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VG Würzburg, Urteil v. 18.12.2024 – W 2 K 24.30056
Titel:

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für subsidiär Schutzberechtigten aus Syrien 

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4
Leitsatz:
Bei einer Rückkehr nach Syrien droht einem unter dem Assad-Regime ausgereisten und subsidiär schutzberechtigten Mann keine Verfolgung wegen illegaler Ausreise, dem Aufenthalt in Deutschland oder der Entziehung vom Wehrdienst. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Syrien, Aufstockerklage, Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), Festnahme durch die Gruppe H. T. al S. (HTS), Entscheidungszeitpunkt nach Sturz des Assad-Regimes, Rückkehr nach Syrien, subsidiär Schutzberechtigter, Festnahme durch HTS vor Ausreise, Sturz des Assad-Regimes, illegale Ausreise, Entziehung vom Wehrdienst, Generalamnestie, politiche Verfolgung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38445

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der am … … 1988 in I. … /Syrien geborene Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er reiste am 1. März 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. März 2021 einen Asylantrag.
2
Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für ... (Bundesamt) am 12. April 2021 gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe Syrien wegen des Krieges, der fehlenden Sicherheit und der schlechten wirtschaftlichen Situation verlassen. Ende 2011 habe er an friedlichen Demonstrationen in seinem Dorf teilgenommen. Anfang 2019 sei er von der Gruppe H. T. al S. festgenommen worden und sei für 2 Monate im Gefängnis gewesen. Danach sei er freigelassen worden und sei noch etwa für einen Monat in Syrien gewesen.
3
Mit Bescheid vom 22. April 2021, zugestellt am 3. Mai 2021, erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2). Das pauschale Vorbringen des Klägers, er würde vom Regime getötet, weil er das Land verlassen habe und aus I. … stamme, sei nicht geeignet, eine Verfolgungsgefahr zu begründen. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger als politischer Gegner oder Kritiker der H. T. al S. (HTS) angesehen werde. Er sei offiziell von dieser Gruppe freigelassen worden und habe sich danach noch einen Monat im Heimatdorf ohne weitere Zwischenfälle aufgehalten. Auch habe seine Familie nach seiner Ausreise weder Probleme mit dem Regime noch der HTS gehabt.
4
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 11. Mai 2021 Klage und beantragte zuletzt.
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Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. April 2021 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 12. Mai 2021 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte des Bundesamts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Ausbleibens sowohl des Klägers als auch eines Vertreters der Beklagten mündlich verhandelt werden konnte, ist unbegründet. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
10
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Er befindet sich nach Überzeugung des Gerichts nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen eines dort genannten Merkmals außerhalb Syriens.
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Gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Dabei ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
12
Als Verfolgungshandlungen gelten nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine Verfolgungshandlung kann nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gelten.
13
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, soweit im letzteren Fall kein Schutz vor Verfolgung durch die beiden erstgenannten Akteure oder durch internationale Organisationen gewährleistet ist.
14
Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
15
Zur Beurteilung, ob hiernach begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist, muss das Gericht eine Verfolgungsprognose unter zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts insgesamt anstellen. Diese Prognose hat die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand. Dies gilt auch, wenn der auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus klagende Schutzsuchende – wie hier – aufgrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 AsylG nicht unmittelbar von einer Abschiebung bedroht ist. Der subsidiäre Schutzstatus stellt eine Ergänzung zu der in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Schutzregelung für Flüchtlinge dar, die stets vorrangig zu prüfen ist (vgl. EuGH, U.v. 8.5.2014 – C-604/12 – juris Rn. 32 ff.). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung vor der Ausreise im Herkunftsstaat (Vorverfolgung) oder auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem oder weil der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (Nachfluchtgründe), insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist (§ 28 Abs. 1a AsylG).
16
In beiden Fällen ist für die Beurteilung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – BVerwG 10 C 5.09 – juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände wird ein verständiger Betrachter auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris).
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Vorverfolgten kommt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zugute. Danach ist die Tatsache, dass eine schutzsuchende Person bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, beziehungsweise dass eine tatsächliche Gefahr besteht, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen.
18
Kann nicht festgestellt werden, dass einem Asylbewerber Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kommt eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht (vgl. BVerwG, B.v. 15.8.2017 – 1 B 120/17 – juris).
19
Nach diesen Maßgaben und nach der aktuellen Erkenntnislage hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
20
1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende politische Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne von § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, sind seinem Vorbringen nicht zu entnehmen.
21
Soweit der Kläger angibt, dass er Anfang 2019 von der Gruppe H. T. al S. verhaftet worden sei, ist für dieses geschilderte Vorgehen gegen den Kläger jedenfalls nicht ersichtlich, dass es an eine tatsächliche oder unterstellte politische Verfolgung des Klägers anknüpft. Aus den Schilderungen des Klägers vor dem Bundesamt am 12. April 2021 ergibt sich vielmehr, dass die Festnahme des Klägers aufgrund seiner Respektlosigkeit gegenüber einem Mitglied der Gruppe erfolgt sei. Tatsachen, die für einen politisch bedingten Auslöser dieses Vorgehens der HTS sprechen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Nach 2 Monaten im Gefängnis sei der Kläger wieder entlassen worden und habe anschließend noch einen Monat unbehelligt im Heimatort zugebracht. Daher liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein aktuelles spezifisches Interesse der HTS an dem Kläger vor (vgl. BayVGH, B.v. 5.3.2024 – 21 B 23.30059 – juris Rn. 17). Eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende politische Verfolgung ist damit nicht aufgezeigt.
22
2. Der Kläger kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nichts daraus für sich ableiten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem er sein Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht ebenfalls nicht.
23
Zwar hat die Gruppe H. T. al-S. (HTS) am 8. Dezember 2024 die Hauptstadt Damaskus eingenommen und den ehemaligen Präsidenten Assad gestürzt (BAMF Briefing Notes vom 9.12.2024). Das Assad-Regime und der dazugehörige Staatsapparat hat nach den aktuellen Erkenntnismitteln jeglichen Einfluss auf Dauer verloren, so dass von diesen keine Verfolgungshandlungen in Syrien mehr ausgehen können. Wie oben unter 1. dargelegt ist jedoch auch kein aktuelles spezifisches Interesse der HTS am Kläger erkennbar.
24
Zur Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung wegen seiner (illegalen Ausreise), seinem Aufenthalt in Deutschland oder seiner Entziehung vom Wehrdienst. Vielmehr kündigte die HTS eine Generalamnestie für Wehrdienstverweigerer an (vgl. z.B. https://www.deutschlandfunk.de/rebellen-verkuenden-amnestie-fuer-soldaten-114.html abgerufen am 18.12.2024) und fordert syrische Flüchtlinge auf, nach Syrien zurückzukehren und beim Wiederaufbau zu helfen (vgl. https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-syrien-102.html#Al-Baschir-ruft-Syrer-zur-Rueckkehrauf abgerufen am 18.12.2024). Zudem sind die politisch Inhaftierten des Regimes aus den Gefängnissen befreit worden (https://www.tagesschau.de/ausland/asien/syrien-assad-strafverfolgung-100.html abgerufen am 23.12.2024).
25
Damit ergibt sich für den Kläger zur Überzeugung des Gerichts auch bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände und dem Vortrag zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnislage keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG.
26
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § § 708 ff. ZPO.