Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 06.03.2024 – M 10 K 24.30366
Titel:

Asylrecht (Senegal), Rechtsänderung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. in Umsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15.2.2023 (C-484/22), Wiederaufgreifen des Verfahrens gegen die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten sowie gegen den Erlass der Abschiebungsandrohung im Erstbescheid

Normenketten:
AsylG i.d.F. vom 27.2.2024 § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
AsylG § 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1 Alt. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
VwGO § 84 Abs. 1 S. 1
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
RL 2008/115/EG Art. 5
EMRK Art. 8 Abs. 1
Schlagworte:
Asylrecht (Senegal), Rechtsänderung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. in Umsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15.2.2023 (C-484/22), Wiederaufgreifen des Verfahrens gegen die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten sowie gegen den Erlass der Abschiebungsandrohung im Erstbescheid
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3857

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom ... Januar 2024 verpflichtet, im Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens die Abschiebungsandrohung sowie die Einreise- und Aufenthaltsverbote im Bescheid vom ... Januar 2016 aufzuheben.     
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein senegalesischer Staatsangehöriger, begehrt das Wiederaufgreifen des Verfahrens betreffend der Nichtfeststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote, hilfsweise das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der gegenüber ihm erlassenen Abschiebungsandrohung und der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote.
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Der vom Kläger gestellte Asylerstantrag wurde durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Januar 2016 als offensichtlich unbegründet abgelehnt und festgestellt, dass keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Senegal vorliegen. Dem Kläger wurde die Abschiebung in den Senegal angedroht, die Einreiseverbote nach § 11 Abs. 7 AufenthG und § 11 Abs. 1 AufenthG wurden auf 10 bzw. 30 Monate befristet. Der Kläger stellte in der Folge insgesamt drei Asylfolgeanträge. Das Klageverfahren hinsichtlich des dritten Asylfolgeantrags wurde nach Erklärung der Klagerücknahme durch den Kläger mit Beschluss vom … März 2022 eingestellt (…  …).
3
Der Kläger ist der Vater eines am … … 2021 geborenen Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Nach notarieller Beurkundung vom ... März 2021 übt er zusammen mit seiner Lebensgefährtin das gemeinsame Sorgerecht aus. Ein am … August 2021 gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, hilfsweise gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG, wurde am ... März 2022 von der zuständigen Ausländerbehörde abgelehnt. Der Kläger wird aktuell wegen fehlender Heimreisedokumente geduldet.
4
Am … Oktober 2023 stellte der Kläger über seine Bevollmächtigte einen „isolierten Wiederaufnahmeantrag hinsichtlich der Feststellung von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG“. Begründet wurde der Antrag im Wesentlichen damit, dass unter Berücksichtigung der Wertungen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – juris) nunmehr vom nachträglichen Vorliegen schützenswerter Umstände im Sinn von Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG auszugehen sei, die als nachträgliche Änderung der Rechtslage gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu berücksichtigen seien und die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK führen würden. Der Kläger lebe in einer durch Art. 8 EMRK geschützten familiären Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Der Umstand, dass die Tochter erst … Jahre alt sei, begründe ein besonderes Schutzniveau. Das Vorbringen der geänderten Rechtslage könne erst jetzt geltend gemacht werden. Im Ergebnis sei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG für den Kläger festzustellen, hilfsweise zumindest die Abschiebungsandrohung und die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet aufzuheben.
5
Mit Bescheid vom … Januar 2024, als Einschreiben zur Post gegeben am … Januar 2024, lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG nicht vorlägen. In der Geburt des Kindes liege bereits keine neue Sachlage, weil der Sachverhalt bereits im zuletzt betriebenen Asylfolgeverfahren hätte vorgetragen werden können. Dass der Kläger im diesbezüglichen Klageverfahren seine Klage zurückgenommen habe, unterfalle seinem Verantwortungsbereich. Insofern sei der Sachvortrag bereits präkludiert. Soweit sich der Kläger auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 beziehe, liege darin keine Änderung der Rechtslage im Sinn von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 VwVfG, da es sich nicht um eine Neuregelung, sondern vielmehr um die Beantwortung einer Auslegungsfrage zu Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG handele. Im Übrigen sei die 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG nicht eingehalten. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 9. September 2021 (C-18/20) führe zu keiner anderen Bewertung, weil sich das genannte Urteil lediglich auf Asylfolgeverfahren im Sinn von § 71 Abs. 1 AsylG beziehe, aber nicht auf isolierte Wiederaufgreifensverfahren zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, die keinen europarechtlichen Hintergrund hätten. Im Rahmen des § 51 Abs. 5, §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinn) sei auszuführen, dass keine Gründe für eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorlägen. Aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 lasse sich nichts entnehmen, dass schutzwürdige Belange im Sinn von Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen könnten. Nach unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrags obliege die Zuständigkeit für weitere aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, insbesondere die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse, der zuständigen Ausländerbehörde. Dies gelte auch im Hinblick auf die vom Gesetzgeber vorgesehene Neufassung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG (unter Verweis auf die Gesetzesbegründung).
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Der Kläger hat am ... Februar 2024 über seine Bevollmächtigte Klage gegen den Bescheid vom … Januar 2024 erhoben und beantragt (sinngemäß),
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom … Januar 2024 und unter Aufhebung des Bescheids vom … Januar 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Senegal vorliegen,
hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom … Januar 2024 zu verpflichten, die Ziffern 5 bis 7 des Bescheids vom … Januar 2016 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde Bezug genommen auf die Angaben im Verwaltungsverfahren, eine weitere Begründung ging nach gewährter Akteneinsicht bzw. innerhalb der Frist nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht ein.
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Die Beklagte beantragt mit Schreiben vom … Februar 2024,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom … Februar 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Mit Schreiben vom gleichen Tag, den Beteiligten zugestellt am … und … Februar 2024, hörte das Gericht gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an. Innerhalb der Äußerungsfrist erfolgte keine Reaktion der Beteiligten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage kann nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die zulässige Klage hat im Hilfsantrag Erfolg.
16
1. Soweit der Kläger mit seiner Klage die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG begehrt, hat diese in der Sache keinen Erfolg. Die Beklagte hat den diesbezüglichen Wiederaufgreifensantrag des Klägers zurecht abgelehnt. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote durch die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom … Januar 2016 (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid zurecht ausgeführt, dass der Sachvortrag des Klägers nicht geeignet ist, eine günstigere Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG herbeizuführen. Das Gericht folgt insofern gemäß § 77 Abs. 3 AsylG den Ausführungen im streitbefangenen Bescheid und führt lediglich ergänzend aus: Die Beklagte führt zu Recht aus, dass der Schutz des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG begründen kann (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, § 60 AufenthG Rn. 26 m.w.N.). Soweit sich der Kläger auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13. Juni 2023 (9a K 250/21.A – juris Rn. 20 ff.) bezieht, folgt das Gericht den dortigen Ausführungen nicht. Das Gericht hat – insoweit in Übereinstimmung mit dem Bundesamt – tiefgreifende Zweifel daran, dass das Postulat des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hinsichtlich einer erforderlichen „europarechtskonformen Auslegung von § 60 Abs. 5 AufenthG“ auf fundierten methodischen Grundannahmen beruht. Nach Meinung des Gerichts misst das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen dem zentralen Umstand, dass es im Rahmen der dem Bundesamt obliegenden Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1, § 42 Satz 1 AsylG) nicht um die Durchführung europarechtlich determinierten Rechts geht, keine ausreichende Bedeutung bei. Nach (wohl) unumstrittener Auffassung kann sich das aus Art. 288 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleitete Gebot der richtlinienkonformen Auslegung überhaupt nur auf nationales Recht, das von der Richtlinie determiniert bzw. erfasst ist, erstrecken (vgl. Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 288 AEUV Rn. 85 m.w.N.). Insofern hat das Bundesamt im streitbefangenen Bescheid zurecht angemerkt, dass weder die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – juris) noch die RL 2008/115/EG überhaupt irgendwelche rechtlichen Anforderungen an die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach dem einschlägigen nationalen Recht geben kann. Die Vorgaben aus Art. 5 RL 2008/115/EG betreffen lediglich die nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG zu treffende Rückkehrentscheidung bzw. konkret nach nationalem Recht die zu erlassende Abschiebungsandrohung (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 18). Insofern übersieht der Kläger bzw. die von ihm zitierte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, dass schutzwürdige Belange im Sinn von Art. 5 RL Buchst. a und b RL 2008/115/EG nicht zu mehr als dem Unterbleiben einer Rückkehrentscheidung im Sinn von Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG führen können (vgl. auch nunmehr § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F.), also gerade nicht die Gewährung eines (weitergehenden) Abschiebungsschutzstatus verlangen, der im Fall des § 60 Abs. 5 AufenthG überdies grundsätzlich in die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis münden würde (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Insofern sprechen nicht nur systematische, sondern auch teleologische Erwägungen gegen die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vertretene richtlinienkonforme Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG.
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2. Die Klage hat jedoch Erfolg, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Wiederaufgreifensantrags hinsichtlich der Abschiebungsandrohung aus dem Erstbescheid vom … Januar 2016 richtet.
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Der Hilfsantrag auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung aus dem Erstbescheid sowie der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote ist zulässig, insbesondere fehlt ihm nicht das Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf die alternative Möglichkeit, bei der zuständigen Ausländerbehörde eine Duldung aus Rechtsgründen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) wegen eines inländischen Abschiebungshindernisses geltend zu machen. Abgesehen davon, dass der Kläger nach Aktenlage aktuell ohnehin – wenn auch aus tatsächlichen Gründen – geduldet ist, ist der Wiederaufgreifensantrag gerichtet auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung und der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote insgesamt als rechtsschutzintensiver als eine Duldung aus rechtlichen Gründen zu betrachten. Denn eine Duldung ist begriffsmäßig nur eine (befristete) Aussetzung der Abschiebung, welche die Ausreisepflicht des Ausländers unberührt lässt (§ 60a Abs. 3 AufenthG). Mit dem Wiederaufgreifensantrag gerichtet auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung kann hingegen im Erfolgsfall die Ausreisepflicht insgesamt beseitigt werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine „Duldung ohne Ausreisepflicht“ (die sonst wohl nur als Folge einer Titelversagung in Fällen des § 25 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 2 AufenthG bzw. § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ohne gleichzeitigem Vorliegen einer anderweitigen Rückkehrentscheidung vorkommen dürfte) zwar statusmäßig nicht per se höherwertiger als eine „Duldung mit Ausreisepflicht“ sein dürfte, aber eben doch einige weitere Vorteile mit sich bringt. So wären bei einer Aufhebung der Abschiebungsandrohung nicht nur das hieran anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) aufzuheben, sondern auch bestimmte ordnungsrechtliche Verfügungen bzw. Beschränkungen wären dann nicht mehr möglich (vgl. etwa § 46 Abs. 1, § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
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Die Ablehnung des Wiederaufgreifensantrags als unzulässig hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und der erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbote im Erstbescheid vom … Januar 2016 ist im hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG zugrunde zulegenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach Aktenlage hat der Kläger auch einen Anspruch gegen die Beklagte, dass diese im Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens die Abschiebungsandrohung im Erstbescheid vom … Januar 2016 sowie die hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote aufhebt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Die Rechtsausführungen im streitbefangenen Bescheid, welche dem Kläger in der Sache bei nachträglich günstigerer Rechtslage die Berufung auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß Art. 8 EMRK als Wiederaufgreifensgrund im Kontext des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG versagen, halten einer rechtlichen Nachprüfung im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht stand. Entgegen der Rechtsansicht des Bundesamts ist der vorgerichtlich gestellte Hilfsantrag des Klägers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der Abschiebungsandrohung aus dem Erstbescheid nicht (mehr) unzulässig.
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Dabei stellt sich bereits die Richtigkeit des Einwands des Bundesamts, die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – juris) könne schon keine Rechtslagenänderung im Sinn des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG sein, nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als möglicherweise fraglich dar (vgl. EuGH, U.v. 8.2.2024 – C-216/22 – juris Rn. 41-44). Auch wenn dem erkennenden Gericht bewusst ist, dass die genannte Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 8. Februar 2024 in dem Kontext zu sehen ist, in welchem sie ergangen ist, dürfte auf allgemeiner Ebene die tradierte Einschätzung, Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union könnten per se keine Änderung der Rechtslage begründen (vgl. dazu Decker in BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, § 51 VwVfG Rn. 19 m.w.N.), wohl nicht mehr uneingeschränkt zutreffen. Insofern greift die Bewertung im angefochtenen Bescheid, bei der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 handele es sich lediglich um die Beantwortung einer Auslegungsfrage zu Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG, letztlich zu kurz, da mit dieser Entscheidung vor allem auch Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG a.F. aufkamen (vgl. ThürOVG, B.v. 7.6.2023 – 4 EO 626/22 – juris Rn. 21) und die letztlich auch den Gesetzgeber zu einer Neuregelung veranlasst haben (vgl. dazu auch BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 58, noch nicht veröffentlicht).
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Aufgrund der seit 27. Februar 2024 nunmehr geltenden Neuregelung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG kann aber dahinstehen, ob in Abweichung der bisherigen tradierten Auffassung eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union wie hier vom 15. Februar 2023 eine Rechtslagenänderung begründen kann. Dies gilt insofern auch bezüglich der von der Beklagten bemängelten Fristwahrung nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG bzw. hinsichtlich des Zeitpunkts deren Anlauf (§ 53 Abs. 3 Satz 2 VwVfG), wenn – wie hier – über die Tauglichkeit einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union als Rechtslagenänderung auch nach dessen neuester Rechtsprechung keine abschließende Klarheit besteht (vgl. einerseits Decker in BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, § 51 VwVfG Rn. 19 m.w.N.; vgl. andererseits EuGH, U.v. 8.2.2024 – C-216/22 – juris Rn. 41-44; vgl. allg. auch pro nachträglicher Berücksichtigung von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen: VG Düsseldorf, B.v. 9.2.2024 – 24 L 122/24.A – juris Rn. 14; VG Sigmaringen, U.v. 7.2.2024 – A 14 K 3041/22 – juris Rn. 34; ThürOVG, B.v. 7.6.2023 – 4 EO 626/22 – juris Rn. 20; a.A. dezidiert VG München, B.v. 24.8.2023 – M 13 ES 21.32795 – juris Rn. 70 ff.). Denn jedenfalls der nunmehr seit 27. Februar 2024 geltende § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. stellt eine Rechtslagenänderung dar, die im Kontext des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG zu berücksichtigen ist. Der nunmehr geltende § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG betrifft entscheidungserhebliche Voraussetzungen, die den ergangenen Verwaltungsakt – hier die Abschiebungsdrohung aus dem Erstbescheid (vgl. zur Verwaltungsaktqualität der Abschiebungsandrohung: BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 35) – betreffen und die dem Betroffenen unter Berücksichtigung der Beziehung zu seiner Tochter nunmehr eine günstigere Entscheidung ermöglichen können (vgl. Decker, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.). Selbst wenn man also mit dem Bundesamt davon ausginge, dass die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 keine Rechtslagenänderung darstellte, auf die sich der Kläger berufen könnte, wäre nach dem vorliegend zugrunde zulegenden Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) und dem am 27. Februar 2024 in Kraft getretenen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG von einem in die Zulässigkeit „hineingewachsenen“ Wiederaufgreifensantrag auszugehen. Das Gericht merkt in diesem Zusammenhang noch an, dass selbst wenn man dies nicht so sehen würde, der Kläger in praktischer Hinsicht schlicht einen neuen (ausschließlich) auf § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG gestützten Wiederaufgreifensantrag stellen könnte.
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Das Argument der Beklagten, nicht sie, sondern die Ausländerbehörde sei für die Berücksichtigung der nachträglich geltend gemachten inlandsbezogenen Einwände gegen die Abschiebungsandrohung zuständig, greift dabei nicht durch bzw. macht den auf § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG gestützten Wiederaufgreifensantrag nicht unzulässig. Soweit sich die Beklagte auf die Gesetzgebungsmaterialien zum neu erlassenen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG bezieht (vgl. BT-Drs. 20/9463, S. 58), merkt das Gericht Folgendes an: Es ist richtig, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers mit der neu geschaffenen Regelung weiterhin zwischen der asyl- und ausländerrechtlichen Prüfzuständigkeit differenziert werden soll und er hinsichtlich bestandskräftigen Altfällen die Ausländerbehörden als „sachnäher“ als das Bundesamt betrachtet. Nach Ansicht des Gerichts ist allerdings eine trennscharfe Aufteilung zwischen asyl- und ausländerrechtlicher Zuständigkeit im neu geschaffenen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG für bestandskräftige Altfälle nicht ausreichend abgesichert worden. Eine Übergangsregelung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. ist für bestandskräftige Altfälle in § 87 ff. AsylG, soweit ersichtlich, nicht erfolgt. Es trifft zweifellos zu, dass bei einer bestandskräftigen Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung in erster Linie die Ausländerbehörden zuständig sind, wenn nachträglich inlandsbezogene Gründe gegen die Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts geltend gemacht werden und die unter Umständen einen Duldungsanspruch begründen können (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG). Diese Vorstellung des Gesetzgebers lässt aber nach der derzeitigen Regelung die Möglichkeit von Betroffenen unangetastet, anstelle der Geltendmachung eines Duldungsanspruchs im Sinn von § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde einen auf § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG gestützten Wiederaufgreifensantrag gegenüber dem Bundesamt mit dem Argument zu stellen, dass im aktuellen Zeitpunkt berücksichtigungsfähige Umstände im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. vorlägen, welche die nach altem Recht erlassene Abschiebungsandrohung rechtswidrig machen würden. Die Möglichkeit, eine Korrektur der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung mittels eines (isolierten) Wiederaufgreifensantrags anzustreben, wird in der Gesetzesbegründung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG an keiner Stelle thematisiert, obgleich die Möglichkeit eines solchen Antrags in einer Stellungnahme gegenüber dem Referentenentwurf (wenn auch nur knapp) erwähnt wurde (vgl. DAV, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Ausschuss Migrationsrecht zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung, S. 8 f.). Insofern spricht nach Ansicht des Gerichts manches dafür, dass der Verzicht des Gesetzgebers auf Aufnahme einer Übergangsregelung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. für bestandskräftige Altfälle sehenden Auges die Möglichkeit von Betroffenen in Kauf nimmt, Wiederaufgreifensanträge an das Bundesamt (mit dem Ziel, die vorgesehene Befassung der Ausländerbehörden im Kontext des § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zu umgehen) stellen zu können. Wie oben ausgeführt, hat die Abschiebungsandrohung Verwaltungsaktqualität (vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 35), weshalb das Gericht keinen Grund sieht, warum diese nicht – wie auch andere Verwaltungsakte – nach den allgemeinen Regeln Gegenstand eines isolierten Wiederaufgreifensantrags sein kann (in diese Richtung selbst ausdrücklich: VG München, B.v. 24.8.2023 – M 13 ES 21.32795 – juris Rn. 44). Das Gericht sieht insofern hinsichtlich bestandskräftigen Altfällen das praktische Problem, dass Betroffene einer bestandskräftigen Abschiebungsandrohung nicht nur alternativ, sondern auch kumulativ im Weg der Geltendmachung eines Duldungsanspruchs bei der zuständigen Ausländerbehörde und beim Bundesamt im Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens (bezogen auf § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F.) nachträglich inlandsbezogene Sachverhalte geltend machen könnten. Da aber nach allem der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln in § 51 VwVfG vom Gesetzgeber in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. mangels Aufnahme einer Übergangsregelung für bestandskräftige Altfälle nicht ausdrücklich ausgeschlossen worden ist (was angesichts der Vorstellung des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung nahegelegen wäre), kann Betroffenen die Zulässigkeit eines auf § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. gestützten Wiederaufgreifensantrags nicht mit dem Einwand abgesprochen werden, die Ausländerbehörden seien im Kontext des § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG die sachnähere Behörde.
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Die weiteren im Bescheid dagegen vorgetragenen Einwände sind ebenso nicht durchgreifend. Soweit das Bundesamt ausführt, dass berücksichtigungsfähige Umstände im Kontext des Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu prüfen seien, ist das kein Argument gegen die Zulässigkeit des Wiederaufgreifensantrags bezogen auf die Abschiebungsandrohung. Entsprechend des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ließe sich diese Aussage auch auf alle anderen Bereiche der Eingriffsverwaltung übertragen (vgl. dazu Kotzur in von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 153 ff.). Insofern gilt für jeden belastenden Verwaltungsakt, dass vor dessen Erlass die tatbestandlichen Voraussetzungen der einschlägigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage vorliegen müssen, genauso aber auch nach dessen Bestandskraft beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 51 VwVfG eine Neuentscheidung durch den Betroffenen erzwungen werden kann.
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Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den vom Bundesamt im Bescheid zitierten gerichtlichen Entscheidungen. Diese beschränken sich lediglich (zutreffend) auf die Feststellung, dass bei einem Asylfolgeantrag keine neue Rückkehrentscheidung bzw. Abschiebungsandrohung ergehe (vgl. § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG), weshalb die Grundsätze der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 nicht zum Tragen kämen (vgl. VG Magdeburg, B.v. 27.7.2023 – 3 B 150/23 MD – juris Rn. 3; VG Bayreuth, U.v. 13.4.2023 – B 7 K 22.31218 – juris Rn. 53 f.; vgl. auch jüngst im Kontext des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG: BayVGH, B.v. 1.2.2024 – 10 CE 24.191 – BeckRS 2024, 3110 Rn. 10 [mit der Einschränkung, die Durchbrechung der Bestandskraft der Rückkehrentscheidung sei unionsrechtlich nicht geboten]). Mit der hier vorliegenden Konstellation eines (hilfsweise) gestellten isolierten Wiederaufgreifensantrags gegen die Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung sind die vom Bundesamt zitierten Gerichtsentscheidungen (und auch der genannte Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1.2.2024) aber nicht vergleichbar, da die Prüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (C-484/22) in diesen Verfahren gar nicht verfahrensgegenständlich war. Insofern widersprechen die vom Bundesamt zitierten Gerichtsentscheidungen auch nicht der oben dargestellten Auffassung, weil das Folgeantragsverfahren aufgrund des vorgegeben Prüfungsrahmens (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, § 31 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG) per se ungeeignet sein dürfte, nachträglich inlandsbezogene Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung vorzubringen. Wie ausgeführt ist vorliegend aber die Ablehnung eines Asylfolgeantrags nicht verfahrensgegenständlich, sondern die Ablehnung eines isolierten Wiederaufgreifensantrags gegen die Abschiebungsandrohung als unzulässig.
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b) Die gegen den Kläger erlassene bestandskräftige Abschiebungsandrohung steht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung und der danach zu berücksichtigenden Rechtslage nicht mit § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. bzw. mit Art. 5 Buchst. a RL 2008/115/EG in Einklang. Der Kläger hat nach Aktenlage auch einen Anspruch gegen die Beklagte, dass diese die bestandskräftige Abschiebungsandrohung im Wiederaufgreifensverfahren aufhebt und damit den derzeitigen mit § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. nicht vereinbaren Rechtszustand korrigiert (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Da sich das Bundesamt im angefochtenen Bescheid vom … Januar 2024 sachlich noch gar nicht mit den geltend gemachten inlandsbezogenen Umständen des Klägers befasst hat, hat das Gericht diese Belange selbst zu prüfen und ist insofern zu einem „Durchentscheiden“ verpflichtet (vgl. ausdrücklich auch BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 61, noch nicht veröffentlicht).
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Hinsichtlich der Umsetzung der Vorgaben aus § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. bzw. Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG dürften die höchstrichterlichen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 GG, wonach im ausländerrechtlichen Kontext maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen ist (vgl. BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 23; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48), heranzuziehen sein (vgl. auch BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 64, noch nicht veröffentlicht; VG Sigmaringen, B.v. 7.2.2024 – A 14 K 3041/21 – juris Rn. 36). Das Kindeswohl im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG bzw. Art. 5 Buchst. a RL 2008/115/EG ist auch dann zu beachten, wenn das Kind nicht selbst Adressat einer Rückkehrentscheidung ist, sondern sein Vater. Insofern genügt die Betroffenheit von einer gegenüber dem Vater ergangenen Rückkehrentscheidung (vgl. ausführlich EuGH, U.v. 11.3.2021 – C-112/20 – juris Rn. 31 ff.; s.a. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – Rn. 43 ff.; s.a. OVG LSA, B.v. 11.9.2023 – 2 L 38/20 – juris Rn. 59). Entscheidend für die Gewichtung des Kindeswohls sind insoweit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 24 Abs. 3 GRCh misst ausdrücklich regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).
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Gemessen an diesen rechtlichen Maßgaben ist die im Erstbescheid ergangene Abschiebungsandrohung aktuell nicht mit § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. i.V.m. Art. 5 Buchst. a RL 2008/115/EG zu vereinbaren. Der Kläger übt zusammen mit der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht für das erst … Kind aus. Aus der vorgerichtlichen Erklärung gegenüber dem Bundesamt geht hervor, dass er zusammen mit der Kindsmutter seine Elternverantwortung auch tatsächlich wahrnimmt und eine enge persönliche Bindung zu seiner Tochter hat. Sie würden gemeinsam in einer „Familieneinheit“ leben. Insofern spricht nach Aktenlage vieles dafür, dass die Tochter angesichts ihres geringen Alters auf die Aufrechterhaltung der Vater-Kind-Beziehung angewiesen ist. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 m.w.N.). Im Allgemeinen und auch im konkreten Fall des Klägers und seiner Tochter ist daher nach Aktenlage davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zum Vater der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient (vgl. auch BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 64, noch nicht veröffentlicht). Auch ist zu berücksichtigen, dass das noch sehr kleine Kind den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen und diesen rasch als endgültigen Verlust erfahren kann (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 23 m.w.N.; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48 m.w.N.; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13).
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Die mit § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. nicht vereinbare Abschiebungsandrohung aus dem Erstbescheid ist demnach vom Bundesamt im Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens, wie vom Kläger vorgerichtlich beantragt, aufzuheben. Durch die Verpflichtung zur Aufhebung der Abschiebungsandrohung ist auch den erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverboten in Nummern 6 und 7 des Bescheids vom … Januar 2016 die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG), sodass diese ebenfalls vom Bundesamt aufzuheben sind.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 Abs. 1 Satz 3, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 1 Satz 3, § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.