Titel:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, teilbetreutes Wohnen, Bedarfsermittlung, Sozialpädagogische Fachlichkeit, Hilfeplanverfahren
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 34
SGB VIII § 36
SGB VIII § 41
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, teilbetreutes Wohnen, Bedarfsermittlung, Sozialpädagogische Fachlichkeit, Hilfeplanverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38419
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, unverzüglich den aktuellen Hilfebedarf des Antragstellers im Rahmen eines Hilfeplanverfahrens zu ermitteln und gezielte Hilfemaßnahmen festzulegen.
II. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer auf der Grundlage des nach vorstehendem Absatz erstellten Hilfeplans ergehenden Entscheidung die bis zum 31. Dezember 2024 gewähren Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII in Verbindung mit § 34 SGB VIII weiterzubewilligen.
III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm weiterhin Hilfe für junge Volljährige in Form des teilbetreuten Wohnens zu gewähren.
2
Der Antragsteller reiste am 17. März 2021 als unbegleiteter minderjähriger Ausländer in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Rahmen der durch den Antragsgegner durchgeführten Altersfeststellung wurde sein Geburtsdatum auf den 30. August 2006 festgesetzt und durch das Amtsgericht München Vormundschaft angeordnet. Der Antragsgegner leistete im folgenden Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII zunächst in Form des vollbetreuten und ab 19. September 2022 in Form des teilbetreuten Wohnens.
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Dem Antragsteller wurde im Jahr 2023 eine bis zum 15. November 2026 befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt.
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Im Hilfeplangespräch vom 26. Juli 2024 wurde vereinbart, dass die bisher geleistete Hilfe weiterhin erforderlich sei und im Dezember 2024 ein nächstes Hilfeplangespräch stattfinden solle, in welchem besprochen werde, ob für den Antragsteller ein „betreutes Wohnen/eine Wohnunterbringung für junge Volljährige nach § 13 Abs. 3 SGB VIII“ infrage komme.
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Mit Bescheid vom 26. August 2024 leistete der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller die bisher gewährte Hilfe weiter als Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 34 SGB VIII. Die Hilfe wurde bis auf weiteres, längstens bis 31. Dezember 2024, gewährt (Ziffer 1 des Bescheides).
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Die den Antragsteller betreuende Einrichtung bat den Antragsgegner mit E-Mail vom 5. Oktober 2024 um Terminierung eines erneuten Hilfeplangespräches.
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Der Antragsteller beantragte mit Schreiben vom 13. November 2024 die Verlängerung der ihm gewährten Hilfe ab 1. Januar 2025. Die betreuende Einrichtung übermittelte dem Antragsgegner am 19. November 2024 einen Hilfeprozessbericht vom 15. November 2024 über den Zeitraum vom 25. Juni bis 15. November 2024. Darin wird insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller im Juli 2024 den mittleren Schulabschluss erfolgreich erworben habe. Seit September 2024 habe er mit einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kindergarten angefangen. Zusammenfassend sei zu konstatieren, dass die bestehende Jugendhilfemaßnahme den Antragsteller unterstütze, seine sozialen und lebenspraktischen Kompetenzen noch weiter zu verbessern. Die kontinuierliche Unterstützung erhöhe seine Chancen auf eine erfolgreiche, selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Der Verbleib des Antragstellers im teilbetreuten Wohnen werde daher befürwortet.
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Mit E-Mail vom 4. Dezember 2024 informierte die zuständige Fachkraft des Antragsgegners die Einrichtung darüber, dass die stationäre Jugendhilfe für den Antragsteller über den 31. Dezember 2024 nicht fortgesetzt werde. Geplant sei, dass dieser im Laufe der Kalenderwoche 3 in eine dezentrale Unterkunft in den Landkreis verlegt werde und dort ambulante Jugendhilfe im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft erhalten werde.
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Der Antragsteller beantragte am 9. Dezember 2024 zur Niederschrift beim Verwaltungsgericht München,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, die bisher gewährte Hilfe ab 1. Januar 2025 weiter zu gewähren.
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Die den Antragsteller betreuende Einrichtung übersandte am 16. Dezember 2024 eine ergänzende Stellungnahme, datiert vom 12. Dezember 2024.
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Mit Beschluss vom 17. Dezember 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2024 übermittelte der Antragsgegner die Behördenakten und führte aus, dass die Entscheidung über die geeignete Maßnahme dem Jugendamt obliege. Die Auswahl der Hilfe richte sich nach der individuellen Situation des jungen Menschen. Der Antragsteller werde nicht in die Obdachlosigkeit entlassen. Für ihn werde ein Platz in einer dezentralen Unterkunft organisiert, dort erhalte er weiterhin Unterstützung durch geeignete ambulante Helfer. Eine Antragstellung unterblieb.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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Der entsprechend § 88 VwGO ausgelegte Antrag hat Erfolg.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber – zumindest teilweise – vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifiziert hohe Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache – jedenfalls dem Grunde nach – spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
20
Der Antragsteller hat einen Anspruch darauf, dass der Antragsgegner auf Grundlage eines ordnungsgemäßen Hilfeplanverfahrens den aktuellen Hilfebedarf des Antragstellers ermittelt und darauf beruhend eine im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit getroffene Hilfemaßnahme festlegt.
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Bis zu einer solchen Entscheidung hat der Antragsteller einen Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII i.V.m. 34 SGB VIII, dem vorliegend allein durch die teilbetreute individuelle Unterbringung in der, den Antragsteller auch bisher betreuenden Einrichtung Rechnung getragen werden kann ausreichend glaubhaft gemacht.
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Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden, § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Abs. 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten, des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt, § 41 Abs. 2 SGB VIII.
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Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
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Will ein Betroffener – wie hier der Antragsteller – die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die beanspruchte Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 C 16.1693 – juris Rn. 8; B.v. 17.8.2015 – 12 AE 15.1691 – juris Rn. 31; B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 30).
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Ein grundsätzlicher Bedarf des Antragstellers auf Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenständigen Lebensführung im Sinne des § 41 Abs. 1 SGB VIII ist vorliegend – auch nach der Stellungnahme des Antragsgegners vom 18. Dezember 2024 – unstreitig. Allerdings erachtet der Antragsgegner nicht die Weitergewährung der teilbetreuten Unterbringung nach § 34 SGB VIII als erforderlich, sondern eine Hilfe in Form der Erziehungsbeistandschaft gemäß § 41 i.V.m. § 30 SGB VIII als ausreichend.
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Diese Beurteilung ist unter Zugrundelegung des Prüfungsmaßstabs der sozialpädagogischen Fachlichkeit nicht vertretbar. Wie sich aus den vorgelegten Behördenakten eindeutig entnehmen lässt, wurde die Entscheidung des Antragsgegners entgegen der Beurteilung des Jugendamtes und ohne jede sozialpädagogische Beurteilungsgrundlage getroffen. Der Antragsgegner hat damit die Grundzüge des Jugendhilferechts verkannt und sich über Grundsätze des Hilfeverfahrens hinweggesetzt (vgl. hierzu: VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 97 ff.). Die Entscheidung des Antragsgegners kann daher unter keinerlei Gesichtspunkten als rechtmäßig erachtet werden.
27
Unter diesen Voraussetzungen hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass der hinsichtlich der Auswahl der konkreten Hilfemaßnahme gegebene Beurteilungsspielraum des Antragsgegners sich vorliegend bis zu einer fachgerechten Überprüfung des Jugendhilfebedarfs auf Grundlage einer Entscheidung nach sozialpädagogischer Fachlichkeit (vgl. VG München, B.v. 30.8.2024 – M 18 E 24.4980 – juris m.w.N.; VGH BW, B.v. 23.5.2023 – 12 S 457/23 – juris Rn. 20 ff.) allein auf die beantragte weitere Unterbringung im teilbetreuten Wohnen verengt hat.
28
Es obliegt dem Jugendamt des Antragsgegners unverzüglich den aktuellen Hilfebedarf des Antragstellers, auch im Hinblick auf eine Überführung der Hilfe in eine Hilfemaßnahme nach § 13 Abs. 3 SGB VIII, zu ermitteln und darauf beruhend eine Entscheidung auf Grundlage sozialpädagogischer Fachlichkeit zu treffen.
29
Aus den vorgelegten Behördenakten des Jugendamtes ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass das Jugendamt des Antragsgegners diesen Anforderungen bis zu der streitgegenständlichen Entscheidung nicht gerecht wurde. Weitere Ausführungen zu den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren erscheinen daher vorliegend nicht erforderlich.
30
Der Antragsteller hat zudem einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
31
Zwar möchte der Antragsgegner für den Antragsteller einen Wohnplatz in einer dezentralen Unterkunft organisieren, so dass der Antragsteller damit nicht unmittelbar in die Obdachlosigkeit entlassen würde. Mit dieser Unterbringungsform verkennt der Antragsgegner jedoch zum einen die rechtliche Situation des Antragstellers als Person mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und zum anderen die Bedürfnisse des Antragstellers auf weitere Integration in die Gesellschaft. Der allen Grundsätzen des Jugendhilferechts widersprechende geplante abrupte Abbruch der bisher durch das Jugendamt des Antragsgegners fachgerecht und erkennbar erfolgreich geleisteten Jugendhilfe könnte vielmehr dazu führen, bereits Erreichtes wesentlich zu gefährden.
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Dem Antrag war daher vollumfänglich stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.