Titel:
Arbeits- und Berufsunfähigkeit bei psychischer Erkrankung in der Krankentagegeldversicherung
Normenketten:
MB/KT 2009 § 15 Abs. 1 Nr. 1b
ZPO § 286
Leitsätze:
1. Bei einem komplexen und anspruchsvollen Tätigkeitsfeld führt eine mittelgradig schwer ausgeprägte Depression im Rahmen einer depressiven Störung, die neben der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit auch die Flexibilität und Umstellungs-, Widerstands- und Durchhaltefähigkeit beeinträchtigt, zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit. (Rn. 32 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die nach § 15 Abs. 1 Nr. 1b MB/KT 2009 zu stellende Prognose der Berufsunfähigkeit kommt es, gegebenenfalls rückschauend, auf den Zeitpunkt an, zu dem der Krankentagegeldversicherer das Ende seiner Leistungspflicht behauptet. Für die sachverständige Beurteilung sind alle ärztlichen Berichte und sonstigen Untersuchungsergebnisse heranzuziehen und auszuwerten, die der darlegungs- und beweisbelastete Versicherer für den maßgeblichen Zeitpunkt vorlegen kann (Anschluss an BGH BeckRS 2010, 17209 Rn. 31). (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankentagegeldversicherung, Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit, Prognose, Depression, depressive Störung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38862
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Krankentagegeld für den Zeitraum vom 07.12.2018 bis 12.05.2019 und vom 24.07.2019 bis zum 23.10.2019 in Höhe von täglich je 205 Euro (51.045 Euro insgesamt) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 205 Euro ab dem 07.12.2018 sowie aus weiteren Teilbeträgen von jeweils täglich 205,00 Euro ab dem 08.12.2018 bis zum 12.05.2019 und vom 24.07.2019 bis zum 23.10.2019 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage, soweit die Parteien den Rechtsstreit in der Hauptsache nicht für erledigt erklärt haben, abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 78% und die Beklagte 22% zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird bis zum 25.09.2019 auf 82.570 €, ab dem 26.09.2019 bis zum 13.07.2019 auf 93.600 €, ab dem 14.07.2021 bis zum 12.12.2023 auf 227.465 € und ab dem 13.12.2023 auf 192.540 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Zahlung von Krankentagegeld.
2
Der Kläger hat bei der Beklagten eine private Krankenkostenversicherung verbunden mit einer Krankentagegeldversicherung (Tarif KT6) abgeschlossen (Nr. 302/018864-Q). In den Vertrag wurden die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten für die Krankentagegeldversicherung (AVB) einbezogen, die den Musterbedingungen MB/KT 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherung entsprechen. Diese lauten auszugsweise wie folgt:
Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes
(1) Der Versicherer bietet Versicherungsschutz als Folge von Krankheiten oder Unfällen, soweit dadurch Arbeitsunfähigkeit verursacht wird. Er zahlt im Versicherungsfall für die Dauer einer Arbeitsunfähigkeit ein Krankentagegeld in vertraglichen Umfang.
(2) Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen, in deren Verlauf Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Der Versicherungsfall beginnt mit der Heilbehandlung; er endet, wenn nach medizinischem Befund keine Arbeitsunfähigkeit und keine Behandlungsbedürftigkeit mehr bestehen (…).
(3) Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht.
§ 15 Sonstige Beendigungsgründe
(1) Das Versicherungsverhältnis endet hinsichtlich der betroffenen versicherten Personen
b) mit Eintritt der Berufsunfähigkeit. Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person nach medizinischen Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit mehr als 50% erwerbsunfähig ist. Besteht jedoch zu diesem Zeitpunkt in einem bereits eingetretenen Versicherungsfall Arbeitsunfähigkeit, so endet das Versicherungsverhältnis nicht vor dem Zeitpunkt bis zu dem der Versicherer seine im Tarif aufgeführten Leistungen für diese Arbeitsunfähigkeit zu erbringen hat, spätestens aber drei Monate nach Eintritt der Berufsunfähigkeit. „Der Kläger zeigte der Beklagten unter Vorlage von ärztlichen Attesten an, dass er seit dem 19.09.2017 arbeitsunfähig erkrankt und krankgeschrieben wurde. Auf seinen Antrag zahlte die Beklagte Krankentagegeld ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit bis zum 06.12.2018 in Höhe des vereinbarten Satzes von 205 Euro pro Tag.
3
Der Kläger behauptet im September 2017 als „SAP – Consultant/Projekt-Manager“ in Vollzeit (40h Woche) für die Firma S.. bei verschiedenen Projekten im IT-Bereich im SAP-Umfeld tätig gewesen zu sein. Seine Tätigkeiten hat er in tabellarischen Übersichten beschrieben, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (vgl. Anlage K6 sowie die Anlage zum Schreiben des Klägervertreters vom 04.05.2020, Bl. 67 f. d.A.). So sei er u.a. eigenständig für das Management von Störungen und Änderungsanforderungen unter SAP (“Ticket-System““) zuständig gewesen. Dies habe neben der Übersicht über den Antragsstand auch die Priorisierung und Zuweisung der Anträge an die jeweiligen Bearbeiter umfasst sowie die Fehleranalayse, das Überprüfen von Lösungsvorschlägen und die Abnahme von diesen durch die jeweiligen Verantwortlichen. Daneben sei er auch für die Leitung von anderen IT-Projekten und Konferenzen verantwortlich gewesen. Die Tätigkeiten hätten hohe geistige Anforderungen, insbesondere Konzentrations-, Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit erfordert. Sie seien jeweils unter Zeit- und Termindruck zu erledigen gewesen.
4
Der Kläger behauptet an einer chronischen, rezidivierenden depressiven Störung zu leiden und deswegen seit September 2017 vollkommen arbeitsunfähig zu sein.
5
Der Kläger beantragte mit der Klage vom 09.07.2019 zunächst die Zahlung von 49.450 Euro Krankentagegeld für die Zeit vom 07.12.2018 bis 09.07.2019 mit einem Tagessatz von 230 Euro sowie Verzinsung und die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, auch zukünftig während der vollständigen Arbeitsunfähigkeit des Klägers ein solches Krankentagegeld zu zahlen.
6
Die Beklagte zahlte am 26.08.2019 an den Kläger Krankentagegeld für den Zeitraum vom 13.05.2019 bis 23.07.2019.
7
Der Kläger erweiterte die Klage am 26.09.2019 und beantragte, die Beklagte weiter zur Zahlung von 8.500 Euro Krankentagegeld mit einem Tagessatz von 25 Euro für die Zeit vom 01.01.2018 bis 06.12.2018 und zur Zahlung eines weiteren Krankentagegeldes von 19.000 Euro mit einem Tagessatz von 230 Euro für die Zeit vom 10.07.2019 bis 30.09.2019 sowie Verzinsung zu verurteilen. Gleichzeitig erklärte der Kläger die Klage für den Zeitraum vom 13.05.2019 bis 23.07.2019 für erledigt. Die Beklagte hat sich dieser Erledigungserklärung mit Schriftsatz vom 06.11.2019 angeschlossen.
8
Der Kläger beantragte zuletzt unter Klagerücknahme im Übrigen:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Krankentagegeld in Höhe von 44.075 Euro für den Zeitraum vom 07.12.2018 bis 09.07.2019, mithin für 215 Tage, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 205 Euro ab dem 08.12.2018 sowie aus weiteren Teilbeträgen von jeweils täglich 205,00 Euro ab dem 09.12.2018 bis zum 09.07.2019 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein weiteres Krankentagegeld in Höhe von 15.870 Euro für den Zeitraum vom 24.07.2019 bis 30.09.2019, mithin 69 Tage, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 205 Euro ab dem 24.07.2019 sowie aus weiteren Teilbeträgen von jeweils täglich 230,00 Euro ab dem 25.07.2019 zu zahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein weiteres Krankentagegeld in Höhe von 133.865 für den Zeitraum vom 01.10.2019 bis 14.07.2021, mithin für 653 Tage, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 205,00 Euro ab dem 02.10.2019 sowie aus weiteren Teilbeträgen von jeweils täglich 205,00 Euro ab dem 13.10.2019 zu zahlen.
9
Die Beklagte beantragt,
10
Die Beklagte ist der Auffassung, dass es dem Kläger schon nicht gelungen sei, seine Tätigkeiten anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Es würden lediglich schlagwortartige Abgaben gemacht, welche sie mit Nichtwissen bestreite.
11
Die Beklagte bestreitet, dass der Kläger vollständig arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Eine von ihr veranlasste psychiatrische Begutachtung habe ergeben, dass der Kläger am 22.11.2018 nicht vollständig arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei (vgl. Anlagen B1, B2).
12
Die Beklagte behauptet für den Fall, dass doch eine vollständige Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe sollte, dass der Kläger berufsunfähig gewesen sei.
13
Das Gericht hat zur beruflichen Tätigkeit des Klägers Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen T. und B. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.10.2020 (Bl. 77 ff. d.A.) Bezug genommen. Das Gericht hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens. Wegen der Beweisthemen wird auf die Beweisbeschlüsse vom 18.11.2020 (Bl. 96 d.A.) und vom 26.08.2021 (Bl. 172 d.A.). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten von Prof. Dr. K. vom 15.12.2021 (Bl. 180 ff. d.A.) und das Sitzungsprotokoll vom 13.12.2023 (Bl. 344 d.A.) verwiesen.
14
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Schriftsätze der Parteien vom 09.07.2019 (Bl. 1 ff. d. A.), vom 26.08.2019 (Bl. 12 ff. d. A.), vom 26.09.2019 (Bl. 31 ff. d.A.), vom 06.11.2019 (Bl. 42 ff. d. A.), vom 04.05.2020 (Bl. 67 f. d.A.), vom 19.10.2020 (Bl. 86 ff. d.A.), vom 04.11.2020 (Bl. 92 ff. d. A.), vom 25.11.2020 (Bl. 100 ff. d.A.), vom 07.12.2020 (Bl. 103 ff. d.A.), vom 08.12.2020 (Bl. 104 ff. d.A.), vom 22.12.2020 (Bl. 107 ff. d.A.), vom 19.02.2021 (Bl. 109 ff. d.A.), vom 19.02.2021 (Bl. 111 ff. d.A.), vom 14.07.2021 (Bl. 160 ff. d.A.), vom 16.08.2021 (Bl. 170 ff. d.A.), vom 14.09.2021 (Bl. 175 ff. d.A.), vom 24.09.2021 (Bl. 178 d.A.), vom 27.01.2022 (Bl. 288 f. d.A.), vom 28.02.2022 (Bl. 292 ff. d.A.), vom 05.04.2022 (Bl. 305 d.A.) und vom 17.01.2024 (Bl. 350 ff. d.A.) nebst ihren jeweiligen Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
16
Das Landgericht Nürnberg-Fürth ist zur Entscheidung örtlich und sachlich zuständig (§ 215 VVG; §§ 1 ZPO, 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG).
17
Die Klage ist begründet, soweit Leistungen für den Zeitraum vom 07.12.2018 bis 12.05.2019 und ab dem 24.07.2019 bis zum 22.10.2019 geltend gemacht werden. Der Kläger hat insoweit Anspruch auf Zahlung von Krankentagegeld in Höhe von jeweils 205 € aus dem Versicherungsvertrag, da er aufgrund einer Depression krankheitsbedingt vollständig arbeitsunfähig, aber nicht berufsunfähig war. Weiter hat er Anspruch auf Verzinsung dieser Beträge.
18
a) Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger am 09.12.2018 krankheitsbedingt vollständig arbeitsunfähig war und die vollständige Arbeitsunfähigkeit durchgehend bis zum 22.10.2019 fortbestand. Diese Überzeugung beruht auf den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. K. sowie den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Anlage K8) und Behandlungsunterlagen (§ 286 Abs. 1 ZPO). Das Gericht schließt sich bei der Beurteilung in vollem Umfang den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. in dessen schriftlichem Gutachten vom 15.12.2021 und seinen ergänzenden Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2023 an. Die Ausführungen des Sachverständigen sind in sich logisch, nachvollziehbar und lassen eine große Sachkunde erkennen. Der Sachverständige ist Facharzt für Psychiatrie und leitet die Abteilung für forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum W... Er hat den Kläger am 11.08.2021 und am 26.08.2021 exploriert und ihn dabei auch einer testpsychologischen Diagnostik unterzogen.
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1. Der Sachverständige ist von zutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen. Auch nach der Überzeugung des Gerichts leidet der Kläger seit dem Sommer 2017 an einer andauernden, mittlerweile stark chronifizierten depressiven Störung, deren Auswirkungen ihn im streitgegenständlichen Zeitraum derart in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigten, dass er seinen Beruf als IT-Projektmanager nicht mehr, auch nicht mehr teilweise, ausüben konnte.
20
(a) Der Sachverständige ist bei seiner Bewertung von einem zutreffenden Tätigkeitsbild des Klägers ausgegangen. Das Gericht teilt die Einschätzung des Sachverständigen, dass der Kläger als Verantwortlicher für das Management insbesondere von IT-Störungen und Änderungsanfragen im SD-Modul (“Sales Distribution“) bei S... in seiner täglichen Arbeit ständig mit der Planung und Strukturierung von Aufgaben befasst war, die eine hohe Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit erforderten. Die Zeugen B. und T. haben in ihren Vernehmungen übereinstimmend angegeben, dass der Kläger neben eigenen IT-Projekten und Weiterentwicklungen mit der Tagesbetreuung des normalen Betriebes des SAP-Modules SD „Sales Distribution“ beschäftigt war (“Ticketing-System“). Ihre Ausführungen bestätigen im Wesentlichen die vom Kläger dargelegten Tätigkeiten (vgl. Anlage zum klägerischen Schriftsatz vom 04.05.2020, Bl. 67 d.A.), von deren Richtigkeit das Gericht überzeugt ist. Dabei ist jedoch abweichend vom Klagevortrag von einer 35 Stunden-Woche auszugehen, da der Zeuge B. die klägerische Arbeitszeit nur in diesem Umfang bestätigte und auch der Kläger dies gegenüber dem Sachverständigen bei seiner Exploration so schilderte. Der Zeuge B. konnte sich daran erinnern, dass der Kläger seinen Vertrag im letzten Jahr auf 35 Stunden reduziert hatte.
21
(b) Der Sachverständige hat die von ihm gestellte Diagnose eines schweren Falles einer depressiven Störung zur Gewissheit des Gerichts dargelegt, nachvollziehbar erläutert und auch Nachfragen dazu erschöpfend beantwortet.
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(1) Die Diagnose passt zu dem beim Kläger vor Dezember 2018 und auch nach Mai 2019 festgestellten Krankheitsbildern.
23
Die vorgelegten Atteste und Arztbriefen zeigen eine sich ab Anfang 2017 vor dem Hintergrund von zunächst mit einem Hausbau verbundenen privaten und später auch beruflichen Schwierigkeiten entwickelnde depressive Symptomatik (Krankschreibung ab Mitte des Jahres durch eine neurologische Fachärztin wegen einer mittelgradigen Episode einer rezidivierenden depressiven Störung), die sich im Laufe des Jahres verstärkte und seit Ende des Jahres 2017 auch medikamentös behandelt wurde. Im Dezember 2017 wurden eine schwere depressive Episode und Burnout-Symptome festgestellt. Die vom Kläger ab Anfang 2018 mit Sitzungen in ein- bis zweiwöchigen Abstand begonnene ambulante Psychotherapie und auch die vom 01.02.2018 bis 17.03.2018 dauernde stationäre Behandlung in der Privatklinik Stillachhaus, Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Entlassung als arbeitsunfähig und Fortführung antidepressiver Medikation, vgl. nach Anlage K8), führten nicht zu einer Besserung. Die von der Beklagten initiierte Begutachtung mit Untersuchung des Klägers am 11.07.2018 durch Prof. Dr. W. stellte eine in Remission befindliche depressive Episode fest, welche die Arbeitsfähigkeit beeinträchtige und zu kognitiven Einschränkungen führe.
24
Die vom Kläger nach dem streitgegenständlichen Zeitraum vorgelegten Arztberichte enthalten ebenfalls entsprechende Diagnosen. So wird beispielsweise im Arztbrief des Universitätsklinikums E... vom 01.08.2019 nach dem dortigen stationären Aufenthalt des Klägers vom 13.05.2019 bis 23.07.2019 die Diagnose einer schweren depressiven Episode gestellt und der Kläger als arbeitsunfähig unter Fortführung antidepressiver Medikation entlassen (vgl. nach Anlage K8).
25
(2) Der Sachverständige hat plausibel erläutert, dass sich die Schwere der Depression des Klägers auch aus der Länge des Krankheitsbildes und der mittlerweile bei ihm eingetretenen Chronifizierung ergebe. Dies steht im Einklang mit den von der behandelnden Neurologin des Klägers, Dr. S., auch für den streitgegenständlichen Zeitraum ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinungen (Anlage K8) und den Berichten seiner psychologischen Psychotherapeutin Dr. G. an die Beklagte vom 20.05.2019 und vom 03.11.2020 (nach Anlage K8).
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(3) Der Sachverständige hat für das Gericht plausibel erläutert, warum er zum Zustand des Klägers am 22.11.2018 die Schlussfolgerung einer gegenwärtig remittierten rezidivierenden depressiven Störung des von der Beklagten beauftragen Sachverständigen Dr. med. S. (vgl. Anlage B1, Gutachten vom 05.12.2018) nicht teilt und an seiner Bewertung auch unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahme von Dr. S. vom 02.03.2023 (vgl. nach Anlage B2) festgehalten. Er habe bei seiner Begutachtung jedoch die im Gutachten von Dr. S. enthaltenen Angaben zur Untersuchung des Klägers am 22.11.2018 berücksichtigt. Der Sachverständige begründete dies für das Gericht nachvollziehbar damit, dass er dem Gutachten vom 05.12.2018 von Dr. S. nicht entnehmen konnte, dass der Kläger konkret zu gegenwärtigen Beschwerden befragte wurde. Es entstehe der Eindruck, dass diese Fragen unterlassen worden seien. Andererseits sei bei der Anamnese im Gutachten von Dr. S. aber festgehalten, dass der Kläger angegeben habe, seiner Einschätzung nach im April oder Mai des Folgejahres wieder arbeiten gehen zu können. Hier dränge sich schon deswegen einerseits die Frage auf, warum -wenn tatsächlich keine Beschwerden vorlagennicht sofort mit der Arbeitsaufnahme wieder hätte begonnen werden können. Zum anderen ergebe sich zu dem am selben Tag von Herrn H. eingeholten testpsychologischen Gutachten ein massiver Widerspruch, denn die Ergebnisse der testpsychologischen Untersuchungen hätten Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Kläger immer noch an erheblichen Beschwerden leide. Zudem falle die Diagnose von Dr. S. aus der Reihe sämtlicher anderer Vor- und Nachbehandler des Klägers heraus, die bei ihm jeweils eine Depression mittelgradigen oder schweren Ausmaßes festgestellt hätten. Depressive Perioden würden meist zwischen drei und zwölf Monaten andauern, könnten bei großer interindividueller Schwankungsdauer aber auch deutlich länger dauern, wenn, wie vorliegend, ungünstige depressiogene Persönlichkeitsfaktoren gegeben seien. Die bei Herrn H. am gleichen Tag vom Kläger angegebenen Beschwerden würden zusammen mit der gegenüber Dr. S. vom Kläger abgegebenen Einschätzung, dass eine Rückkehr an den Arbeitsplatz im April oder Mai 2019 realisierbar sei, auf einen durchaus in gravierender Weise fortbestehenden depressiv-ängstlichen Symptomenkomplex hindeuten, zumal der Kläger grundsätzlich ausgesprochen leistungsmotiviert sei. Das Gericht schließt sich diesen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., die es überzeugen, an.
27
Dass beim Kläger Ende Dezember 2018 und Anfang 2019 keine über eine Befindlichkeitsschwankung hinausgehende Gesundung eingetreten ist, belegt auch der Umstand, dass durch die Universitätsklinik E... bereits kurz nach seiner Aufnahme dortigen stationären Aufnahme am 13.05.2019 ein Verlängerungsantrag für die stationäre Behandlung gestellt wurde (vgl. Schreiben des Universitätsklinikums E... vom 17.05.2019 an den MDK, nach Anlage K8) und die Behandlung über zehn Wochen andauerte, ohne dass es zu einer durchgreifenden Besserung kam. Beides deutet auf eine schwere Symptomatik bei Aufnahme in die Klinik hin, denn der Kläger wurde nach den vorgelegten Behandlungsunterlagen bereits davor durchgehend ambulant behandelt, sowohl ärztlich als auch psychotherapeutisch.
28
(4) Der von der Beklagten beantragten Vernehmung von Dr. S. als sachverständiger Zeuge zur Frage des Gesundheitszustandes des Klägers am 22.11.2018 (vgl. Schreiben des Beklagtenvertreters vom 17.01.2024 und vom 05.04.2022, Bl. 305 u. 350 d.A.) war nicht nachzugehen.
29
(aa) Der Beweisantrag zielt inhaltlich auf die Bewertung des Gesundheitszustandes des Klägers am 22.11.2018 ab, denn der als sachverständiger Zeuge benannte Zeuge soll bekunden, dass er bei seiner Untersuchung keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers habe feststellen können, welche die Kriterien für die Diagnose einer depressiven Episode nach ICD-10 erfülle (vgl. Schreiben des Beklagtenvertreters vom 17.01.2024, Bl. 350 R d.A.). Die Beklagtenseite begehrt damit nicht nur tatsächliche Feststellungen zum Untersuchungstermin am 22.11.2018, sondern mit der Feststellung eines Gesundheitszustandes darüber hinaus sachverständige Schlussfolgerungen (vgl. Scheuch, in: Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 51. Edition, Stand 01.12.2023, § 373, Rn. 16). Dieser Beweis wurde jedoch bereits durch das vom Gericht eingeholte psychiatrische Sachverständigengutachten erhoben. Die Voraussetzungen für eine erneute Begutachtung des Klägers liegen nicht vor. Das Gericht hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dieses Gutachten ungenügend ist (§ 412 Abs. 1 ZPO). Der Sachverständige Prof. Dr. K. hat insbesondere überzeugend erläutert, warum er zu von Dr. S. abweichenden Schlußfolgerungen kommt.
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(bb) Die Vernehmung von Dr. S. als sachverständiger Zeuge war auch nicht anzuordnen, soweit man den Beweisantritt der Beklagten dahingehend auslegt, dass er sich nur auf dessen tatsächlichen Wahrnehmungen bei der Untersuchung des Klägers am 22.11.2018 beziehen soll. Die Beklagte trägt keinerlei konkrete Wahrnehmungen des Zeugen vor, obwohl sie dazu mit Beschluss des Gerichts vom 13.12.2023 (vgl. Terminsprotokoll Bl. 348 d.A.) ausdrücklich aufgefordert wurde. Es kann daher schon nicht beurteilt werden, ob es sich um strittige Tatsachen handelt, die der Beweiserhebung bedürfen. Jedenfalls ist aber auch nicht zu erwarten, dass die Wahrnehmungen des Zeugen Dr. S. neue, entscheidungserhebliche Umstände offenbaren, denn der Sachverständige Prof. K. hat in seiner Begutachtung, wie er in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich klarstellte, die von Dr. S. in seinem Gutachten wiedergegebenen Wahrnehmungen bei der Untersuchung des Klägers am 22.11.2018 berücksichtigt. Das Gericht hat ohne konkreten Vortrag keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Dr. S., der selber Facharzt für Psychiatrie ist, bei seiner Untersuchung des Klägers tatsächliche Wahrnehmungen machte, die relevant für die psychiatrische Bewertung des Klägers sind, diese aber nicht in sein schriftliches Gutachten aufnahm.
31
(cc) Die Vernehmung von Dr. S. als Zeuge war schließlich auch nicht deswegen veranlasst, da er ursprünglich für die Verhandlung am 13.12.2023 als Zeuge geladen wurde, denn erst in diesem Termin hat der Sachverständige Prof. Dr. K. klargestellt, dass er dessen Gutachten für die Beurteilung verwendet habe und lediglich zu anderen Schlussfolgerungen komme.
32
2. Das Gericht schließt sich dem Sachverständigen auch dahingehend an, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum aufgrund der Auswirkungen einer zumindest mittelgradig schwer ausgeprägten Depression im Rahmen einer depressiven Störung jedenfalls bis zum 22.10.2019 vollständig arbeitsunfähig war. Das Gericht teilt die Einschätzung des Sachverständigen, dass die vom Kläger ausgeübten Tätigkeit, die als SAP-Projektmanager einen hohen Ausbildungsgrad voraussetzt, nach einer Ende 2018 bereits fast eineinhalb Jahre andauernden Krankheitsphase nicht unmittelbar wieder aufgenommen werden konnte. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, wenn der Sachverständige in diesem Zusammenhang auch darauf hinweist, dass selbst nach einer Genesung – die beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht eingetreten ist – meist noch eine längere Stabilisierungsphase erforderlich wäre, da eine zu frühe Arbeitsaufnahme die Gefahr eines Rückfalles erhöhe.
33
Das Gericht ist aufgrund des komplexen und anspruchsvollen Tätigkeitsfeldes des Klägers, welches neben der Bearbeitung eigener IT-Projekte auch das laufende Störungsmanagement des SAP-Modules „Sales Distribution“ gewiss, dass er diesen hohen Anforderungen nicht einmal mehr teilweise entsprechen konnte. Der Zeuge B. hat zu den Anforderungen an den Kläger insbesondere auch erläutert, dass er das stabile Laufen eines komplexen Systems sicherstellen musste, da von dem SAP Modul „Sales Distribution“ letztlich die Funktion des Lieferzentrums der S... AG abhänge und es bei größeren Störungen schnell eskalieren könne. Dem damit einhergehenden Leistungsdruck einerseits und der, auch mit Priorisierung verbundenen Organisation einer Vielzahl von Aufgaben andererseits konnte der Kläger aufgrund seiner krankheitsbedingten Fähigkeitsbeeinträchtigungen insbesondere auch deswegen nicht mehr gerecht werden, da davon neben seiner Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, auch seine Flexibilität und seine Umstellungs-, Widerstands- und Durchhaltefähigkeit betroffen waren. Das Gericht teilt daher auch insoweit die Bewertung des Sachverständigen. Diese steht auch mit dem Befundbericht der Psychotherapeutin Dr. G. vom 13. Mai 2019 (vgl. nach Anlage K8) in Einklang. Darin wird u.a. beschrieben, dass der Kläger auch bei der Bewältigung privater Probleme, wie z.B. einer Streitigkeit mit einem Autohändler, dringend jemanden brauche, der ihn immer wieder motiviere, strukturiere und ihn für entsprechende Schritte in die richtige Richtung unterstütze. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass bei einer derartig krankheitsbedingten Fähigkeitsbeeinträchtigung der Kläger seinen komplexen Aufgaben, die mit erheblicher Verantwortung einhergingen, auch nicht mehr teilweise gerecht werden konnte.
34
3. Das Gericht ist schließlich ebenfalls auf dem Boden der Ausführungen des Sachverständigen auch überzeugt, dass der Kläger jedenfalls nach der Entlassung aus der Universitätsklinik E... ab dem 23.07.2019 berufsunfähig war. Für die nach § 15 I (1) b) AVB zu stellende Prognose der Erwerbsunfähigkeit kommt es, gegebenenfalls rückschauend, auf den Zeitpunkt an, zu dem der Versicherer das Ende seiner Leistungspflicht behauptet. Für die sachverständige Beurteilung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit sind die „medizinischen Befunde“ – d.h. alle ärztlichen Berichte und sonstigen Untersuchungsergebnisse – heranzuziehen und auszuwerten, die der darlegungs- und beweisbelastete Versicherer für die maßgeblichen Zeitpunkte vorlegen kann. Dabei ist es gleich, wann und zu welchem Zweck die medizinischen Befunde erhoben wurden; auch müssen sie keine – ausdrückliche oder wenigstens stillschweigende – ärztliche Feststellung der Berufsunfähigkeit enthalten (BGH, Urteil vom 30. Juni 2010, Az. IV ZR 163/09, Rn. 31). Der Sachverständige hat unter Beachtung dieses Maßstabes für das Gericht plausibel erläutert, dass erst nach der durchgeführten zweiten stationären Behandlung im Universitätsklinikum E... nach medizinischen Befund hinreichend sicher von einer auf nicht absehbare Zeit andauernden Berufsunfähigkeit ausgegangen werden könne. Er hat dies für das Gericht überzeugend mit der Art und Schwere des beim Kläger vorliegenden Krankheitsverlaufes und den Behandlungsoptionen begründet. Auch wenn der Kläger bereits Anfang 2018 in einer Fachklinik stationär behandelt worden sei, könne die erforderliche Prognose aus medizinischer Sicht erst nach der Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten hinreichend sicher gestellt werden. Die stationäre Behandlung im Universitätsklinikum E... sei angezeigt gewesen, denn dieses habe sich als spezialisierte Universitätsklinik intensiv mit dem Krankheitsbild des Klägers befassen können.
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Das Gericht teilt diese Einschätzung, nachdem auch diese zweite stationäre Behandlung nur zu leichten Verbesserungen der Symptome, aber nicht zu einem durchgreifenden Behandlungserfolg geführt hat. Nach der Entlassung am 24.07.2019 schätzt es mit dem Sachverständigen daher die Heilungschancen aus ex-ante Sicht erstmals als so ungünstig ein, dass der Kläger nach dem medizinischen Befund in seinem bisher ausgeübten Beruf als SAP-Projektmanager auf nicht absehbare Zeit zu mehr als 50% erwerbsunfähig war.
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4. Der vertragliche Anspruch auf Krankentagegeld endete, nachdem die Arbeitsunfähigkeit weiter fortbestand, mit Ablauf von drei Monaten nach diesem Zeitpunkt, also zum 23.10.2019 (§ 15 Abs. 1 b) S.2 AVB).
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b) Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verzinsung des Krankentagegeldes in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gemäß §§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4, 288 Abs. 1 BGB. Fälligkeit trat mit dem 04.12.2018 ein, da die Beklagte die Zahlung weiterer Leistungen mit Schreiben vom 03.12.2018 (vgl. Anlage K4) ablehnte (§ 14 Abs. 1 VVG). Zwar wird darin keine ausdrückliche Leistungsablehnung ausgesprochen. Die endgültige und ernsthafte Ablehnung weiterer Leistungen ergibt sich aber schlüssig daraus, dass die Leistungen wegen der vom Gutachter der Beklagten festgestellten Arbeitsfähigkeit des Klägers über den 28.11.2018 nicht weiter gezahlt werden. Alle später kalenderfälligen Leistungen sind jeweils mit Tagesbeginn fällig. Zugleich geriet die Beklagte in Verzug, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Das Vertretenmüssen des Verzugs wird nach § 286 Abs. 4 BGB vermutet, die Beklagte hat sich nicht exkulpiert. Die Zinshöhe ergibt sich aus § 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
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Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 92 Abs. 1 S.1, 269 Abs. 3 S.2, 709 S.1 und S.2 ZPO.
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Der Streitwert ergibt sich jeweils aus den geltend gemachten Zahlungsansprüchen.