vorgenannten Klageanträgen genannten Zug-um-Zug-Leistung in Annahmeverzug befindet.
4. Es wird festgestellt, dass der in Antrag zu 1) bezeichnete Anspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt.
5. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.077,74 freizustellen.
6
Die Beklagte hat beantragt,
7
Die Beklagte hat vorgetragen, im Fahrzeug der Klagepartei seien keine unzulässigen Abschaltvorrichtungen verbaut. Insbesondere sei im streitgegenständlichen Fahrzeug zwar eine Fahrkurve hinterlegt, diese hätte aber keine Auswirkungen auf die Schadstoffemissionen. Das Fahrzeug verfüge auch nicht über eine unzulässige temperaturgesteuerte Abschaltvorrichtung. Die Abgasrückführung sei bei einer Außentemperatur zwischen -24 °C und +70 °C zu 100% aktiv.
8
Durch Endurteil vom 24.06.2021 (Bl. 310/311; 316/320 d.A.), auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat das Landgericht die Klage vollständig abgewiesen.
9
Mit ihrer dagegen gerichteten Berufung verfolgt die Klagepartei ihr Begehren unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens weiter.
10
Die Klagepartei hat in der Berufungsinstanz zunächst (Bl. 342/343 d.A.) angekündigt zu beantragen, unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils wie folgt zu erkennen:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 19.190,09 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz sei dem 6. Januar 2020 zu zahlen. Die Verurteilung erfolgt Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 2.0 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) ... nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein und Kfz-Brief.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Schadensersatz zu zahlen für Schäden, die aus dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 EG-VO 715/2007 durch die Beklagte in das Fahrzeug der Marke VW vom Typ Golf VII 2.0 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) ... resultieren.
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme der in vorgenannten Klageanträgen genannten Zug-um-Zug-Leistung in Annahmeverzug befindet.
4. Es wird festgestellt, dass der in Antrag zu 1) bezeichnete Anspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt.
5. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.077,74 freizustellen.
11
Zuletzt (Bl. 601 f.) hat sie nur noch folgende Anträge gestellt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Entschädigungsbetrag bezüglich des Fahrzeugs der Marke VW mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, der jedoch mindestens EUR 3.810,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit betragen muss.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.077,74 freizustellen.
Sofern die Beklagte nicht antragsgemäß verurteilt wird, wird hilfsweise beantragt,
das Verfahren gemäß § 148 ZPO analog auszusetzen und das Verfahren erst wieder aufzunehmen, nachdem die im Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 27. Oktober 2023 gestellten Fragen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), Az. C-666/23 bis C 668/23 beantwortet worden sind.
12
Im Übrigen hat die Klagepartei die Berufung in der mündlichen Verhandlung vom 05.12.2024 zurückgenommen (Bl. 723 d.A.).
13
Die Beklagte beantragt,
Die Berufung der Klagepartei wird zurückgewiesen.
14
Die Beklagte verteidigt das landgerichtliche Urteil ebenfalls unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags. Mit Schriftsatz vom 29.11.2024, S. 5 ff. (Bl. 654 ff. d.A.) hat die Beklagte zum Thermofenster ergänzend ausgeführt, dass es beim streitgegenständlichen Fahrzeug im Rahmen der allgemeinen Motorsteuerung faktisch auch bei Umgebungstemperaturen oberhalb von -24 °C und unterhalb von + 70 °C zu einer Korrektur der AGR-Rate kommen könne. Korrektur bedeute dabei die Veränderung der betriebszustandsindividuell eingestellten AGR; diese Veränderung könne je nach Umgebungs- oder Betriebsbedingung in einer Verringerung oder Erhöhung der AGR-Rate bestehen (Bl. 660 d.A.). Messungen der Umgebungstemperatur beeinflussten beim streitgegenständlichen Fahrzeug die AGRRate innerhalb des Temperaturbereichs von -24 °C bis +70 °C nicht. Dies schließe jedoch nicht aus, dass es als Teil der allgemeinen Motorsteuerung, die auf die unterschiedlichen Bedingungen reagiere, unter denen ein Motor betrieben werde, faktisch auch bei Umgebungstemperaturen oberhalb von -24 °C und unterhalb von +70 °C zu einer Korrektur der AGRRate kommen könne. Denn die im Motorraum bzw. Fahrzeugantriebssystem gemessenen Temperaturen, die als Teil der allgemeinen Motorsteuerung eine Korrektur der AGRRate bewirken könnten, könnten teilweise mittelbar zum Teil von der Umgebungstemperatur beeinflusst werden (Bl. 669 d.A.).
15
Zur Ergänzung wird auf die zwischen den Parteivertretern gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 05.12.2024 sowie den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.
16
Die zulässige Berufung der Klagepartei hat teilweise Erfolg.
17
Die erstmalige Geltendmachung des Differenzschadens im Berufungsverfahren ist zulässig. Die Geltendmachung des Differenzschadens anstelle des großen Schadensersatzes ist nicht als Klageänderung anzusehen, weil der Lebenssachverhalt im Übrigen unverändert ist (vgl. BGH NJW 2018, 1463 Rn. 53).
18
Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf großen Schadensersatz, der weiter dem Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Kosten gemäß dem zuletzt gestellten Antrag Ziff. 2 zugrunde gelegt wird. Der mit dem zuletzt gestellten Antrag Ziff. 1 begehrte Differenzschaden steht der Klagepartei dagegen in Höhe von € 2.540,00 zu.
19
1. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 826, § 31 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung.
20
a) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht. Ob ein Verhalten sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB ist, ist dabei eine Rechtsfrage, die der uneingeschränkten Kontrolle des Revisionsgerichts unterliegt (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 14 f. mwN; Urteil vom 8. März 2021 – VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 17 f.; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 192/20, NJW 2022, 321 Rn. 20).
21
Nach diesen Grundsätzen kann ein objektiv sittenwidriges Handeln der Beklagten nicht allein daraus abgeleitet werden, dass im Fahrzeug der Klagepartei Einrichtungen vorhanden sind, die die Abgasemissionen beeinflussen und möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sind. Der darin liegende Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz emissionsbeeinflussender Einrichtungen im Verhältnis zur Klagepartei als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtungen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 19; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, NJW 2021, 1814 Rn. 28; Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, VersR 2021, 1252 Rn. 13; Urteil vom 20. Juli 2021 – VI ZR 1154/20, VersR 2021, 1575 Rn. 13; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721 Rn. 16).
22
b) Aus dem Einsatz einer temperaturgesteuerten Abgasrückführung (Thermofenster) kann die Klagepartei einen Anspruch aus § 826 BGB nicht herleiten.
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Selbst wenn in dem streitgegenständlichen Fahrzeug ein unzulässiges Thermofenster eingebaut ist (s. hierzu unter 3 c)), rechtfertigt dies den Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht. Denn der Einsatz eines Thermofensters – dessen Unzulässigkeit unterstellt – reicht für sich genommen nicht aus, um einen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB zu begründen (BGH NJW 2021, 921, Rn. 16; BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 15). Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen, zeigt die Klagepartei nicht auf. Gegen ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten spricht, dass die Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des von allen Herstellern eingesetzten Thermofensters angesichts der kontrovers geführten Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) Nr. 715/2007 als unsicher anzusehen war. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten – ebenso wie für den erforderlichen Schädigungsvorsatz – nicht (BGH NJW 2020, 1962 Rn. 62).
24
Auch aus einer etwaig unterbliebenen Offenlegung der genauen Wirkungsweise des Thermofensters gegenüber dem KBA folgen keine Anhaltspunkte, dass für die Beklagte tätige Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Selbst wenn die Beklagte dabei – erforderliche – Angaben zu den Einzelheiten der temperaturabhängigen Steuerung unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu prüfen (BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 26). Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, hat die Klagepartei nicht vorgetragen und vermag der Senat auch nicht zu erkennen.
25
c) Auch im Hinblick auf die unstreitig verbaute Fahrkurvenerkennung kommt ein Anspruch aus § 826 BGB nicht in Betracht. Die Klagepartei hat weder greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen einer der von ihr behaupteten unzulässigen Abschaltvorrichtung aufgrund einer Fahrkurvenerkennung aufgezeigt (nachfolgend aa) noch lässt die von der Klagepartei behauptete Fahrkurve den Schluss auf eine sittenwidrige Schädigung zu (nachfolgend bb).
26
aa) Greifbare Anhaltspunkte für die von der Klagepartei behauptete unzulässige Abschaltvorrichtung aufgrund einer Fahrkurvenerkennung hat die Klagepartei nicht vorgetragen.
27
(1) Die Klagepartei trägt insoweit vor (Klageschrift S. 21 ff.), in der „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ der Abteilung „Technische Entwicklung“ aus dem Jahr 2015 werde eindeutig offengelegt, dass die Beklagte in dem streitgegenständlichen Fahrzeug die sogenannten „Strategien“ der Zykluserkennung verwendet habe sowie bei SCR-Katalysatoren die AdBlue-Einspritzung bewusst reduziert habe, aufgrund dessen die Emissionswerte im Realbetrieb um ein Vielfaches überschritten würden.
28
(2) Die Beklagte trägt vor, im streitgegenständlichen Fahrzeug sei zwar eine Fahrkurvenerkennung verbaut, diese hätte aber keine Auswirkungen auf die Schadstoffemissionen. Das streitgegenständliche Fahrzeug erkenne zwar den Prüfzyklus, wenn es einen solchen durchfahre. An das Erkennen seien aber keine Funktionen mit Auswirkungen auf die Schadstoffemissionen des Fahrzeugs geknüpft. In EA288-EU6-Fahrzeugen mit NSK bewirke die Fahrkurvenerkennung insbesondere, dass der NSK am Ende der einem NEFZ stets vorgeschalteten Vorkonditionierungsfahrt, sogenanntes Preconditioning oder „Precon“, vollständig regeneriert werde, damit er zu Beginn der NEFZ-Prüffahrt leer sei, und dass innerhalb des NEFZ der NSK an zeitlich genau definierten Punkten regeneriere. Aufgrund der gleichen SoftwareBasis sei die Fahrkurvenerkennung in EA 288 EU6- und EU5-Konzepten enthalten, sei jedoch für die EU5- Konzepte unter anderem aufgrund des fehlenden NSK folgenlos. Entsprechend sei auch keine Beanstandung des KBA erfolgt. Vielmehr habe das KBA im Rahmen amtlicher Auskünfte gegenüber Gerichten in Parallelverfahren mitgeteilt, dass die Fahrkurvenerkennung „keinen Einfluss auf die Emissionen“ habe. Insoweit verweist die Beklagte auf eine amtliche Auskunft des KBA vom 08.10.2020 gegenüber dem Landgericht Bayreuth (Schriftsatz vom 28. Februar 2023, S. 9 f., Bl. 504 f. d.A. unter Verweis auf Anlage „B 11“ – gemeint ist wohl B 17; vgl. auch Schriftsatz vom 29.11.2024, S. 21 ff. – Bl. 670 ff. d.A.). Dem hat die Klagepartei nichts substantiiert entgegengesetzt. Insbesondere ist die von der Beklagten vorgelegte „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ (Anlage B 7) von vorneherein nicht einschlägig, da sich diese offensichtlich auf Motoren der Schadstoffklasse EU 6 und nicht – wie hier streitgegenständlich – auf solche der Schadstoffklasse EU 5 bezieht. Soweit sich die Klagepartei auf die Applikationsrichtlinie zu EA189 bezieht und ausführt, dort werde auch das Aggregat EA 288 erwähnt und auf S. 7 erläutert, dass bei generellen Änderungen des Motorsteuergerätes (MSG) dies zum Anlass genommen werde, dann auch die Fahrkurve auszubedaten, hilft das ebenfalls nicht weiter. Diese Aussage stützt lediglich die zwischen den Parteien unstreitige Tatsache, dass in dem streitgegenständlichen Aggregat eine Fahrkurve hinterlegt ist, vermag aber nicht den in diesem Zusammenhang entscheidenden Vortrag der Beklagten zu widerlegen, wonach die Fahrkurvenerkennung keine Auswirkungen auf die Schadstoffemissionen habe. Soweit die Klagepartei vorträgt, bei SCR-Katalysatoren habe die Beklagte die AdBlue-Einspritzung bewusst reduziert, verkennt sie, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug unstreitig (Schriftsatz der Klagepartei vom 16.06.2021, S. 8) bereits kein SCR-Katalysator verbaut ist.
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(3) Damit liegen keine greifbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form einer Fahrkurvenerkennung vor. Denn der streitgegenständliche Fahrzeugtyp VW Golf 2.0 TDI 110 kW Euro 5 mit Motortyp EA 288 wurde gemäß amtlicher Auskunft des KBA vom 8.10.2020 untersucht. „Ergebnis dieser Untersuchung war, dass eine Fahrkurvenerkennung in dem Fahrzeug appliziert ist, welche jedoch keinen Einfluss auf die Emissionen hat“ (vergleiche Anlage B 17). Eine Fahrkurvenerkennung ist für eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur dann relevant, wenn eine auf dem Prüfstand erkannte Fahrkurve Auswirkungen auf das Emissionsverhalten hat (BGH, NJW 2023, 2259, Rn. 48). Hierfür bestehen nach dem oben Ausgeführten keine greifbaren Anhaltspunkte.
30
bb) Jedenfalls fehlt es an der objektiven Sittenwidrigkeit dieser Fahrkurve.
31
Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31, 830 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass die Beklagte bei der Entwicklung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. BGH BeckRS 2023, 37216, Rn. 12; BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 – III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 12; – III ZR 303/20, juris Rn. 13 mwN).
32
Danach fehlen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Denn nach den von der Beklagten angeführten Auskünften des KBA hat dieses in Bezug auf diverse Ausführungen des Motors der Baureihe EA 288 mitgeteilt, dass die Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung nicht zu einer Überschreitung der Grenzwerte geführt habe. Dem ist die Klagepartei nicht substantiiert entgegengetreten. Greifbare Anhaltspunkte für die Annahme, die Beklagte habe das KBA über Funktionsweise und Wirkung der Fahrkurve getäuscht, bestehen nicht.
33
d) Der Klagepartei steht der geltend gemachte Anspruch auch nicht deshalb zu, weil das streitgegenständliche Fahrzeug über eine sonstige unzulässige Abschaltvorrichtung verfügt.
34
aa) Greifbare Anhaltspunkte für das Vorhandensein sonstiger unzulässiger Abschalteinrichtungen, die dem KBA – aus welchen Gründen auch immer – verborgen geblieben wären, bestehen nicht. Fehlt es wie hier nämlich an einem Rückruf des streitgegenständlichen Fahrzeugs wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung, so bedarf es anderer gewichtiger Indizien für das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung (OLG München BeckRS 2021, 9658 Rn. 36).
35
Solche sind im Hinblick auf den konkreten Fahrzeugtyp jedoch nicht vorgetragen.
36
bb) Greifbare Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere auch nicht aus einer vermeintlichen Manipulation des sogenannten On-Board-Diagnose-Systems (OBD-Systems). Nach der Definition in Art. 3 Nr. 9 VO (EG) 715/2007 ist das OBD-System ein System für die Emissionsüberwachung, das in der Lage ist, mithilfe rechnergespeicherter Fehlercodes den Bereich von Fehlfunktionen anzuzeigen. Es überwacht während des Fahrbetriebes u.a. alle abgasbeeinflussenden Systeme, zeigt dem Fahrer über eine Kontrollleuchte auftretende Fehler an und speichert diese, so dass die Fehlermeldungen später durch eine Fachwerkstatt abgefragt werden können. Die spezifische Funktionsweise des OBD-Systems bedingt, dass es nicht als Indiz für eine Täuschungsabsicht herangezogen werden kann. Das OBD-System dient nämlich nicht der permanenten Überwachung des Schadstoffausstoßes, sondern der Funktionalität der zu überwachenden Bestandteile des Abgasrückführungssystems. Anhang XI Ziff. 2.1 der VO 692/2008/EG i.V.m. Ziff. 3.1. und 2.1 des Anhangs 11 der UN/ECE Regelung Nr. 83 betreffend On-Board-Diagnosesysteme stellen auf die Überwachung von Fehlfunktionen ab. Dabei wird eine „Fehlfunktion“ dort in Ziff. 2.6. definiert als der Ausfall oder das fehlerhafte Arbeiten eines emissionsrelevanten Bauteils oder Systems, welcher ein Überschreiten der in Absatz 3.3.2 genannten Emissionsgrenzwerte zur Folge hätte. Daraus ergibt sich, dass die Aufgabe des OBD-Systems eine Funktionsüberwachung ist, die lediglich den Ausfall eines emissionsrelevanten Bauteils über das System anzuzeigen hat, eine fehlfunktionsunabhängige Überwachung des Schadstoffausstoßes wird vom OBD-System jedoch nicht verlangt. Die Vorschrift geht nicht davon aus, dass das Überschreiten der Schwellenwerte als solches eine Fehlfunktion darstellt, sondern sie verlangt, dass eine technische Fehlfunktion im Sinne eines Ausfalls vorliegen muss, um eine Fehlermeldung zu generieren (vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 2022, 10953 Rn. 16; OLG Dresden BeckRS 2022, 40490 Rn. 26). Dass Überschreitungen von zulässigen NOx-Ausstößen vom OBD-System nicht angezeigt werden, kann folglich nicht als Verschleierung und damit als greifbarer Anhaltspunkt für eine vorhandene illegale Abschalteinrichtung gewertet werden, weil das OBD-System den Schadstoffausstoß nicht unmittelbar misst oder überwacht und folglich Überschreitungen als solche gar nicht anzeigen kann.
37
cc) Es ist auch nicht statthaft, alle Fahrzeuge der Beklagten dahingehend gleichsam über einen Kamm zu scheren, dass, wenn eine unzulässige Abschalteinrichtung in einem Motor eines Fahrzeugherstellers vorliege, dies im Regelfall die gesamte Motorenreihe oder gar alle Fahrzeuge dieses Herstellers bzw. dieses Konzerns betreffe (OLG Hamm BeckRS 2021, 31189 Rn. 78; OLG Koblenz BeckRS 2019, 18418 Rn. 22). Ein solcher Erfahrungssatz kann nicht angenommen werden, schon weil damit sämtliche Motoren einer Motorenfamilie bzw. einer Baureihe ohne Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen technischen Merkmale einem Generalverdacht unterworfen würden (OLG München BeckRS 2021, 9658 Rn. 23; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 41726 Rn. 29). Entsprechend ist es unerheblich, wenn die Beklagte in anderen Gerichtsverfahren einräumt, dass nicht identische Fahrzeuge bzw. Motoren mit einer Abschaltvorrichtung versehen sind.
38
2. Der Klagepartei steht ein großer Schadensersatzanspruch auch aus den übrigen geltend gemachten Anspruchsgrundlagen nicht zu.
39
a) Eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB scheitert bei dem hier vorliegenden Kauf eines Vorführ-/Gebrauchtwagens jedenfalls an der erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden (vgl. BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 40; BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 Rn. 17 ff., ZIP 2020, 1715).
40
b) Die Beklagte haftet auch nicht nach §§ 831, 826 BGB. Insoweit fehlt es schon an der Darlegung einer zumindest bedingt vorsätzlichen Schädigungshandlung der für die Beklagte tätigen Personen. Im Übrigen war die Auslegung, dass es sich bei einem Thermofenster bzw. der Fahrkurvenerkennung nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 handelt, jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine zulässige Auslegung des Gesetzes. Damit liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mitarbeiter oder eventuelle Repräsentanten der Beklagten in dem Bewusstsein handelten, mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs möglicherweise gegen gesetzliche Vorschriften zu verstoßen, und damit einen Gesetzesverstoß sowie eine Schädigung des Käufers des Fahrzeugs auch nicht zumindest billigend in Kauf genommen haben.
41
c) Soweit die Klagepartei die geltend gemachten Ansprüche auch auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m § 16 UWG stützt, fehlt es an jedem Vortrag zu einer konkreten Werbeaussage.
42
d) Der Klagepartei steht auch kein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte aus §§ 311 Abs. 2, 3, 280 BGB zu. Die Beklagte hat an den Vertragsverhandlungen zwischen der Klagepartei und der Auto & Service PIA GmbH weder als Vertreter, Vermittler oder sog. Sachwalter teilgenommen, so dass es auf die Frage, ob der Beklagten am Abschluss des hiesigen Kaufvertrages ein eigenes wirtschaftliches Interesse zukommt oder sie hierbei ein besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst hat, nicht (mehr) ankommt (OLG Hamm, Beschluss vom 5.11.2020 – 18 U 86/20, BeckRS 2020, 30787, Rn. 6 unter Bezugnahme auf Palandt-Grüneberg, BGB, 79. Aufl., § 311 Rn. 60).
43
3. Der Klagepartei steht gegen die Beklagte jedoch ein Anspruch in Höhe von € 2.540,00 aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu.
44
a) Bei §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV handelt es sich um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB (BeckOK BGB/Förster, 70. Ed. 1.5.2024, § 823, Rn. 290; BGH NJW 2023, 2270 Rn. 25 ff.; NJW 2023, 2259 Rn. 18 ff.).
45
b) Die Beklagte hat für das streitgegenständliche Fahrzeug eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt. Unzutreffend ist eine Übereinstimmungsbescheinigung, wenn das betreffende Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist, weil die Bescheinigung dann eine tatsächlich nicht gegebene Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 ausweist (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 34).
46
c) Das streitgegenständliche Kraftfahrzeug ist mit einer Abschaltvorrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ausgestattet.
47
(aa) Nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ist eine Abschalteinrichtung ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
48
Während in Bezug auf die Funktionsänderung auf Teile des Emissionskontrollsystems abgestellt werden kann, kommt es für die Wirkung der Funktionsänderung auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit an. Maßstab für die Frage der Zulässigkeit einer Funktionsänderung in Abhängigkeit von bestimmten Parametern ist nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 nicht die Einhaltung des gesetzlichen Emissionsgrenzwerts, sondern die Wirksamkeit des unverändert funktionierenden Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs. In diesem Zusammenhang bedarf es eines Vergleichs der Wirksamkeit des unverändert funktionierenden und derjenigen des verändert funktionierenden Gesamtsystems, und zwar jeweils unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs im gesamten Unionsgebiet. Ob die Grenzwerte unter den Bedingungen des NEFZ auch bei veränderter Funktion eingehalten würden, ist hingegen mit Rücksicht auf den Wortlaut des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 nicht von Bedeutung. Die Prüfung im NEFZ lässt nur in Bezug auf die dabei wirksamen Emissionskontrollsysteme Prognosen für den gewöhnlichen Fahrbetrieb zu und auch das nur dann, wenn die Wirksamkeit der betreffenden Systeme im gewöhnlichen Fahrbetrieb nicht verringert wird. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 knüpft an die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit an und nicht an die Einhaltung der Grenzwerte im NEFZ (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 51).
49
(bb) Nach allgemeinen Regeln trifft die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung den Kläger als Anspruchsteller, weil es sich um einen anspruchsbegründenden Umstand handelt (vgl. BGHZ 225, 316 Rn. 35; BGH VersR 2022, 63 Rn. 15, jeweils zu § 826 BGB). Der Kläger muss Tatsachen vortragen, die in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 geeignet und erforderlich sind, den geltend gemachten Schadensersatzanspruch zu rechtfertigen, ohne allerdings seinen Tatsachenvortrag durch die Angaben weiterer Einzelheiten substantiieren zu müssen (BGH NJW 2022, 935 Rn. 17 m.w.N. zur st. Rspr.). Die Anforderungen an den Tatsachenvortrag des Klägers zum Vorhandensein einer Abschalteinrichtung dürfen dabei nicht überspannt werden. Der Kläger darf aber nicht willkürlich, aufs Geratewohl und ohne greifbare Anhaltspunkte Behauptungen aufstellen (vgl. entsprechend zu § 826 BGB: BGH VersR 2021, 1252 Rn. 20 ff.; BeckRS 2022, 14779 Rn. 20 f.).
50
(cc) Nach diesen Grundsätzen handelt es sich entsprechend dem Vortrag der Parteien bei dem im streitgegenständlichen Fahrzeug vorhandenen Thermofenster um eine unzulässige Abschaltvorrichtung.
51
Die Klagepartei hat vorgetragen (Klageschrift, S. 38 f.), das Thermofenster setze faktisch die Abgasreinigung bei dem streitgegenständlichen Motor für den Großteil des Jahres aus. Optimal funktioniere sie lediglich bei Temperaturen zwischen 20 °C und 30 °C. Ab einer Außentemperatur von (unter) 17 °C und über 30 ° C (sog. „Ausrampen“) hingegen schalte sich das Thermofenster regelmäßig ganz ab. In der Folge gelangten mehr Sickoxide „in die Umlaufbahn“.
52
Die Beklagte hat – nachdem sie zunächst behauptet hatte, dass die Abgasrückführung bei Temperaturen zwischen -24 °C und +70 °C zu 100% aktiv sei – mit Schriftsatz vom 29.11.2024, S. 5 ff. (Bl. 654 ff. d.A.) zum Thermofenster ergänzend ausgeführt, dass es beim streitgegenständlichen Fahrzeug im Rahmen der allgemeinen Motorsteuerung faktisch auch bei Umgebungstemperaturen oberhalb von -24 °C und unterhalb von + 70 °C zu einer Korrektur der AGR-Rate kommen könne. Korrektur bedeute dabei die Veränderung der betriebszustandsindividuell eingestellten AGR; diese Veränderung könne je nach Umgebungs- oder Betriebsbedingung in einer Verringerung oder Erhöhung der AGR-Rate bestehen (Bl. 660 d.A.). Messungen der Umgebungstemperatur beeinflussten beim streitgegenständlichen Fahrzeug die AGRRate innerhalb des Temperaturbereichs von -24 °C bis +70 °C nicht. Dies schließe jedoch nicht aus, dass es als Teil der allgemeinen Motorsteuerung, die auf die unterschiedlichen Bedingungen reagiere, unter denen ein Motor betrieben werde, faktisch auch bei Umgebungstemperaturen oberhalb von -24 °C und unterhalb von +70 °C zu einer Korrektur der AGRRate kommen könne. Denn die im Motorraum bzw. Fahrzeugantriebssystem gemessenen Temperaturen, die als Teil der allgemeinen Motorsteuerung eine Korrektur der AGRRate bewirken könnten, könnten teilweise mittelbar zum Teil von der Umgebungstemperatur beeinflusst werden (Bl. 669 d.A.).
53
Damit ist unstreitig, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasrückführung auch bei Umgebungstemperaturen zwischen -24°C und +70°C nicht zu 100% aktiv ist, sondern – zumindest auch – in Abhängigkeit von der Außentemperatur „angepasst“ wird. Diese Anpassung der AGR-Rate bedeutet nach Überzeugung des Senats, dass die AGR-Rate und damit die Wirksamkeit der zur Reduzierung der NOx-Emissionen eingesetzten Abgasrückführung verringert wird. Da die Verringerung der AGRRate zumindest mittelbar in Abhängigkeit von der Außentemperatur erfolgt, ist sie nicht anders zu bewerten als ein Thermofenster (OLG Karlsruhe, Urt. vom 09.04.2024, Az. 8 U 201/21, BeckRS 2024, 6612, Rn. 10). Der Senat geht davon aus, dass die Verringerung der AGR-Rate in (mittelbarer) Abhängigkeit von der Außentemperatur zumindest bei Temperaturen im mittleren einstelligen Plusbereich erfolgt, mithin bei Temperaturen, die deutlich über dem Gefrierpunkt liegen und die im Unionsgebiet häufig und regelmäßig vorkommen. Da sie die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems somit unter Bedingungen verringert, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, stellt die beschriebene Verringerung der AGR-Rate eine Abschalteinrichtung dar, die gemäß Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 grundsätzlich unzulässig ist (OLG Karlsruhe, a.a.O. Rn. 11, vgl. auch Urteil des Senats vom 25.07.2024, Az. 29 U 1294/19 Kart, UA S. 12 ff.).
54
(dd) Die Abschalteinrichtung ist auch nicht ausnahmsweise zulässig nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
55
Der Beklagten obliegt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine festgestellte Abschalteinrichtung zulässig ist. Das ergibt sich aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, weil die Verwendung einer Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 grundsätzlich unzulässig und nur unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausnahmsweise zulässig ist (BGHZ 237, 245 Rn. 54).
56
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 2.12.2024 (Bl. 716/719 d.A.) vorgetragen, die dargestellte Korrekturfunktion sei zum Schutz des Motors und sicheren Fahrzeugbetriebs erforderlich, da sie den Eintritt plötzlicher, nicht anders abwendbarer Motorschäden verhindere. Solche Risiken würden ohne die AGR-Korrektur für das Ladeluftrohr, die Kühlkassette des Ladeluftkühlers bzw. den Verdichter des Turboladers drohen. Außerdem bestünde ohne die AGR-Korrektur das nicht unerhebliche Risiko, dass es aufgrund der sehr hohen Temperaturen am Ausgang des Verdichters des Turboladers zu einem „Cracken“ des in der verdichteten Frischladung enthaltenen Öls und einem daraus resultierenden Schichtaufbau im Verdichter kommen könne („Verkokung“). Zudem seien ohne die Korrektur Situationen denkbar, in denen der Turbolader zur Aufrechterhaltung des erforderlichen Ladedrucks in zu hohe Drehzahlbereiche komme. Neben einem plötzlichen, nicht vorhersehbaren Ausfall des Turboladers mit der Folge eines Leistungsabfalls des Fahrzeugs könne es zu schwerwiegenden Schäden des Turboladers kommen. Nicht zuletzt komme es ohne die Korrektur zu einer deutlichen Erhöhung der Temperatur der Frischladung verbunden mit einem überproportionalen Anstieg an Partikelemissionen und infolge zu einer unkontrollierten Beladung des Dieselpartikelfilters mit dessen massiver Temperaturerhöhung. Dies könne zum Schmelzen sowie Brand benachbarter Bauteile sowie des Dieselpartikelfilters und infolge des gesamten Motors und Fahrzeugs führen. Für diese Behauptungen bietet die Beklagte Sachverständigenbeweis sowie die Einvernahme des sachverständigen Zeugen M. K. an.
57
Dieses Vorbringen, das die Klagepartei im Termin vom 05.12.2024 zulässigerweise mit Nichtwissen bestritten hat, und die damit verbundenen Beweisangebote sind verspätet gem. § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO, weil nicht ersichtlich ist, weshalb sie nicht erstinstanzlich geltend gemacht wurden, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht hätte.
58
d) Der Verstoß der Beklagten gegen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV durch die Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung ist auch schuldhaft erfolgt.
59
Die Beklagte hat die aus der Schutzgesetzverletzung folgende Verschuldensvermutung (vgl. BGHZ 237, 245 Rn. 59) weder ausgeräumt noch einen unvermeidbaren Verbotsirrtum konkret dargelegt.
60
Der Fahrzeughersteller, der sich unter Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten will, muss sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Erforderlich ist also zunächst die Darlegung eines Rechtsirrtums (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 63). Dazu hat der Fahrzeughersteller vorzutragen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit einer unzulässigen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Klagepartei (vgl. BGH a.a.O. Rn. 62 ff.) in einem Rechtsirrtum befanden (BGH NJW 2023, 3796 Rn. 14; BeckRS 2023, 31810 Rn. 13) oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. BGH NJW 2023, 3796 Rn. 14).
61
Die Beklagte hat zwar umfangreich zur nachrangigen Frage der Unvermeidbarkeit eines Irrtums (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 63) ausgeführt, es fehlt jedoch jeder Vortrag zum Verbotsirrtum sämtlicher ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses.
62
e) Durch den schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV hat die Klagepartei einen Vermögensschaden in Höhe von € 2.540,00 erlitten.
63
(aa) Die Klagepartei hat einen Schaden in Höhe des Betrages erlitten, um den sie das Fahrzeug mit Rücksicht auf die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Risiken zu teuer erworben hat.
64
(bb) Zur Erwerbskausalität kann sich die Klagepartei nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV auf den Erfahrungssatz stützen, dass sie den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte (BGH NJW 2023, 2270 Rn. 35). Umstände, die diesen Erfahrungssatz widerlegen, sind im Streitfall weder dargetan noch sonst ersichtlich, insbesondere kann sich die Beklagte nicht auf eine Verhaltensänderung berufen. Denn Voraussetzung hierfür wäre, dass die Beklagte ihr Verhalten vor dem Abschluss des konkreten Erwerbsgeschäfts dahin geändert hat, dass sie die Ausrüstung der Fahrzeuge mit Motoren einer dem erworbenen Fahrzeug entsprechenden Baureihe mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekannt gegeben hat, die einem objektiven Dritten die mit dem Kauf eines solchen Kraftfahrzeugs verbundenen Risiken verdeutlichen muss (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 57). Dies hat die Beklagte bis heute nicht getan. Vielmehr bestreitet sie bis heute, dass in Motoren der Baureihe EA 288 eine unzulässige Abschaltvorrichtung verbaut ist.
65
(cc) Der Differenzschaden beläuft sich auf € 2.540,00.
66
Der Senat schätzt die Höhe des der Klagepartei entstandenen Vermögensschadens gemäß § 287 ZPO unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles innerhalb der unionsrechtlich vorgegebenen Bandbreite (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 71 ff.) auf 10% des gezahlten Kaufpreises. Der Senat geht davon aus, dass der objektive Wert des Fahrzeugs durch das mit der Abschalteinrichtung verbundene Risiko der Betriebsstilllegung in diesem Umfang gemindert ist. Die Höhe des entstandenen Differenzschadens ist einer tatrichterlichen Schätzung nach § 287 ZPO zugänglich. Unter Berücksichtigung der maßgeblichen Umstände (vgl. hierzu BGH NJW 2023, 2259 Rn. 76 f.) handelt es sich in jeder Hinsicht, sowohl was die Art als auch was die möglichen Folgen des Verstoßes angeht, um einen mittelschweren Fall innerhalb der unionsrechtlich vorgegebenen Bandbreite von 5% bis 15%, der grundsätzlich die Anwendung des mittleren Prozentsatzes von 10% rechtfertigt. Daraus ergibt sich ein Differenzschaden in Höhe von € 2.540,00.
67
Soweit im streitgegenständlichen Fahrzeug darüber hinaus eine Fahrkurvenerkennung zum Einsatz kommt, wird die wegen der oben beschriebenen Abschalteinrichtung bestehende Gefahr von Betriebsbeschränkungen hierdurch nach Überzeugung des Senats nicht erhöht, so dass ein höherer Differenzschaden nicht gerechtfertigt ist (vgl. auch OLG Karlsruhe, a.a.O. Rn. 26). Wie ausgeführt (vgl. oben Ziff. 1 c) aa)), liegen im vorliegenden Fall keine greifbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form einer Fahrkurvenerkennung vor, da die Beklagte – von der Klagepartei nicht substantiiert angegriffen – ausgeführt hat, dass mit der Fahrkurve im streitgegenständlichen Fahrzeug keine Funktionen mit Auswirkungen auf das Emissionsverhalten verbunden seien.
68
(dd) Auf den Differenzschaden sind im Wege der Vorteilsausgleichung die Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs nach den Grundsätzen für die Berechnung des sogenannten kleinen Schadensersatzanspruchs anzurechnen (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 80). Danach sind Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Schadensersatzanspruch erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH NJW-RR 2022, 1033 Rn. 22).
69
(1) Der Klagepartei ist ein Nutzungsersatz in Höhe von € 9.928,15 anzurechnen. Dieser berechnet sich wie folgt:
„Kaufpreis x [aktueller Kilometerstand – Kilometerstand bei Erwerb] Gesamtlaufleistung – Kilometerstand bei Erwerb
70
(2) Grundsätzlich gilt für den Nutzungsersatz, dass der Wert des Gebrauchs eines Fahrzeugs nicht genau berechenbar ist. Daher muss er im Bestreitensfall analog § 287 Abs. 1 ZPO nach freiem Ermessen geschätzt werden (BGH NJW 2022, 463 Rn. 52 m.w.N.). Bei der Schätzung des Werts der gezogenen Nutzungen ist die zeitanteilige lineare Wertminderung zugrunde zu legen, die bei Neufahrzeugen ausgehend vom Bruttokaufpreis anhand eines Vergleichs zwischen tatsächlichem Gebrauch (gefahrene km) und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer (erwartete Gesamtlaufleistung) zu bestimmen ist (BGH NJW 2022, 463 Rn. 55 m.w.N.; NJW-RR 2021, 1388 Rn. 13).“
71
(3) Der Senat geht von einer Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs vom Typ Golf VII in Höhe von 250.000 km aus, da es sich um ein Fahrzeug handelt, das grundsätzlich auf eine umfangreiche und robuste Nutzung ausgelegt ist, die Beklagte selbst für sich in Anspruch nimmt, hochwertige Fahrzeuge anzubieten, die entsprechend gehobene Kaufpreise haben, und noch heute zahlreiche Dieselfahrzeuge der Beklagten mit einem identischen oder ähnlichen Baujahr zugelassen, betriebsbereit und im Verkehr sichtbar sind (Senat, Urteil vom 04.11.2021, Az. 29 U 234/19).
72
Da das Fahrzeug zum Kaufzeitpunkt 100 km gefahren war, betrug die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt 249.900 km. Unter Anwendung der oben dargestellten Formel ergibt sich bei einem Bruttokaufpreis von € 25.400,00 und von der Klagepartei gefahrenen 97.679 km ein im Wege der Vorteilsausgleichung grundsätzlich in Abzug zu bringender Betrag in Höhe von € 9.928,15.
73
(4) Der Senat schätzt den Restwert des Fahrzeugs auf € 10.429,21.
74
Hinsichtlich des Restwerts des Fahrzeugs geht der Senat vom Händlereinkaufspreis gemäß Gebrauchtwagenbewertung erstellt mit SilverDAT aus (§ 287 ZPO). Dabei handelt es sich nach Auffassung des Senats um denjenigen Betrag, den der Verkäufer eines Gebrauchtwagens bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge zu erzielen vermag, zumal sich in Zeiten weitestgehender Verbreitung des Internets nicht nur gewerbliche, sondern auch private Gebrauchtwagenkäufer bei lebensnaher Würdigung an den im Internet verfügbaren KFZ-Bewertungsmöglichkeiten orientieren werden. Für den Restwert ist nicht auf den Händlerverkaufspreis abzustellen, weil es sich hierbei um den Wiederbeschaffungspreis handelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dieser jedoch nicht maßgeblich. Vielmehr ist der Restwert des Fahrzeugs anzusetzen.
75
Vorliegend ergab die SilverDAT-Abfrage am 2.12.2024 einen aktuellen Restwert des Fahrzeugs von € 10.429,21
76
(5) Der um den Differenzschaden geminderte Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags beläuft sich auf € 22.860,00.
77
(6) Addiert man den Restwert des Fahrzeugs von € 10.429,21 und den Nutzungsersatz von € 9.928,15, ergibt dies einen Betrag für die Vorteilsanrechnung von € 20.357,36. Da dieser Betrag im Rahmen der Vorteilsausgleichung aber nur insoweit zu berücksichtigen ist, als er den um den Differenzschaden geminderten Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags von € 22.860,00 übersteigt, erfolgt hier keine Anrechnung.
78
4. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288, 291 ZPO.
79
5. Da der Klagepartei bereits dem Grunde nach der ursprünglich geltend gemachte „große“ Schadensersatz nicht zusteht, besteht kein Anspruch auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
80
Auch auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV kann neben dem Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht verlangt werden (BGH BeckRS 2023, 32287 Rn. 13). Die Voraussetzungen eines Anspruchs aus §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 BGB sind weder dargetan noch ersichtlich.
81
6. Das Verfahren war nicht analog § 148 ZPO im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des LG Ravensburg im Verfahren 2 O 331/19 auszusetzen (vgl. BGH BeckRS 2024, 10983 Rn. 15).
82
7. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
83
Der hilfsweise beantragten Aussetzung des Verfahrens (S. 11 f. des Schriftsatzes vom 28.11.2024 – Bl. 611 d.A.) zur Vorlage der Frage an den Europäischen Gerichtshof, ob die Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG in Verbindung mit Art. 3 Nr. 10 und Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 in Verbindung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, Urteil vom 17.12.2020, Az. C-693/18, Urteil vom 14.07.2022, Az. C-128/20, C-134/20, C-145/20, Urteil vom 21.03.2023, Az. C-100/21 im Lichte des Effektivitätsgrundsatzes dahingehend auszulegen seien, dass sie einer nationalen Regelung (hier § 92 ZPO) entgegenstehen, nach der ein Fahrzeugkäufer (Kläger) – dem Grunde nach – verpflichtet werden kann, einen Teil der Verfahrenskosten zu tragen, wenn nach der Feststellung eines Verstoßes des Herstellers dieses Fahrzeugs gegen das in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 enthaltene Verbot, seinem Antrag einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch die Ausrüstung seines Fahrzeuges mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung entstanden ist, nur teilweise stattgegeben wird, war nicht zu entsprechen.
84
Ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz ist nicht ersichtlich: Es ist weder unmöglich noch übermäßig schwierig, den Umfang des Schadensersatzanspruchs zu bestimmen.
85
a) Auf den von der Klagepartei angesprochenen schadensmindernd zu berücksichtigenden Vorteilsausgleich als dynamische Rechengröße kann es schon nicht ankommen, da dieser – wie ausgeführt – im vorliegenden Fall gar nicht zur Anwendung kommt, da Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Schadensersatzanspruch erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen sind, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen. Dies ist vorliegend nicht der Fall (vgl. oben Ziff. 3 e) dd) (6)).
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b) Soweit die Klagepartei darauf abstellt, dass die nationale Rechtsprechung (BGH, Urt. vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21) „die Kläger in den Dieselverfahren regelmäßig zwingt, von einer ursprünglich auf Kaufpreisrückzahlung gerichteten Klage Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, prozessual auf einen sogenannten Differenzschaden umzustellen mit der Konsequenz, dass der Kläger immer den ganz überwiegenden Teil der Verfahrenskosten selbst zu tragen habe“, verfängt dies gleichfalls nicht. Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt, das Unionsrecht verlange, was aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 21.03.2023 geklärt sei, nicht, den Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen, also das Interesse auf Rückabwicklung des Kaufvertrags in den sachlichen Schutzbereich der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV einzubeziehen (BGH NJW 2023, 2259 Rn. 22). Zugleich hat der Bundesgerichtshof festgestellt, auch unter Berücksichtigung des Gebots wirksamer und abschreckender Sanktionen nach Art. 46 RL 2007/46/EG und Art. 13 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 (EuGH ECLI:ECLI:EU:C:2023:229 = NJW 2023, 1111 Rn. 90 – Mercedes-Benz Group) stelle der Ersatz des Differenzschadens eine unionsrechtskonforme Haftungsfolge für einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) 715/2007 dar (BGH a.a.O. Rn. 43). Die kostenrechtlichen Folgen gemäß § 92 ZPO der – wie hier erfolgten – Umstellung des Klageantrags durch die Klagepartei von der europarechtlich nicht gebotenen Rückabwicklung des Kaufvertrages auf Ersatz des Differenzschadens als unionsrechtskonforme Haftungsfolge können daher nicht ihrerseits unionsrechtswidrig sein.
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8. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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9. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache erfordert, wie die obigen Ausführungen zeigen, lediglich die Anwendung gesicherter Rechtsprechungsgrundsätze auf den Einzelfall.