Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 17.04.2024 – B 8 K 21.746
Titel:

Verwaltungsgerichte, Erstattungsanspruch, Heimunterbringung, Leistungsbescheid, Opferentschädigungsgesetz, Offensichtliche Unrichtigkeit, Leistungsanspruch, Sozialgerichte, Prozeßbevollmächtigter, Erstattungsverfahren, Verwaltungsrechtsweg, Sozialleistungsträger, Bundesversorgungsgesetz, Erstattungsantrag, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Zusammenarbeit der Leistungsträger, Rechtshängigkeit, Sozialhilfeträger, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Kostenentscheidung

Normenkette:
SGB X § 104
Schlagworte:
Opfereigenschaft, Bestandskraft, Erstattungsanspruch, Sozialleistungssystem, Bindungswirkung, Verwaltungsverfahren, Kostenentscheidung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39709

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2.Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1
Die Landeshauptstadt München begehrt als Klägerin vom beklagten Freistaat Bayern, vertreten durch das Zentrum Bayern, Familie und Soziales (kurz: ZBFS), die Erstattung der Aufwendungen für die Heimunterbringung der am … geborenen Klientin D. … Außerdem begehrt die Klägerin vom Beklagten, „den Fall zu übernehmen.“ Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Klientin D. … Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) hat und die Klägerin Leistungen erbracht hat, obwohl der Beklagte hätte vorrangig leisten müssen. Sie wünscht daher die Erstattung ihrer Vorleistung gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (kurz: SGB X) i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 1 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs (kurz: SGB VIII) und § 1 des Opferentschädigungsgesetzes (kurz: OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (kurz: BVG).
2
Mit Schreiben vom 28. Januar 2020 beantragte der damalige Vormund der Klientin D. …, das Landratsamt W* …, für die Klientin D. … beim Beklagten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz.
3
Auf eine Nachfrage der Klägerin vom 31. Januar 2020 teilte das ZBFS der Klägerin mit Schreiben vom 6. Februar 2020 mit, dass für die Klientin D. … ein entsprechender Antrag auf Leistungen nach dem OEG gestellt worden sei.
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Mit Bescheid vom 14. Juli 2020 entscheid das ZBFS, dass der Antrag auf Beschädigtenversorgung abgelehnt wird. Ausweislich eines Anbringung auf dem Entwurf des Bescheids wurde der Bescheid, der an den damaligen Vormund der Klientin D. … gerichtet ist, am 14. Juli 2020 zur Post gegeben.
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Mit Schreiben vom 3. August 2020 übersandte das ZBFS den Bescheid zur Kenntnisnahme an die Klägerin. Das Schreiben ist der Klägerin am 7. August 2020 zugegangen.
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Gegen den Bescheid vom 14. Juli 2020 wurden weder durch den damaligen Vormund noch durch die Klägerin Rechtsbehelfe eingelegt.
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Mit außergerichtlichem Schreiben vom 29. Juli 2020, dem Beklagten an 31. Juli 2020 zugegangen, beantragte die Klägerin erstmals die Erstattung der seit dem 1. Januar 2015 verauslagten Aufwendungen.
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Mit Schreiben vom 13. August 2020 teilte das ZBFS der Klägerin mit, dass dem Erstattungsantrag nicht entsprochen werden könne, weil der Antrag auf Beschädigtenversorgung mit Bescheid vom 14. Juli 2020 abgelehnt worden sei.
9
Mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 bat die Klägerin das ZBFS, eine Erklärung über den Verzicht auf die Einrede der Verjährung abzugeben, was seitens des Beklagten mit Schreiben vom 17. Dezember 2020 abgelehnt wurde. Hierbei wurde darauf verwiesen, dass bereits mit den vorgehenden Schreiben mitgeteilt worden sei, dass der Leistungsanspruch nicht bestehe.
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Mit Schreiben vom 21. Dezember 2020 erhob die Klägerin beim Sozialgericht München Klage gegen den Beklagten (Aktenzeichen des Sozialgerichts: …*). Am 10. Mai 2021 wurde vor dem Sozialgericht München ein Termin zu Erörterung des Sachverhalts durchgeführt. Mit Beschluss des Sozialgerichts München vom 8. Juni 2021 stellte das Sozialgericht München die eigene Unzuständigkeit fest und verwies den Rechtsstreit an das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth.
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Mit Ihrem Schriftsatz vom 21. Dezember 2020 beantragte die Klägerin beim Sozialgericht München:
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Der Beklagte wird verurteilt, die von der Klägerin für [… die Klientin D. … …] im Zeitraum von 1. Januar 2016 bis dato aufgewendeten Kosten für Heimunterbringung in Höhe von 370.179,57 Euro zuzüglich 5 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten und den Fall zu übernehmen.
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Zur Begründung der Klage trug die Klägerin vor, dass der Sachverhalt deutlich auf eine physische und psychische Gewalteinwirkung hinweise, mit deren Folgen und Auswirkungen die Klientin D. … zu kämpfen habe. Ergänzend verwies die Klägerin auf ein Schreiben vom 6. Mai 2020 in einem anderen Verfahren und dessen Ergänzung durch ein Schreiben vom 3. Juni 2020. Insbesondere mit dem letztgenannten Schreiben (Blatt 8 f. der Gerichtsakte) schilderte die Klägerin die von ihr wahrgenommenen Ereignisse, welche dazu führten, dass sowohl die Klientin D. … als auch Ihre übrigen Geschwister am 26. September 2013 durch das zuständige Jugendamt in Obhut genommen wurden. Seitdem seien alle Kinder durchgehend fremd untergebracht. Wegen der gegen die Klientin D. … gerichteten Taten sei diese nach dem Opferentschädigungsgesetz gegenüber dem Beklagten leistungsberechtigt. Daher habe der Beklagte die Kosten der Heimunterbringung der oben genannten Minderjährigen zu erstatten.
14
Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vor dem Sozialgericht München beantragte der Beklagte am 10. Mai 2021 Klageabweisung.
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Der Klageabweisungsantrag wurde zuletzt mit Schriftsatz vom 3. November 2023 wiederholt. Zur Begründung führte der Beklagte im Schreiben vom 3. November 2023 aus, dass schon dem Grunde nach kein Erstattungsanspruch bezüglich der von der Klägerin erbrachten Jugendhilfeleistungen bestehe, da kein Nachweis erbracht sei, dass die Klientin D. … Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden sei. Der Klientin D. … stünden daher keine diesbezüglichen Ansprüche gegen den Beklagten zu, damit auch kein Anspruch auf eine Eingliederungshilfe oder andere Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Es werde weiterhin Bezug auf den Bescheid vom 14. Juli 2020 genommen.
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Das klägerische Begehren war im Schriftsatz vom 21. Dezember 2020 mit einem weiteren Klageantrag betreffend die Erstattung der Aufwendungen aus der Unterbringung einer Schwester der Klientin D. … verbunden. Das Verfahren wurde durch das Sozialgericht München mit Beschluss vom 2. Februar 2021 abgetrennt. Diese Rechtssache wird beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth als Rechtssache B 8 K 21.745 geführt.
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Mit Schreiben vom 30. Oktober 2023 erklärte die Klägerin ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Der Beklagte erklärte dieses Einverständnis mit Schreiben vom 3. November 2023.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht kann über die Klage im erteilten Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Weil die Opfereigenschaft der Klientin D. … mit bestandskräftigem Bescheid abgelehnt wurde, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung der durch sie verauslagten Kosten der Heimunterbringung der Klientin D. … gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (kurz: SGB X) i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 1 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs (kurz: SGB VIII) und § 1 des Opferentschädigungsgesetzes (kurz: OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (kurz: BVG).
I.
21
Die Klage ist zulässig.
22
1. Der Verwaltungsrechtsweg ist jedenfalls auf der Grundlage des § 17a Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) eröffnet, nachdem das Sozialgericht München den Rechtsstreit an die Verwaltungsgerichtsbarkeit verwiesen hat. Dass sich der Verwaltungsrechtsweg nach dem Inkrafttreten einer Änderung des § 51 Abs. 1 Nr. 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum 1. Januar 2024 nicht mehr eröffnen würde, ist infolge der Bestimmung des § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG analog unbeachtlich, denn die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs wird durch eine nach der Rechtshängigkeit eintretenden Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt. Der Rechtsstreit wurde der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor dem 1. Januar 2024 zugewiesen.
23
2. Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Bayreuths ergibt sich aus § 52 Nr. 5 VwGO, weil die zentrale Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) ihren Sitz in Bayreuth hat.
II.
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Die zulässige Klage ist aber nicht begründet. Im für die die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt, dem Zeitpunkt der Entscheidung am 17. April 2024, hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Erstattung der für die Heimunterbringung verausgabten Gelder.
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1. Gleichwohl das Recht der sozialen Entschädigung zum 1. Januar 2024 mit der Einführung des Vierzehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (kurz: SGB XIV) neu geregelt wurde, sind auf den Rechtsstreit die bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Vorschriften anzuwenden, denn aus § 137 SGB XIV ergibt sich, dass das SGB XIV erst auf Anträge anzuwenden ist, die ab dem 1. Januar 2024 gestellt werden. Der Antrag auf Leistungen nach dem OEG, auf welchem der Erstattungsantrag beruht, wurde mit Schreiben vom 28. Januar 2020 gestellt.
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2. Der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 SGB X besteht nicht, weil der originäre Leistungsanspruch der Klientin D. … nicht besteht. Seitens des Beklagten war der Leistungsanspruch bestandskräftig abgelehnt worden. Diesen bestandskräftigen Bescheid muss sich die Klägerin gegen sich wirken lassen.
27
a. Der Leistungsanspruch der Klientin D. … besteht nicht, weil er bestandskräftig abgelehnt worden ist. Mit Schreiben vom 28. Januar 2020 wandte sich der damalige Vormund der Klientin D. … an das ZBFS und beantragte für die Klientin D. … Leistungen nach Opferentschädigungsgesetz. Diesen Antrag lehnte das ZBFS mit Bescheid vom 14. Juli 2020 ab. Gegen die Entscheidung wurden weder vom damaligen Vormund noch von der Klägerin Rechtsbehelfe eingelegt, so dass dieser Bescheid bestandskräftig feststellt, dass ein Leistungsanspruch der Klientin D. … gegenüber dem Beklagten nicht gegeben ist.
28
b. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gilt Folgendes: „Den im Leistungsverhältnis zwischen der Beklagten und dem Beigeladenen ergangenen Bescheid über den Leistungsanspruch hat der Kläger grundsätzlich zu akzeptieren. Wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist die Leistungspflicht des auf Erstattung in Anspruch genommenen Leistungsträger grundsätzlich durch die gegenüber dem Leistungsempfänger ergangenen Bescheide begrenzt […]. Rechtsgrund für dieses Akzeptierenmüssen der ablehnenden Leistungsbescheide ist das im geltenden Recht vorgesehene gegliederte und auf dem Prinzip der Aufgabenteilung beruhende Sozialleistungssystem und letztlich die auf diesem System beruhende Verpflichtung der Sozialleistungsträger zur engen Zusammenarbeit gemäß § 86 SGB X […].“ (BSG U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – juris Rn. 16; im Ergebnis auch: BSG, U.v. 26.6.2008 – B 13 R 37/07 R – juris Rn. 14; Kirchhoff in: Hauck/Noftz SGB VIII (3. EL 2023) § 97 Rn. 20 m.w.N.).
29
c. Zu den Grundsätzen der Rechtsprechung gehört auch: „Allerdings bedeutet die Bindungswirkung nicht, dass in Erstattungsverfahren allgemein jegliche inhaltliche Überprüfung der Entscheidung des anderen Leistungsträgers ausgeschlossen wäre. Vielmehr entfällt die „Bindungswirkung“ eines Leistungsbescheids […] etwa dann, wenn die Leistungen nicht aus Gründen des besonderen Leistungsrechts, sondern gerade wegen der Leistungsverpflichtung eines anderen Sozialleistungsträgers abgelehnt wurden […]. Ein weiterer Ausnahmefall ist von der Rechtsprechung des BSG dann angenommen worden, wenn der Leistungsbescheid offensichtlich unrichtig ist […]. Ein Beharren des möglicherweise erstattungspflichtigen Leistungsträgers auf einer offensichtlich rechtswidrigen Entscheidung verletzt das in § 86 SGB X ausdrücklich festgelegte Gebot der engen Zusammenarbeit der Leistungsträger. […] Der ersatzbegehrende Leistungsträger kann sich auf eine offensichtliche Unrichtigkeit der Bescheide jedenfalls dann nicht berufen, wenn er – wie hier der Kläger – als Sozialhilfeträger berechtigt war, das Verwaltungsverfahren für den Hilfeempfänger selbst zu betreiben.“ (BSG U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – juris Rn. 16).
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Nach eingehender Prüfung der Behördenakten kann das Gericht nicht zur Überzeugung gelangen, dass die Entscheidung des Beklagten offensichtlich unrichtig ist. Dabei weist das Gericht darauf hin, dass es nicht Sache des Verwaltungsgerichts ist, innerhalb der Entscheidung über einen Erstattungsanspruch inzident vertieft über einen bestandskräftig gewordenen Grundbescheid zu entscheiden. Weiterhin wurden seitens der Klägerin keine Argumente dafür vorgetragen, dass der Bescheid offensichtlich unrichtig wäre.
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d. Es sind darüber hinaus keine Umstände erkennbar, welche die Bestandskraft des Bescheids vom 14. Juli 2020 durchbrechen könnten. Insbesondere sind gegenwärtig keine Umstände erkennbar, die für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens sprechen könnten.
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e. Auch aus § 97 Satz 2 SGB VIII ergibt sich nichts Anderes: „Die Durchsetzung von Erstattungsansprüchen richtet sich auch nach der erfolgreichen Feststellung einer Sozialleistung allein nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften (insbesondere §§ 102 ff. SGB X). […Die Bedeutung des § 97 Satz 2 SGB VIII liegt darin, dass] er dem Sozialhilfeträger ermöglicht, Rechtsmittel einzulegen: Dadurch ist er in der Lage, einen vom Sozialleistungsträger gegenüber dem Antragsteller erlassenen ablehnenden Leistungsbescheid anzufechten und so zu verhindern, dass dieser bestandskräftig wird. Dagegen ist der Jugendhilfeträger im Erstattungsverfahren nach §§ 102 ff. SGB X grundsätzlich an bereits bestandskräftige Ablehnungsbescheide gebunden“ (Kirchhoff in: Hauck/Noftz SGB VIII (3. EL 2023) § 97 Rn. 20 m.w.N.).
33
Die Klägerin hat nichts unternommen, um gegen die Bestandskraft des Bescheids vorzugehen. Darauf, ob ihr dies trotz des Ablaufs der Rechtsbehelfsfrist noch möglich wäre, also ob die Frist ohne Verschulden verstrichen ist, braucht nicht eingegangen zu werden, da ein solcher Weg von der Klägerin bislang nicht in Betracht gezogen wurde.
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3. Da die Klientin D. … keinen Leistungsanspruch gegen den Beklagten hat, war auch der klägerische Antrag, der Beklagte möge „den Fall übernehmen“ abzuweisen.
III.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gericht sieht in analoger Anwendung des § 167 Abs. 2 VwGO von einer Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten ab.