Inhalt

VGH München, Urteil v. 30.12.2024 – 13a B 24.30718
Titel:

Kindeswohl und Abschiebungsandrohung

Normenketten:
EMRK Art. 8
GRC Art. 7, Art. 24 Abs. 2
RL 2008/115/EG Art. 5 HS. 1 lit. a, lit. b
AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 78 Abs. 5 S. 3
AufenthG § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwGO § 124a Abs. 6, Abs. 3 S. 4, § 125 Abs. 1 S. 1, § 128 S. 1
Leitsätze:
1. Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen sind bei Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt zu berücksichtigen (so nun auch § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Hingegen führt das nicht dazu, dass durch das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK festzustellen wäre. (Rn. 45)
2. Die Kostenaufteilung nach dem Wertverhältnis der Streitgegenstände muss die „Aufwertung“ der Abschiebungsandrohung, wie sie nunmehr in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG zum Ausdruck kommt, berücksichtigen. (Rn. 47 – 49)
3. Humanitäre Gründe stehen einer Abschiebung in die Türkei im Allgemeinen nicht entgegen. (Rn. 31 – 39)
Schlagworte:
Kindeswohl und Abschiebungsandrohung, Kostenaufteilung nach dem Wertverhältnis der Streitgegenstände unter Berücksichtigung der „Aufwertung“ der Abschiebungsandrohung, Kindeswohl, Abschiebungsandrohung, Kostenaufteilung, Wertverhältnis der Streitgegenstände, Berücksichtigung der "Aufwertung" der Abschiebungsandrohung, humanitäre Gründe, Abschiebung in die Türkei, familiäre Bindungen, Abschiebungsverbot, schützenswerte familiäre Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, gemeinsame Rückkehr im Familienverband
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 09.05.2023 – M 28 K 22.31905
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38206

Tenor

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 9. Mai 2023 wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2022 hinsichtlich der Kläger zu 1 und 2 nur in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung verworfen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläger je 1/4 und die Beklagte die Hälfte. Das Urteil des Verwaltungsgerichts wird in Nummer II. dahingehend abgeändert, dass die dortige Klägerin zu 1 unverändert 1/6, die dortigen Kläger zu 2 und 3 (hier Kläger zu 1 und 2) und die Beklagte je 5/18 zu tragen haben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Kläger sind türkische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Anfang des Jahres 2022 zusammen mit ihrer Mutter in das Bundesgebiet ein und stellten am 9. März 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
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Mit Bescheid vom 16. September 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, drohte die Abschiebung in die Türkei an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Bl. 202 der Akte des Bundesamts – BA).
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Gegen den Bescheid des Bundesamts erhoben die Kläger zusammen mit ihrer Mutter am 29. September 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Mit Urteil vom 9. Mai 2023 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2022 in den Nummern 4 mit 6 auf. Die Beklagte wurde verpflichtet festzustellen, dass hinsichtlich der dortigen Klägerin zu 1 (Mutter der vorliegenden Kläger) wegen einer psychischen Erkrankung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG, hinsichtlich der dortigen Kläger zu 2 und 3 (hier Kläger zu 1 und 2, Kinder) die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. Die beiden Kläger, die minderjährigen Kinder der dortigen Klägerin zu 1), lebten mit ihrer Mutter im Bundesgebiet in einer im Sinn von Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) schützenswerten familiären Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Da eine Aufenthaltsbeendigung hinsichtlich der Mutter den nunmehr rechtskräftigen Feststellungen des Gerichts zufolge nicht in Betracht komme, würde eine Aufenthaltsbeendigung hinsichtlich der hiesigen Kläger zu 1 und 2 gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK verstoßen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – NVwZ 2023, 743) sei § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass auch die im Inland bestehenden familiären Beziehungen eines Asylbewerbers in dessen Asylverfahren durch die Beklagte zu berücksichtigen seien.
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Begrenzt auf die Verpflichtung, hinsichtlich der hiesigen Kläger zu 1 und 2 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung. Der Antrag wurde zum einen auf § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (Divergenz) gestützt, da die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96; B.v. 10.10.2012 – 10 B 39.12; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12) abweiche. Nach dieser ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasse der Verweis auf die EMRK in § 60 Abs. 5 AufenthG lediglich Abschiebungshindernisse, die auf einen bestimmten Zielstaat bezogen seien, also in Gefahren begründet lägen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohten (sog. „zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse“) und nicht Abschiebungshindernisse, die durch die Durchführung der Abschiebung als solche entstünden, etwa wegen schutzwürdiger familiärer Bindungen in Deutschland. Das Verwaltungsgericht sehe dies hingegen im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 15.2.2023 – C 484/22) als überholt an und lege § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform dahin aus, dass auch die im Inland bestehenden familiären Beziehungen eines Asylbewerbers in dessen Asylverfahren zu berücksichtigen seien. Zum anderen wird die grundsätzliche Rechtsfrage aufgeworfen, ob familiäre Bindungen, die einer Abschiebung entgegenstünden, (bereits) bei der Feststellung von Abschiebungsverboten durch das Bundesamt zu berücksichtigen seien bzw. ob dieses verpflichtet sei festzustellen, dass für den Betroffenen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe. Unter Bezugnahme auf verwaltungsgerichtliche Entscheidungen wird ausgeführt, dass familiäre Bindungen in der Bundesrepublik nur bei Prüfung der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen seien, wobei eine Rückkehrentscheidung die Abschiebungsandrohung sei.
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Mit Beschluss vom 21. August 2024 (Az. 13a ZB 23.30788) ließ der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung zu.
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Zur Begründung ihrer Berufung hat die Beklagte mit Schreiben vom 30. August 2023 zunächst auf den Bescheid vom 16. September 2022, den Antrag auf Zulassung der Berufung vom 21. August 2023 und den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. August 2024 Bezug genommen. Eine weitere Begründung ist nicht erfolgt. Die Beklagte beantragt,
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das erstinstanzliche Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. Mai 2023 (Az.: M 28 K 22.31905) zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
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die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
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Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2024 haben die Kläger ihre Prozesskostenhilfeanträge vom 10. September 2024 zurückgenommen und ausgeführt, mit ihrem Antrag, das erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen, lege die Beklagte einen weitergehenden Streitgegenstand fest. Sie verfolge ohne Zweifel das Ziel der vollumfänglichen Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und gehe damit über das ursprüngliche Zulassungsbegehren hinaus, indem sich ihr Berufungsziel nunmehr auch gegen die erstinstanzliche Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots richte. Insoweit sei die Berufung unzulässig. Hinsichtlich der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sei die Berufung ebenfalls unzulässig, weil es an einer ordnungsgemäßen Begründung mangle, § 124a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 5 VwGO. Zwar seien Bezugnahmen möglich, aber die Berufungsgründe müssten eine Prüfung, Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs erkennen lassen. Dies sei nicht der Fall, da der Zulassungsantrag und die Berufungsbegründung von verschiedenen Sachbearbeitern erstellt worden seien und sich nicht ergebe, ob bei der Berufungsbegründung eine eigene Prüfung erfolgt sei.
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Mit Schreiben vom 7. Oktober 2024 hat der Senat auf seine vorläufige Rechtsauffassung hingewiesen, den Parteien Gelegenheit zur Äußerung gegeben und angefragt, ob auf mündliche Verhandlung verzichtet wird. Mit Schreiben vom 17. und 23. Oktober 2024 haben die Parteien auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).
I.
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Die Berufung der Beklagten ist im zugelassenen Umfang zulässig.
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1. Insbesondere genügt die Begründung der Berufung (noch) den Anforderungen des § 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG, § 124a Abs. 6, Abs. 3 Satz 4 VwGO. Die Beklagte hat innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Mai 2023 (Az.: M 28 K 22.31905) zu ändern und die Klage abzuweisen. Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid, den Antrag auf Zulassung der Berufung und den Zulassungsbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. August 2024 Bezug genommen. Zwar werden im Schreiben der Beklagten vom 30. August 2024 explizit keine Berufungsgründe genannt, jedoch ergeben sich diese vor allem aus dem Zulassungsantrag, auf den ausdrücklich Bezug genommen wurde. Insoweit kann die Begründung noch als ausreichend angesehen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht eine Berufungsbegründung den Anforderungen des § 124a Abs. 6 VwGO, wenn durch die Bezugnahme auf die Begründung des Zulassungsantrags hinreichend zum Ausdruck gebracht wird, dass und weshalb das erstinstanzliche Urteil weiterhin angefochten wird. So genügt es in asylrechtlichen Streitigkeiten regelmäßig, wenn eine Berufungsbegründung ihre von der Vorinstanz abweichende Beurteilung zu einer entscheidungserheblichen Frage deutlich macht, was auch durch die Bezugnahme auf die Begründung des insoweit erfolgreichen Zulassungsantrags geschehen kann (st. Rspr, siehe nur BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – NVwZ 2006, 1420 – juris Rn. 10 m.w.N.; siehe auch BayVGH, U.v. 17.12.2020 – 13a B 20.30957 – juris; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 99).
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Der Einwand der Kläger, dass die Berufungsgründe grundsätzlich eine Prüfung, Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs erkennen lassen und sich insbesondere mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils auseinandersetzen müssen, ist zwar grundsätzlich zutreffend. Auch ist den Klägern beizupflichten, dass sich wegen der bloßen Bezugnahme aus der Berufungsbegründung zur hier maßgeblichen Problematik der Prüfung von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen unmittelbar nichts ergibt. Zu Recht werfen die Kläger in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Streitgegenstand auf. Vor allem, weil die Beklagte selbst im Zulassungsantrag auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verweist, wonach der Prüfungsumfang des Bundesamts nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse umfasse, und problematisiert, ob die Prüfung des Kindeswohls bei dem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG einerseits oder bei der Abschiebungsandrohung andererseits zu verorten sei (ZA S. 6), wäre eine Erörterung der Thematik in der Berufungsbegründung zu erwarten gewesen. Nichtsdestotrotz kann der Kontext der Regelungen zur Berufung und der systematische Unterschied zwischen einer bereits vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung und einem vorangehenden Zulassungsverfahren nicht außer Betracht bleiben. Die von den Klägern zitierte Kommentarstelle (Happ in Eyermann, VwGO a.a.O. § 124a Rn. 27) bezieht sich auf den – im Rahmen von § 78 AsylG nicht vorgesehenen – Fall, dass die Berufung gemäß § 124a Abs. 2 und 3 VwGO vom Verwaltungsgericht bereits zugelassen war und somit noch keine Gründe gemäß § 78 Abs. 4 AsylG bzw. § 124a Abs. 4 VwGO dargelegt worden waren, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Da in dieser Konstellation eine Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils noch in keiner Weise stattgefunden hat, muss dies (erstmals) in der Berufungsbegründung geschehen. Anders kann es sich verhalten, wenn – wie hier – im Zulassungsantrag bereits eine Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil stattgefunden hat, denn schon nach der gesetzlichen Konzeption der Zulassungsberufung gilt in diesem Fall die Regelung zur Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 3 Satz 3 bis 5 VwGO nur entsprechend (§ 124a Abs. 6 Satz 3 VwGO). Im Zulassungsantrag sind gemäß § 78 Abs. 4 AsylG / § 124a Abs. 4 VwGO schon die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist, und das kann sich unter den Umständen des konkreten Einzelfalls mit den Gründen decken, die auch in der Berufungsbegründung anzuführen wären.
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Gemessen hieran ist vorliegend das gesetzliche Erfordernis der Einreichung eines Schriftsatzes zur Berufungsbegründung durch die auf die erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags verweisende Begründung noch erfüllt (siehe hierzu BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – NVwZ 2006, 1420 – juris Rn. 10). Die Beklagte hat im Zulassungsantrag hinreichend dargelegt, dass der Verweis auf die EMRK in § 60 Abs. 5 AufenthG nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lediglich Abschiebungshindernisse umfasse, die auf einen bestimmten Zielstaat bezogen seien, und nicht Abschiebungshindernisse, die durch die Durchführung der Abschiebung als solche entstünden, etwa wegen schutzwürdiger familiärer Bindungen in Deutschland. Damit hat sie zum Ausdruck gebracht, in welchen Punkten die Entscheidung ihrer Ansicht nach unrichtig ist und weshalb sie die Würdigung des Verwaltungsgerichts für fehlerhaft hält. Es wird deutlich, dass nach Ansicht der Beklagten im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zu prüfen seien. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass familiäre Bindungen, die einer Abschiebung entgegenstünden, (bereits) bei der Feststellung von Abschiebungsverboten durch das Bundesamt zu berücksichtigen seien, hält die Beklagte für falsch. Bei dieser Ausgangssituation konnte die Beklagte deshalb – statt ihre Auffassung in der Berufungsbegründung nochmals zu wiederholen – auf die vorangegangenen Ausführungen Bezug nehmen, auch wenn es befremdlich erscheint, dass sie zunächst – zu Recht – problematisiert, ob die Prüfung des Kindeswohls bei dem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG einerseits oder bei der Abschiebungsandrohung andererseits zu verorten sei (ZA S. 6), sich dann aber hierzu in der Berufungsbegründung nicht äußert.
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2. Die Berufung ist auch im Hinblick darauf zulässig, dass im ausformulierten Berufungsantrag anders als noch im Antrag auf Zulassung der Berufung keine Beschränkung auf die Klageabweisung hinsichtlich der Feststellung zu nationalen Abschiebungsverboten mehr vorgenommen wird, denn das „Weniger“, die Feststellungen zum Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG, ist von einem weitergehenden Antrag jedenfalls umfasst. Berufungsgegenstand sind allein die Feststellungen zu nationalen Abschiebungsverboten. Das Zulassungsbegehren war auf Zulassung der Berufung gerichtet, soweit „die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 16.09.2022 verpflichtet wird festzustellen, dass für die Kläger zu 2 und 3 ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG besteht“. Dementsprechend wurde weiter beantragt, „die Klage unter Abänderung der Entscheidung hinsichtlich der Feststellung des § 60 Abs. 5 AufenthG abzuweisen“. Insoweit, also bezüglich der Verpflichtung festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, hat der Senat die Berufung zugelassen und insoweit hat die Beklagte die Berufung auch – wie soeben festgestellt – ordnungsgemäß begründet. Selbst wenn der Berufungsantrag die Einschränkung aus dem Zulassungsantrag „hinsichtlich der Feststellung des § 60 Abs. 5 AufenthG“ nicht mehr enthält, ist bei gebotener Auslegung des Begehrens (§ 88 VwGO) jedenfalls beantragt, die Klage insoweit abzuweisen. Damit ist die Berufung im zugelassenen Umfang zulässig geworden.
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Allerdings ist den Klägern zuzustimmen, dass mit dem Berufungsantrag, „das erstinstanzliche Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 09. Mai 2023 (Az.: M 28 K 22.31905) zu ändern und die Klage abzuweisen“, eine Erweiterung des Streitgegenstands vorgenommen worden ist: Im Vergleich mit der Formulierung im Zulassungsantrag „hinsichtlich der Feststellung des § 60 Abs. 5 AufenthG“, die im Berufungsantrag fehlt, kann dieser nur so verstanden werden, dass die Beklagte nun eine vollumfängliche Klageabweisung begehrt, sich also nicht nur gegen die Verpflichtung wendet, hinsichtlich der Kläger unter Aufhebung der Nummer 4 des angefochtenen Bescheids ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, sondern auch gegen die erstinstanzliche Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 5 und 6 des Bescheids). Diese beiden Nummern waren jedoch weder Gegenstand des Zulassungsantrags noch der Zulassung durch den Senat, so dass die Beklagte mit dem Berufungsantrag ihre Berufung darüber hinaus auf Gegenstände erweitert, wegen derer die Berufung nicht zugelassen worden ist und die deshalb schon in Rechtskraft erwachsen sind. Eine solche Erweiterung ist von vornherein ausgeschlossen (Happ in Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 15). Das muss mit einer Verwerfung der Berufung insoweit und der entsprechenden Kostenfolge zu Lasten der Beklagten gehen, zumal sie – worauf bereits hingewiesen wurde – die im Zulassungsantrag problematisierte Frage, ob die Prüfung des Kindeswohls bei dem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG einerseits oder bei der Abschiebungsandrohung andrerseits zu verorten sei (ZA S. 6), in der Berufungsbegründung nicht aufgegriffen hat. Selbst auf das Hinweisschreiben des Senats vom 7. Oktober 2024 hin hat sie die unklaren Anträge nicht präzisiert, sondern nur ausgeführt, dass die Rechtsauffassung des Senats geteilt werde.
II.
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Die Berufung ist im zugelassenen Umfang auch begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Nach der im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) haben die Kläger keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass in ihrem Fall ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei gegeben ist (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Insoweit war das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Mai 2023 abzuändern. Soweit das Bundesamt im Bescheid vom 16. September 2022 die Abschiebung in die Türkei angedroht und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetet hat, verbleibt es bei der auch bezüglich der hiesigen Kläger erfolgten Aufhebung des Bescheids durch das Verwaltungsgericht.
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1. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) hinsichtlich der Türkei liegen nicht vor. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Das ist vorliegend nicht der Fall.
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Ein Verstoß gegen das in Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist nicht gegeben. Zwischen den Beteiligten unstreitig kommt eine Aufenthaltsbeendigung hinsichtlich der Mutter der Kläger aufgrund des insoweit rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts nicht in Betracht. Das führt aber nicht dazu, dass bei den Klägern deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK festzustellen wäre. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – NVwZ 2023, 743) hat das Verwaltungsgericht § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform dahin ausgelegt, dass auch die im Inland bestehenden familiären Beziehungen bereits in der Entscheidung der Beklagten hierüber zu berücksichtigen seien. Eine solche Notwendigkeit lässt sich der genannten Entscheidung jedoch nicht entnehmen.
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Die vom Verwaltungsgericht zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist auf folgende Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – NVwZ-RR 2022, 835) ergangen: „Ist Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil … rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen … auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind?“. Unter „Rückkehrentscheidung“ wird dabei die auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG bzw. § 59 AufenthG zu erlassende Abschiebungsandrohung verstanden (BVerwG a.a.0. juris Rn. 18). Der Europäische Gerichtshof stellt in seiner Antwort klar, dass es nicht genügt, wenn der Minderjährige die geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Vielmehr seien das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen.
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Hieraus ergibt sich, dass sich die Entscheidungen sowohl des Bundesverwaltungsgerichts als auch des Europäischen Gerichtshofs allein auf die Abschiebungsandrohung beziehen. Die Frage eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG war nicht Gegenstand der Vorlagefrage und damit auch nicht Gegenstand der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nur zur Frage eingeholt, ob das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen schon bei der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, oder ob es genügt, wenn dies erst nach Erlass der Abschiebungsandrohung durch eine Aussetzung der Abschiebung erfolgt (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – NVwZ-RR 2022, 835 unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – NVwZ 2020, 158 – juris Rn. 21 und B.v. 10.10.2012 – 10 B 39.12 – InfAuslR 2013, 42 – juris Rn. 4). Grundlage dieser Frage war die zitierte ständige Rechtsprechung zu zielstaats- und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen. Danach ist das Bundesamt auf die Prüfung und Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten beschränkt, die in Gefahren begründet sind, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Die Ausländerbehörde bleibt dem Bundesverwaltungsgericht zufolge demgegenüber für die Durchführung der Abschiebung und dabei auch für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse zuständig. Ausgehend hiervon waren familiäre Bindungen als ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht bei dem – im Asylverfahren in der Zuständigkeit des Bundesamts liegenden – Erlass der Abschiebungsandrohung, sondern bei der – von der Ausländerbehörde zu treffenden – Entscheidung über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) zu beachten. Auf diese Unterscheidung hat sich die Vorlagefrage bezogen und Gegenstand war deshalb allein, ob familiäre Bindungen schon beim Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt zu berücksichtigen sind. Nicht umfasst hingegen und auch nicht Thema der Vorlagefrage war die Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG.
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Damit bedarf es auch keiner unionskonformen Auslegung, wie sie das Verwaltungsgericht vorgenommen hat. Der Europäische Gerichtshof stellt lediglich fest, dass die Interessen des Minderjährigen nicht erst beim Vollzug der Rückkehrentscheidung, also der Abschiebungsandrohung, berücksichtigt werden dürfen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass schon das Bundesamt das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen bei Erlass der Abschiebungsandrohung berücksichtigen muss (so nun auch § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG), und es nicht der Ausländerbehörde überlassen werden darf, gegebenenfalls eine Duldung auszusprechen. Gefordert wird hingegen nicht, dass in solchen Fallkonstellationen im Hinblick auf Art. 8 EMRK zugleich ein Abschiebungsverbot für die Kinder festgestellt werden müsste.
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2. Anhaltspunkte dafür, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aus anderen Gründen zu gewähren wäre, liegen nicht vor.
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a) Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Prüfung der Anforderungen aus § 60 Abs. 5 AufenthG nicht von einer Rückkehr der Kläger alleine auszugehen ist. Vielmehr gilt, dass die unstreitig mit ihnen in Deutschland zusammenlebende Mutter im Rahmen der gebotenen Gefahrenprognose bei Rückkehr ins Heimatland zu berücksichtigen ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 – juris Rn. 15 ff.; siehe auch BayVGH, U.v. 29.10.2020 – 13a B 20.30347 – juris). Dem Bundesverwaltungsgericht zufolge ist für die Prognose, welche Gefahren dem einzelnen Ausländer bei Rückkehr in das Herkunftsland drohen, bei im Bundesgebiet „gelebter“ Kernfamilie nicht die Situation des jeweiligen Ausländers bei individueller Prüfung, sondern allein die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen. Hierbei ist von einer – zwar notwendig hypothetischen, aber doch – realitätsnahen Rückkehrsituation auszugehen. Wenn der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie lebt, ist für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr ist auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestands- bzw. rechtskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder – wie hier für die Mutter der Kläger – ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist.
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b) Eine individuelle Verfolgung für die Kläger persönlich wurde nicht geltend gemacht. Schon in der Anhörung beim Bundesamt am 10. Juni 2022 hat die Mutter der Kläger allein ihre Verfolgung durch ihren geschiedenen Ehemann geschildert. Darüber hinaus hat die Mutter nur vorgetragen, sie wolle, dass ihre Kinder, die Kläger, menschlich leben könnten und eine Zukunft hätten. Sie vertraue dem deutschen Staat, dass er ihr als Mutter für die Kinder helfen könne (Prot. S. 7). Auf Frage, ob die Kinder eigene Gründe vorzutragen hätten, erklärte die Mutter, ihr einziger Wunsch sei, dass ihre Kinder in Sicherheit lebten. Sie wolle auch verhindern, dass ihre Söhne Rauschgift wie ihr Vater nähmen (Prot. S. 8). In der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts am 9. Mai 2023 hat die Mutter ihren Vortrag im Wesentlichen wiederholt und erklärt, die ständige Angst, die sie gehabt habe, der fehlende Schulbesuch und die fehlende Perspektive für ihre Kinder, die Kläger, hätten schließlich zur Ausreise geführt (SP VG S. 6). Auch aus der Berufungserwiderung ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine individuelle Verfolgung der Kläger.
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c) Eine Verletzung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf, ist auch im Hinblick auf die allgemeine Lage in der Türkei nicht ersichtlich.
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aa) Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 – juris Rn. 25). Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2020 – 1 B 39.20 – juris; U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – Asylmagazin 2019, 311 – juris Rn. 12). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung zum inhaltlich Art. 3 EMRK entsprechenden Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 389 – GRCh) darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 12.9.2024 – C-352/23 – juris; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 ff.; vgl. auch BVerwG, U.v. 24.4. 2024 – 1 C 8.23 – juris Rn. 11). In zeitlicher Hinsicht geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass ein schwerwiegender, irreversibler Zustand schnell eintreten müsse (EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 Paposhvili – NVwZ 2017, 1187 Rn. 175 ff.; siehe auch BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – NVwZ 2022, 1561 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342).
31
bb) Gemessen an diesen Grundsätzen nimmt der Senat an, dass eine Abschiebung angesichts der sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse in der Türkei im Allgemeinen keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen würde. Den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln lässt sich eine derartige Gefährdung nicht entnehmen:
32
(1) Nach dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 (Lagebericht) ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet (S. 21). Zwar gebe es keine dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe, aber eine Vielzahl von Einzelhilfen, wenn auch mit niedrigem Leistungsniveau. Personen, die freiwillig in die Türkei zurückkehren, könnten im Rahmen des „REAG/GARP-Rückkehrprogramms“ finanzielle Hilfen erhalten. Zusätzliche Unterstützung biete das Programm „Starthilfe Plus“.
33
(2) Dem Amnesty Report Türkei 2023 vom 24. April 2024 (Amnesty) zufolge (S. 7) sind die Lebenshaltungskosten 2023 immer weiter angestiegen. Es gebe staatliche Unterstützungsprogramme für Familien, die im Juli 2023 von 3,7 Mio. Haushalten, die in Armut lebten, in Anspruch genommen worden seien.
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(3) Die Bertelsmann Stiftung (BTI 2024 Country Report – Türkiye – BTI) führt aus, dass die türkische Wirtschaft fragil sei (S. 4). Positive Entwicklungen seit dem Jahr 2000 hätten dazu geführt, dass die Türkei auf Platz 48 des UNDP 2019 Human Development Index gelangt sei, mit einem Einkommen im oberen Mittelbereich (S. 18). Nach einer relativ stabilen Verbraucherpreisinflation über mehr als ein Jahrzehnt seien seit dem Jahr 2017 ein Anstieg und eine höhere Anfälligkeit zu verzeichnen (S. 29). Das Armutsrisiko sei aufgrund der hohen Inflation in den letzten Jahren gestiegen, wohingegen die Quote der schweren materiellen Verarmung der privaten Haushalte zurückgegangen sei (S. 18). Der Ungleichverteilungskoeffizient (Gini-Index) sei stabil geblieben. Die Einkommensschere zwischen den reichsten und ärmsten Bevölkerungsanteilen sei bezogen auf ganz Europa in der Türkei am höchsten, was insbesondere Kinder ernsthaft bedrohe (S. 19). Der Staat interveniere gezielt in die Preisbildung, vor allem in Schlüsselsektoren, und habe den jährlichen Mietanstieg auf 25% limitiert (S. 21).
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(4) Das Market Bulletin Nr. 31 des World Food Programme – Türkiye vom 3. Quartal 2024 (Market Bulletin Nr. 31) stellt fest, dass der Inflationsrückgang anhalte und von 71,6% im Juni auf 43,72% im September gesunken sei. Im selben Zeitraum habe sich die Rate für Nahrungsmittel von 60,88% auf 43,72% und die Rate für inländische Produkte von 50,1% auf 33,1% verringert. Der Anstieg beim globalen Nahrungsmittel-Index hingegen habe sich gegenüber dem September 2023 fortgesetzt, die Kosten für einen Mindestwarenkorb seien um 63% gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
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(5) Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformation der Staatendokumentation, Türkei, Version 9 vom 18.10.2024, S. 298 ff. – BFA) führt aus, dass Staatspräsident Erdogan nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik vollzogen habe mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. Im Gegensatz zur Version 8 der Länderinformation (v. 7.3.2024) wird jetzt aber explizit darauf hingewiesen, dass die bisherigen Entscheidungen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen ließen (S. 298). Das größte Problem sei die Inflation; sie habe die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Zu den größten Preistreibern zählten derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport. Im Juni 2022 hätten sich 90% der Einwohner in einer Wirtschaftskrise befunden bzw. damit gekämpft, über die Runden zu kommen. 37% hätten angegeben, dass sie nur sehr schwer über die Runden kämen. 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei litten unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate vor der Berichterstellung zusätzlich 410.000 Personen hinzugekommen seien. Die Armutsquote habe 2022 14,4% gegenüber 13,8% im Jahr 2021 erreicht. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) habe im Jahr 2022 28,4% erreicht (2021: 27,2%). Die Kinderarmutsquote sei im Jahr 2022 mit 41,6% besonders hoch gewesen. Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit sei auch 2023 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers weiterhin angestiegen. Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehöre, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergehe. Die Armutsgrenze habe Ende Dezember 2023 den Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes zufolge bei 47.000 Lira gelegen, und die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angebe, der erforderlich sei, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, bei 14.431 Lira im Monat. Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR habe eine weitere Steigerung angegeben, die Hungergrenze liege danach bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira. Die mehrmalige Erhöhung des Mindestlohns könne die Preissteigerungen nicht auffangen. Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund hätten die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern Anfang 2023 im Mittel 25.365 Lira betragen. Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen hätten 2021 lediglich 10,8% des BIP betragen. In vielen Fällen sorgten großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. Allgemein sei die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet.
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(6) Hieran gemessen stehen humanitäre Gründe einer Abschiebung im Allgemeinen nicht zwingend entgegen. Es ist nicht zu erkennen, dass sich Rückkehrer unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden würden. Übereinstimmend wird berichtet, dass zwar viele Haushalte in Armut lebten und die Inflation rasant angestiegen sei, insbesondere für Nahrungsmittel. Allerdings wird ebenso darauf hingewiesen, dass der türkische Staat bei der Problembewältigung nicht untätig sei, sondern in mehrerer Hinsicht Anstrengungen unternehme und Gegenmaßnahmen ergreife. So werde gezielt in die Preisbildung interveniert, vor allem in Schlüsselsektoren. Der jährliche Mietanstieg sei limitiert worden (Amnesty S. 7; BTI S. 21) und oberstes Ziel von Staatspräsident Erdogan sei, die horrende Inflation zu bekämpfen. Die bisherigen Entscheidungen im Rahmen der restriktiven Geldpolitik ließen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen (BFA S. 298). Übereinstimmend hierzu stellt das des World Food Programme (Market Bulletin Nr. 31) fest, dass der Inflationsrückgang anhalte und die Rate erheblich gesunken sei. Weiterhin wird angegeben, dass soziale Hilfen existierten, auch wenn sie nicht das deutsche Niveau erreichten. Angesichts dieser Erkenntnisse und der Angaben der Mutter der Kläger bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte und wurde auch nicht geltend gemacht, dass die Familie bei einer Rückkehr ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen könnte. Insbesondere ist hierbei zu berücksichtigen, dass Maßstab für die Gefahrenprognose grundsätzlich nur ein absehbarer Zeitraum ist, nicht hingegen, ob das Existenzminimum nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – NVwZ 2022, 1561). Darauf, dass zudem etwaige Rückkehrhilfen in die Bewertung einzubeziehen wären, kommt es mithin vorliegend nicht mehr an (siehe hierzu BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – NVwZ 2022, 1561; Bay VGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris).
38
Aus der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ergibt sich kein anderes Bild. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund der (allgemeinen) humanitären Lage in der Türkei wird auch sonst nicht in Erwägung gezogen (vgl. nur VGH BW, U.v. 17.11.2022 – A 13 S 3741/20 – juris Rn. 77: zumutbar, Sozialleistungen oder die Unterstützung seiner Verwandten in Anspruch zu nehmen; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 52 f.).
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cc) Dass den Klägern wegen ihrer persönlichen Umstände im Hinblick auf die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse in der Türkei ausnahmsweise eine unmenschliche Behandlung in diesem Sinn drohen würde (vgl. zum Maßstab: BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 15 ff.), haben diese bzw. ihre Mutter – wie bereits erwähnt – schon selbst nicht geltend gemacht. Eine solche Gefahr im Sinn von Art. 3 EMRK lässt sich auch den Angaben der Mutter nicht entnehmen. Danach lebten in der Türkei ihre Eltern, bei denen sie schon vier Jahre vor der Ausreise gelebt hätten, und mehrere Geschwister (Prot. Anhörung S. 4; SP VG S. 4). Dort könnte die Familie zunächst Zuflucht finden. Die Mutter der Kläger hat weiter erklärt, ihre wirtschaftliche Situation sei durchschnittlich gewesen. Sie habe als Börekmeisterin und Altenbetreuerin gearbeitet und damit die Familie auch in der Zeit unterhalten, als ihr Vater und Bruder inhaftiert gewesen seien. Sie habe arbeiten müssen, um zu überleben (Prot. Anhörung S. 5 f.). Als die Mutter wegen der Angst vor ihrem geschiedenen Mann nicht habe arbeiten können, habe ihr Vater sie und ihre Kinder unterstützt (SP S. 5). Im Berufungsverfahren haben die Kläger keine Gründe vorgetragen, aus denen sich ergäbe, dass sie nach der Rückkehr nicht in gleicher Weise leben könnten. Auch wenn die Mutter der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, die Bäckerei ihres Vaters habe wieder aufgegeben werden müssen, kann sie wie auch vorher als Altenpflegerin arbeiten, zumal sie nach eigenen Angaben in der Bäckerei nur gelegentlich mitgeholfen habe (SP S. 5). Dass die Familie deshalb ernsthaft der Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, ist nicht zu erkennen.
40
3. Schließlich liegen im Fall der Kläger auch die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei nicht vor.
41
Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Ausnahmsweise kann hier Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beansprucht werden, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Eine extreme Gefahrenlage besteht beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 23.10 – NVwZ 2012, 244 – juris Rn. 21 f.; B.v. 14.11.2007 – 10 B 47.07 u.a. – juris Rn. 3).
42
a) Hinsichtlich einer eventuellen individuellen Verfolgung gilt nichts anderes als beim Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Hierzu ist weder von den Klägern Näheres geltend gemacht worden noch eine Verfolgung ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt lediglich verpflichtet festzustellen, dass bei der Mutter der Kläger wegen ihrer psychischen Erkrankung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen. Für die Kläger hingegen wurde hierzu nichts vorgetragen.
43
b) Auch im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat erwarten – insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage – sind die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in analoger Anwendung nicht gegeben. Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel liegen im Fall der Kläger die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch hinsichtlich der humanitären (allgemeinen) Lage nicht vor. Insoweit wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene in § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nicht gegeben sind (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 453).
44
Im Ergebnis haben die Kläger damit keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots, insbesondere nicht nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK.
45
4. Da es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – NVwZ 2023, 743) und nunmehr ausdrücklich gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. geboten ist, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, hat das Verwaltungsgericht die Nummern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Die Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung unter Nummer 5 des Bescheids vom 16. September 2022 und für die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nummer 6 liegen nicht vor. Allerdings ergibt sich das nicht – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – als Konsequenz der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG, § 11 Abs. 7 AufenthG). Vielmehr ist das die Konsequenz aus der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – NVwZ 2023, 743), der die Neuregelung in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG Rechnung getragen hat. Dem Europäischen Gerichtshof zufolge sind das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen. Rückkehrentscheidung in diesem Sinn ist im deutschen Asyl- und Ausländerrecht die auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG bzw. § 59 AufenthG zu erlassende Abschiebungsandrohung (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – NVwZ-RR 2022, 835). Das hat zur Folge, dass das Kindeswohl schon bei Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt beachtet werden muss. Der Gesetzgeber hat hierauf reagiert und nunmehr in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG ausdrücklich vorgeschrieben, dass das Bundesamt die Abschiebungsandrohung erlässt, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen entgegenstehen. Vorliegend wird somit den familiären Bindungen der Kläger durch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung als maßgebliche Rückkehrentscheidung entsprechend der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und der angepassten gesetzlichen Regelung Rechnung getragen. Das war im hier streitgegenständlichen Bescheid vom 16. September 2022 noch nicht geschehen, so dass die Abschiebungsandrohung und in der Folge auch das Einreiseverbot nach § 11 AufenthG die Kläger in ihren Rechten verletzen. Die Aufhebung von Nummer 5 und Nummer 6 des angefochtenen Bescheids durch das Verwaltungsgericht ist somit zu Recht erfolgt.
46
4. Der Berufung war deshalb wie tenoriert stattzugeben.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, Abs. 2 VwGO.
48
Insoweit gilt Folgendes: Bislang hat der Senat in Anlehnung an die Kostenaufteilung, wie sie das Bundesverwaltungsgericht vornimmt (B.v. 29.6.2009 – 10 B 60.08 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2ff AufenthG Nr. 35), nach dem Verhältnis der Streitgegenstände Flüchtlingseigenschaft bzw. Asylanerkennung einerseits und subsidiärer Schutz einschließlich nationalem Schutz andererseits jeweils die Hälfte angesetzt. Dabei blieb die Abschiebungsandrohung als Annex unberücksichtigt. Diese bisherige Rechtsprechung des Senats zur Quotelung kann angesichts der „Aufwertung“ der Abschiebungsandrohung, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und nunmehr in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG zum Ausdruck kommt, nicht aufrechterhalten bleiben. Angesichts der jetzigen Pflicht des Bundesamts zur Prüfung der familiären Bindungen schon bei Erlass der Abschiebungsandrohung ist eine Neubewertung geboten und wird an der bisherigen Rechtsprechung nicht mehr festgehalten. Einerseits sind die nationalen Abschiebungshindernisse geringer zu gewichten als die Ansprüche aus § 3 und § 4 AsylG, denn das Bundesamt entscheidet gemäß § 31 Abs. 3 AsylG über die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 AufenthG nur, wenn ein Asylantrag gestellt ist. Andrerseits ist die Abschiebungsandrohung nicht mehr eine bloße „Annexentscheidung“, sondern sie hat durch die Prüfungspflicht des Bundesamts eine „Aufwertung“ erfahren. Unter Berücksichtigung auch der Abschiebungsandrohung einschließlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird deshalb nunmehr für die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG 1/3, für den subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) 1/3 und für den nationalen Schutz (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 AufenhtG) zusammen ebenfalls 1/3 (also jeweils 1/6) angesetzt.
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Im Berufungsverfahren hat die Beklagte eine vollständige Klageabweisung, also neben der Aufhebung der Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG auch die Aufhebung der Nummern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids (Abschiebungsandrohung und Einreise- und Aufenthaltsverbot) beantragt und damit über den zugelassenen Umfang hinaus einen weiteren Streitgegenstand zur Überprüfung gestellt. Das war bei der Kostenentscheidung des Berufungsverfahrens gemessen an der dargelegten Quotelung mit der Hälfte zu berücksichtigen.
50
Hinsichtlich des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht ergibt sich, dass die dortige Klägerin zu 1 unverändert 1/6, die dortigen Kläger zu 2 und 3 (hier Kläger zu 1 und 2) und die Beklagte je 5/18 zu tragen haben. Hierbei ist berücksichtigt, dass dort die Mutter der Kläger als dritte Klägerin beteiligt war. Insoweit ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig geworden.
51
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
52
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO und § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG sind nicht gegeben.