Inhalt

VGH München, Urteil v. 18.12.2024 – 12 BV 22.2344
Titel:

Anspruch auf Erstattung von Jugendhilfekosten

Normenketten:
SGB VIII § 89e
BGB § 421
Leitsatz:
Führt die Anwendung von § 89e Abs. 1 S. 1 SGB VIII zu zwei gleichermaßen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Jugendhilfeträgern, hat gem. § 89e Abs. 2 SGB VIII der überörtliche Jugendhilfeträger, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte Träger gehört, die Jugendhilfekosten zu erstatten. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schutz der Einrichtungsorte, Auslegungstopoi, Gesamtschuld, jugendhilferechtliche Kostenerstattung, gewöhnlicher Aufenthalt, überörtlicher Jugendhilfeträger, planwidrige Regelungslücke, analoge Normanwendung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 19.10.2022 – Au 3 K 21.1616
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38199

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19. Oktober 2022 (Az.: Au 3 K 21.1616) wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers wie des Beigeladenen durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger bzw. der Beigeladene Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Der Beklagte wendet sich mit seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung gegen die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von 17.824,12 €, die der Kläger für die der Hilfeempfängerin C. N. im Zeitraum zwischen dem 3. Februar 2016 und dem 20. Dezember 2017 gewährte Hilfe zur Erziehung aufgewandt hat.
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1. Die als eheliches Kind am … Juni 2013 geborene C. N. lebte nach der Entlassung aus der Geburtsklinik zunächst mit ihren sorgeberechtigten Eltern in einer Wohnung der Lebenshilfe O. gGmbH. Am 21. Dezember 2015 bewilligte das zuständige Jugendamt des Landkreises O. Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege, woraufhin C. bei einer Pflegefamilie in S. im Zuständigkeitsbereich des Klägers untergebracht wurde. Nachdem C.s Eltern ebenfalls im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers am 3. Februar 2016 ihren gewöhnlichen Aufenthalt wiederum in einer Einrichtung begründet hatten, ging die örtliche Zuständigkeit für Jugendhilfemaßnahmen auf das Jugendamt des Klägers über. Außerhalb geschützter Einrichtungen hatte die Kindsmutter zuletzt bis April 2006 in G. im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen ihren gewöhnlichen Aufenthalt, der Kindsvater zuletzt bis zum 1. Juni 2010 im Zuständigkeitsbereich des Klägers.
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Mit Schreiben vom 23. März 2018 beanspruchte der Kläger vom Beklagten als überörtlichem Jugendhilfeträger Kostenerstattung nach § 89e Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für die für C. erbrachten Jugendhilfeleistungen. Der Beklagte lehnte die Kostenerstattung indes mit Schriftsatz vom 6. Juni 2018 ab. Eine Erstattungspflicht bestehe nach § 89e Abs. 2 SGB VIII nur dann, wenn kein örtlicher Jugendhilfeträger nach § 89e Abs. 1 SGB VIII aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts eines Elternteils kostenerstattungspflichtig sei, sondern stattdessen vor der ersten Einrichtungsaufnahme nur ein tatsächlicher Aufenthalt der nach § 89e Abs. 1 SGB VIII maßgebenden Person vorgelegen habe. Der Kläger werde daher bezüglich der Kostenerstattung an das Kreisjugendamt des Beigeladenen verwiesen.
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Der daraufhin auf hälftige Kostenerstattung vom Kläger in Anspruch genommene Beigeladene lehnte mit Schreiben vom 1. April 2020 die Kostenerstattung ebenfalls ab. Aus einer hierfür in Bezug genommenen Stellungnahme des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales vom 1. April 2020 ergibt sich, dass der Kommunalverband als überörtlicher Jugendhilfeträger bis 2. Februar 2016 dem bis dahin zuständigen Landkreis seinerseits Kostenerstattung geleistet hatte. Da das Achte Buch Sozialgesetzbuch in seinen Regelungen keine zwei erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger nebeneinander kenne und eine hälftige Quotelung des Erstattungsanspruchs gesetzlich nicht vorgesehen sei, fehle es an einem nach § 89e Abs. 1 SGB VIII (allein) erstattungspflichtigen örtlichen Jugendhilfeträger, sodass § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Anwendung komme. Mithin sei im vorliegenden Fall nicht der Beigeladene, sondern der Beklagte als überörtlicher Jugendhilfeträger dem Kläger erstattungspflichtig.
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Der in der Folge vom Kläger gegenüber dem Beklagten geäußerten Bitte, seine bisherige Rechtsauffassung zu überdenken, kam dieser nicht nach und lehnte mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 die Leistung von Kostenerstattung erneut ab. Die vorliegende Fallkonstellation zeige eine Regelungslücke im Kostenerstattungsrecht auf, die durch eine analoge Anwendung der gesetzlichen Regelung der örtlichen Zuständigkeit bei Eltern mit verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten nach § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII zu schließen sei. Danach sei dem Kläger der zuvor zuständige Landkreis zur Kostenerstattung verpflichtet.
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2. Die daraufhin zunächst zum Sozialgericht Augsburg erhobene und anschließend an das Verwaltungsgericht Augsburg verwiesene Klage hatte in vollem Umfang Erfolg. Mit Urteil vom 19. Oktober 2022 verpflichtete das Verwaltungsgericht den Beklagten, dem Kläger Kostenerstattung in Höhe von 17.842,12 € für gegenüber C. N. erbrachte Jugendhilfeleistungen zu leisten.
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Die zulässige Klage sei begründet. § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sehe zum Schutz der Einrichtungsorte einen Kostenerstattungsanspruch vor. Richte sich die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung einer Jugendhilfeleistung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern und sei dieser in einer Einrichtung begründet worden, so sei derjenige örtliche Träger zur Kostenerstattung verpflichtet, in dessen räumlichen Zuständigkeitsbereich die maßgebliche Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte. Gem. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII richte sich demnach die örtliche Zuständigkeit des Klägers im Zeitraum zwischen dem 2. Februar 2016 und dem 20. Dezember 2017 nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern ebenfalls im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Beide Elternteile seien im maßgeblichen Zeitraum in einer Einrichtung im Sinne von § 89e SGB VIII untergebracht gewesen. Demzufolge kämen für die Kostenerstattung nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zwei potentielle Kostenschuldner in Betracht, nachdem die Eltern von C., die beide gleichermaßen für die örtliche Zuständigkeit maßgeblich seien, vor ihrer Aufnahme in eine Einrichtung jeweils unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte besessen hätten. Dies führe dazu, dass in dieser Konstellation nach § 89e Abs. 2 SGB VIII der Beklagte als überörtlicher Jugendhilfeträger zur Kostenerstattung herangezogen werden müsse.
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Nach überwiegender Ansicht in Literatur und Rechtsprechung bestehe im Falle zweier potentiell nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erstattungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger eine Regelungslücke, da sich aus § 89e Abs. 1 Satz 1 nicht eindeutig ergebe, wen die Kostenerstattungspflicht schlussendlich treffe. Soweit von Teilen der Rechtsprechung vertreten werde, in dieser Fallkonstellation § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII analog anzuwenden, führe dies im vorliegenden Fall nicht zu einer eindeutigen Bestimmung eines Erstattungspflichtigen, nachdem beide Elternteile personensorgeberechtigt seien und C. als Hilfeempfängerin erst nach der Aufnahme ihrer Eltern in eine Einrichtung geboren wurde. Die gleichfalls vertretene Auffassung, die Kosten analog den Regelungen zur Gesamtschuld nach §§ 426 ff. BGB aufzuteilen, sei abzulehnen. Als vorzugswürdig erweise sich demgegenüber der Lösungsansatz, den überörtlichen Jugendhilfeträger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Kostenerstattung heranzuziehen. Die Konstellation zweier an sich nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger werde vom Wortlaut des § 89e Abs. 2 SGB VIII erfasst, da die Norm darauf abstelle, dass „ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger“ nicht vorhanden sei. Der Gesetzgeber normiere gerade nicht, dass „kein“ kostenerstattungspflichtiger Träger vorhanden sein dürfe, um die Erstattungspflicht des überörtlichen Jugendhilfeträgers auszulösen. Darüber hinaus erweise sich die Heranziehung von § 89e Abs. 2 SGB VIII im vorliegenden Fall als systemgerecht. Das Jugendhilferecht nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch kenne grundsätzlich keine nebeneinander bestehende Erstattungspflicht zweier Jugendhilfeträger. Eine Kostenteilung erweise sich folglich als systemfremd. Demgegenüber könne die Übertragung der gesamten Kostenlast auf den überörtlichen Jugendhilfeträger nicht als „ungerecht“ angesehen werden. So sehe bei nach dem Leistungsbeginn begründeten unterschiedlichen gewöhnlichen Aufenthalten der Elternteile die Zuständigkeitsregelung in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII keine Aufspaltung der örtlichen Zuständigkeit vor, sondern lasse die bisherige Zuständigkeit und damit zugleich die Kostentragungspflicht beim örtlichen Jugendhilfeträger bestehen, selbst wenn keiner der Elternteile in dessen Zuständigkeitsbereich mehr seinen gewöhnlichen Aufenthalt besitzt. Ferner finde nach § 89e Abs. 2 SGB VIII der gewöhnliche Aufenthalt der Elternteile dadurch Berücksichtigung, dass derjenige überörtliche Träger zur Kostentragung verpflichtet werde, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte Träger gehöre. Folglich treffe zum Schutz des zuständigen örtlichen Trägers denjenigen überörtlichen Träger die Kostenerstattungspflicht, in dessen Bereich die Eltern der Hilfebedürftigen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten. Die Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII auf die vorliegende Fallkonstellation stehe auch nicht im Gegensatz zur Gesetzesbegründung, wonach § 89e Abs. 2 SGB VIII eine subsidiäre Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Trägers begründe und dem Schutz der Einrichtungsorte diene. § 89e Abs. 2 SGB VIII werde hier erst angewandt, nachdem aufgrund der vorhandenen Regelungslücke ein primär Kostenerstattungspflichtiger nach § 89e Abs. 1 SGB VIII nicht identifiziert werden konnte und sich auch durch die analoge Heranziehung von § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII kein primär Kostenerstattungspflichtiger ermitteln lässt. Schließlich wahre die Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Jugendhilfeträgers den Zweck der Regelung des § 89e SGB VIII, da sie den Schutz der Einrichtungsorte gewährleiste.
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3. Gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung wendet sich nunmehr der Beklagte mit seiner vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Berufung.
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Seiner Ansicht greife die vom Verwaltungsgericht für die Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII gegebene Begründung nicht durch. Soweit es sich in Rn. 32 seines Urteils auf eine Entscheidung des OVG Koblenz (U.v. 2.6.2005 – 12 A 10328/05 – BeckRS 2005, 28415) beziehe, übersehe es, dass das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil lediglich festgestellt habe, dass ein Kostenerstattungsanspruch nach § 89e Abs. 1 SGB VIII gegen einen örtlichen Jugendhilfeträger nicht bestehe, wenn nur ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einer Einrichtung im Bereich dieses Trägers, der andere Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer Einrichtung im Bereich dieses Trägers begründet habe. Ausdrücklich offengelassen habe das Oberverwaltungsgericht die Frage, wer im Falle eines gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern im Bereich zweier verschiedener Jugendhilfeträger kostenerstattungspflichtig sei. Es sei insoweit kein Grund ersichtlich, dass nur einer der in Betracht kommenden örtlichen Jugendhilfeträger zur Erstattung der gesamten Kosten verpflichtet sei. § 89e Abs. 1 SGB VIII sehe keine hälftige Kostenerstattung der in Frage kommenden Träger vor. Jedenfalls stelle die Kostenerstattung durch den überörtlichen Träger nicht die gegenüber einer hälftigen Kostenteilung vorzugswürdige Lösung dar.
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Ferner werde in der Jugendhilfe bei der Kostenerstattung in den §§ 89 ff. SGB VIII trennscharf zwischen horizontaler und vertikaler Kostenerstattung unterschieden. Horizontale Kostenerstattung bezeichne den Kostenausgleich zwischen mehreren örtlichen Jugendhilfeträgern, während vertikale Kostenerstattung den Kostenerstattungsanspruch zwischen örtlichem und überörtlichem Träger meine. Nach Auffassung des Bayerischen Landesjugendamts greife die vertikale Kostenerstattung nur in den Fällen ein, in denen die örtliche Zuständigkeit an den tatsächlichen Aufenthalt anknüpfen müsse, weil ein gewöhnlicher Aufenthalt fehle. Die vorliegende Fallkonstellation bewege sich indes im Bereich der horizontalen Kostenerstattung, da vor Aufnahme in eine Einrichtung beide Elternteile über einen gewöhnlichen Aufenthalt verfügt hätten, dieser jedoch im Bereich zweier verschiedener Jugendhilfeträger begründet worden sei. Eine Lösung der vorliegenden, im Gesetz nicht geregelten Fallkonstellation könne daher nicht dadurch erfolgen, dass man eine horizontale Kostenerstattung in eine vertikale Kostenerstattung durch den überörtlichen Träger der Jugendhilfe umdeute. Eine derartige Umdeutung erweise sich als weitaus systemfremder als eine horizontale Kostenerstattung, die mangels eindeutiger gesetzlicher Regelung von zwei verschiedenen örtlichen Trägern der Jugendhilfe zu leisten sei.
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In diesem Zusammenhang werde ferner auf das OVG Lüneburg (U.v. 20.8.2008 – 4 LB 28/06 = BeckRS 2008, 38782) verwiesen, das in seiner Entscheidung darauf abstelle, dass bei vorhandenen gewöhnlichen Aufenthalten der sorgeberechtigten Eltern eine Kostenerstattung durch den überörtlichen Jugendhilfeträger nach § 89e Abs. 1, 2 SGB VIII ausscheide. § 89e Abs. 2 SGB VIII erfasse nur den Fall, dass kein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger vorhanden sei, nicht hingegen denjenigen, bei dem zwei örtliche Jugendhilfeträger in Anspruch genommen werden könnten.
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Soweit das Verwaltungsgericht in seiner Urteilsbegründung auf die Zuständigkeitsregelung in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII hinweise, überzeuge dieser Ansatz ebenfalls nicht, da es sich bei der genannten Norm nicht um eine Kostenerstattungsregelung handle.
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Im Übrigen komme § 89e SGB VIII seit dem Inkrafttreten des 1. SGB VIII-Änderungsgesetzes mit Wirkung vom 1. April 1993 zur Anwendung. Hätte der Gesetzgeber die Regelung für unzureichend gehalten, hätte er diese seit mittlerweile fast 30 Jahren ändern können. Da er dies nicht getan habe, sei es der Judikative verwehrt, eine unzureichende Lösung des Gesetzgebers durch Ausfüllen einer Regelungslücke nachträglich zu korrigieren. Eine derartige Verpflichtung würde schließlich auch dem in der Gesetzesbegründung postulierten Grundsatz, wonach eine Kostenerstattung durch den überörtlichen Jugendhilfeträger nur subsidiär in Betracht komme, widersprechen.
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Schließlich erweise sich eine Quotelung von Sozialleistungen in diversen Bereich des Sozialgesetzbuchs nicht als unüblich. So sehe § 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch bei Kostenersatzforderungen eine Quotelung des Anspruchs vor, wenn mehrere Sozialhilfeträger Kostenersatzansprüche gegen Erben erheben würden. Unter Bezugnahme auf verschiedene Auffassungen in der Kommentarliteratur (Loos in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89e Rn. 8 ebenso wie die Vorauflagen; Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89e Rn. 10 Fn. 29 ebenso wie die Vorauflagen; DIJuF-Gutachten JAmt 2008, 205) ergebe sich für die vorliegende Fallkonstellation, dass die beiden nach § 89e Abs. 1 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichteten örtlichen Jugendhilfeträger in entsprechender Anwendung der §§ 426 ff. BGB die Kosten gesamtschuldnerisch jeweils zur Hälfte tragen müssten. Da der Vater von C. seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in eine Einrichtung zuletzt im Bereich des Klägers gehabt habe, bestünde vorliegend zu dessen Gunsten lediglich ein hälftiger Kostenerstattungsanspruch gegen den Beigeladenen.
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Der Beklagte beantragt daher:
I.
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Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19.10.2022 wird aufgehoben.
II.
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Die Klage vom 26.03.2021 wird, soweit sie sich gegen den Beklagten und Berufungskläger richtet, abgewiesen.
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Demgegenüber beantragt der Kläger,
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die Berufung des Beklagten und Berufungsklägers vom 04.11.2022, Az. 2426-138934-NOGG1206201300, gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19.10.2022, Az. Au 3 K 21.1616, zurückzuweisen.
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Er schließt sich vollumfänglich den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils an. Der Beklagte sei als überörtlicher Jugendhilfeträger zur Kostenerstattung verpflichtet, da das Kinder- und Jugendhilferecht keine zwei Erstattungsträger nebeneinander kenne und auch keine Halbierung der aufgewandten Kosten vorsehe. Die vertikalen Erstattungsvorschriften der §§ 89, 89a Abs. 2, 89b Abs. 2 und 89c Abs. 3 SGB VIII gingen von maximal einem erstattungspflichtigen örtlichen Träger aus, da sich dessen Erstattungspflicht allein aus seiner originären Zuständigkeit nach § 86 SGB VIII ergäbe. Das Achte Buch Sozialgesetzbuch sehe für die Erbringung von Jugendhilfeleistungen auch keine zwei gleichzeitig zuständigen Träger vor. Von allen vertikalen Erstattungsvorschriften stelle allein § 89 SGB VIII explizit auf einen tatsächlichen Aufenthalt ab, der die Zuständigkeit des erstattungsberechtigten örtlichen Jugendhilfeträgers auslöse. Demgegenüber fordere § 89e Abs. 2 SGB VIII nicht ausdrücklich das Vorliegen eines tatsächlichen Aufenthalts für das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs gegenüber dem überörtlichen Jugendhilfeträger.
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4. Der Beigeladene stellt keinen Antrag. Er verteidigt das angefochtene Urteil und stimmt der Rechtsauffassung des Klägers in vollem Umfang zu.
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6. Mit Schriftsätzen vom 5. März 2024, 12. März 2024 und 25. März 2024 haben die Verfahrensbeteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat kann vorliegend nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da alle Verfahrensbeteiligten hierauf verzichtet haben.
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Die zulässige Berufung erweist sich als unbegründet, da das Verwaltungsgericht dem Kläger zu Recht einen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten zuerkannt hat. Er erfüllt die Voraussetzungen des § 89e Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB VIII (1.). Entgegen der Auffassung des Beklagten liegt bei der vorliegenden Fallkonstellation in § 89e SGB VIII keine planwidrige Regelungslücke vor, die im Wege der analogen Anwendung der Regelungen über die Gesamtschuld, insb. § 426 BGB, zu schließen wäre (2.).
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1. Nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für den Fall, dass sich die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern des Hilfeempfängers richtet und dieser in einer Einrichtung, einer Familie oder in einer sonstigen Wohnform begründet worden ist, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, derjenige örtliche Jugendhilfeträger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung, eine andere Familie oder sonstige Wohnform ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. In der vorliegenden Fallkonstellation richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Klägers für die Erbringung von Jugendhilfeleistungen an C. N. gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB nach dem gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der sorgeberechtigten Eltern der Hilfeempfängerin, der während des maßgeblichen Zeitraums der Hilfegewährung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers lag. Beide Elternteile haben diesen gewöhnlichen Aufenthalt unstrittig in einer Einrichtung begründet, die der Erziehung, Pflege, Betreuung oder Behandlung dient, sodass § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dem Kläger einen Kostenerstattungsanspruch gegen denjenigen örtlichen Jugendhilfeträger zubilligt, in dessen Bereich „die Person“ vor der Aufnahme in die Einrichtung, Familie oder sonstige Wohnform ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte (zur sprachlichen Ungenauigkeit bei der Anknüpfung an „die Person“ bei zwei geleichermaßen sorgeberechtigten Elternteilen vgl. BVerwG, B.v. 29.9.2006 – 5 B 8.06 – BeckRS 2006, 26694; ferner Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 8. Aufl. 2022, § 89e Rn. 10; DIJuF Rechtsgutachten JAmt 2008, 205 II.). Nachdem Mutter und Vater von C. N. vor ihrer (langjährigen und ununterbrochenen) Einrichtungsaufnahme unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte besessen hatten, ergäbe sich im vorliegenden Fall bezogen auf die Mutter von C. ein Kostenerstattungsanspruch gegen den Beigeladenen, hinsichtlich des Vaters von C. würde es bei der Kostentragungslast des Klägers bleiben.
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In dieser Situation, in der die Anwendung von § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu zwei gleichermaßen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Jugendhilfeträgern führt, greift nach Auffassung des Senats § 89e Abs. 2 SGB VIII ein, wonach der überörtliche Jugendhilfeträger, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte Träger gehört, die Jugendhilfekosten zu erstatten hat, da „ein einzelner“ kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden ist (so auch Reisch in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 3. Aufl. Stand April 2014, § 89e Rn. 30). Das Verwaltungsgericht ist insoweit zutreffend von der Kostenerstattungspflicht des Beklagten als überörtlichem Jugendhilfeträger ausgegangen.
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2. Entgegen der Auffassung des Beklagten führt die Anwendung der klassischen Auslegungstopoi im vorliegenden Fall nicht zur Annahme einer planwidrigen Regelungslücke im jugendhilferechtlichen Erstattungsrecht, die durch die analoge Anwendung anderer Rechtsnormen (zu den Voraussetzungen der Analogie vgl. allgemein Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 191 ff.; Konzak, Analogie im Verwaltungsrecht, NVwZ 1997, 872), insbesondere der zivilrechtlichen Regelungen der Gesamtschuld in §§ 421 ff. BGB, zu schließen wäre (demgegenüber postulieren das Vorliegen einer Regelungslücke, die durch eine analoge Rechtsanwendung zu schließen wäre OVG Lüneburg, U.v. 20.8.2008 – 4 LB 28/06 – BeckRS 2008, 38728; OVG Münster, B.v. 29.6.2005- 12 A 3191/04 – BeckRS 2005, 28868; DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2021, 28: Kostenteilung als angeblich „gerechteste“ Alternative; DIJuF Rechtsgutachten JAmt 2008, 205, das zwar die Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII grundsätzlich für möglich hält, was aber mit „Sinn und Zweck“ der Norm nicht vereinbar sein soll).
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2.1 Die grammatikalische Auslegung von § 89e Abs. 2 SGB VIII lässt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, keine erstattungsrechtliche Regelungslücke entstehen. Denn der Wortlaut der Norm „Ist ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden“ lässt sich nach dem Wortsinn so verstehen, dass die Kostenerstattungspflicht auch dann eintritt, wenn „ein einzelner“ kostenerstattungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger nicht vorhanden ist, also auch den vorliegenden Fall mit zwei gleichermaßen erstattungspflichtigen örtlichen Trägern umfasst. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht in diesem Kontext darauf hin, dass der Gesetzgeber gerade nicht das Fehlen eines erstattungspflichtigen örtlichen Jugendhilfeträgers zur Tatbestandsvoraussetzung für die Erstattungspflicht des überörtlichen Trägers gemacht hat, was man ohne Weiteres durch die Formulierung „Ist kein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger vorhanden“ hätte zum Ausdruck bringen können (zur bewussten Wortwahl des Gesetzgebers im vorliegenden Regelungskontext vgl. die Gesetzesbegründung im Hinblick auf die Erfassung einer Kette der Einrichtungsorte durch die Formulierung „eine Einrichtung“ in BR-Drucks. 203/92, S. 69).
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2.2 Die historische Auslegung führt entgegen der Auffassung des Beklagten ebenfalls nicht zur Annahme einer planwidrigen Regelungslücke, zu deren Ausfüllung analog die Regelungen über die Gesamtschuld heranzuziehen wären.
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Einen spezifischen (finanziellen) Schutz der Einrichtungsorte kannte die Ursprungsfassung des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (Artikel 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts [Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG] vom 26.6.1990, BGBl. I S.1163 ff.) nicht. Als Kostenerstattungsregelung sah § 97 Abs. 2 SGB VIII a.F. vor, dass das Landesjugendamt oder die nach Landesrecht zuständige Behörde dem Jugendamt die Kosten zu erstatten hatte, die dieses auf Grund von § 85 Abs. 2 und 3 SGB VIII a. F. für den Aufenthalt in Vollzeitpflege, einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform oder für eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, die mit einer Unterbringung verbunden ist, deshalb aufgewendet hat, weil der Hilfeempfänger keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte oder ein solcher nicht zu ermitteln war (vgl. hierzu und zur vorherigen Rechtslage nach § 83 JWG in Verbindung mit § 103 BSHG Reisch in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht Stand 1/2006 § 89e SGB VIII Geltung, Entstehung, Veränderung, Materialien Rn. 2). Erst durch das Erste Gesetz zur Änderung des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (vom 16.2.1993, BGBl I, S. 239 ff.) wurde die Erstattungsregelung zum „Schutz der Einrichtungsorte“ in § 89e SGB VIII eingefügt. Nach der Gesetzesbegründung (BR-Drucks. 203/92 S. 68 f.) knüpft die örtliche Zuständigkeit auch für den Fall, dass der gewöhnliche Aufenthalt der in Betracht kommenden Person in einer Einrichtung bzw. sonstigen Wohnform begründet worden sei, aus fachlichen Gesichtspunkten (schneller Kontakt mit Eltern bzw. dem Kind/Jugendlichen) bei dem örtlichen Jugendhilfeträger an, in dessen Bereich die Einrichtung oder sonstige Wohnform gelegen sei. „Um jedoch auch in diesen Fällen eine überproportionale finanzielle Belastung der kommunalen Gebietskörperschaften zu vermeiden, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, sieht die Vorschrift eine Verpflichtung zur Kostenerstattung durch den örtlichen Träger vor, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung den gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Durch die Formulierung ‚eine Einrichtung‘ [seien] auch vorangehende Einrichtungsorte geschützt.“ Bezüglich der vorliegend streitgegenständlichen Norm des § 89e Abs. 2 SGB VIII führt die Gesetzesbegründung lediglich aus, Absatz 2 begründe „eine subsidiäre Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Trägers“. Mit Ausnahme der Ergänzung von § 89e Abs. 1 Satz 2 SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (vom 8.9.2005 BGBl I S. 2729 – KICK) ist die Norm, insbesondere § 89e Abs. 2 SGB VIII, bis heute unverändert geblieben. Selbst in Ansehung des Umstands, dass in der Rechtsprechung wiederholt normative Regelungslücken mit Blick auf den Schutz der Einrichtungsorte in § 89e SGB VIII reklamiert worden sind, hat der Gesetzgeber offensichtlich keinen Anlass gesehen, die Norm zu ergänzen. Dies spricht jedenfalls indiziell dafür, dass der Gesetzgeber seine Regelung für erschöpfend und ausreichend hält. Folglich lässt sich gerade aus der Normhistorie kein Anhaltspunkt für die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke ableiten.
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Soweit der Beklagte in diesem Kontext geltend macht, dass § 89e SGB VIII seit dem 1. April 1993 zur Anwendung komme und der Gesetzgeber, hielte er diese Regelung für unzureichend, mehr als dreißig Jahre Zeit besessen hätte, sie zu ändern, entspricht dies der zuvor aufgezeigten Gesetzgebungshistorie. Nicht zu folgen ist dem Beklagten in seiner Schlussfolgerung, dass das „Schweigen“ des Gesetzgebers es der Judikative verwehre, eine unzureichende Lösung des Gesetzgebers nachträglich zu korrigieren. Dabei übersieht der Beklagte, dass es – gemessen an der Normhistorie – bereits an einer Regelungslücke fehlt und das Verwaltungsgericht, wie oben aufgezeigt, mit seiner am Wortlaut orientierten Auslegung lediglich den gegebenen Sachverhalt unter den Normtext subsumiert. Als nicht nachvollziehbar erweist sich in diesem Zusammenhang der weitere Hinweis, dass die Normauslegung durch das Verwaltungsgericht der in der Gesetzesbegründung angesprochenen subsidiären Kostenhaftung des überörtlichen Jugendhilfeträgers widerspreche. In der Gewähr eines Kostenerstattungsanspruchs gegen den Beklagten aktualisiert sich vielmehr die angesprochene Subsidiarität, indem sie, da sich kein einzelner zur Kostenerstattung verpflichteter örtlicher Jugendhilfeträger finden lässt, einen Erstattungsanspruch gegen den überörtlichen Jugendhilfeträger zubilligt.
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2.3. Auch die systematische Auslegung der maßgeblichen Kostenerstattungsregelungen führt nicht zur Annahme einer planwidrigen Regelungslücke.
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2.3.1 Zwar knüpft das Kostenerstattungsregime der §§ 89 ff. SGB VIII vom Grundsatz her die Kostentragungspflicht des überörtlichen Jugendhilfeträgers an das Fehlen eines gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern des Kindes oder Jugendlichen, mithin an die Ableitung der Zuständigkeit des örtlichen Jugendhilfeträgers aus dem tatsächlichen Aufenthalt entweder der Eltern oder des Kindes oder Jugendlichen. Dementsprechend verpflichtet § 89 SGB VIII den überörtlichen Jugendhilfeträger zur Kostenerstattung gegenüber dem leistenden örtlichen Träger, wenn „für die örtliche Zuständigkeit nach den §§ 86, 86a oder 86b der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich ist“. In gleicher Weise knüpft jedenfalls im Ergebnis § 89c Abs. 3 SGB VIII trotz der offenen Formulierung („Ist ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden, […]“) über § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII und § 86d SGB VIII ebenfalls an den tatsächlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen an (vgl. hierzu etwa Winkler BeckOK Sozialrecht, Stand 1.9.2024, § 89c SGB VIII Rn. 4). Demgegenüber erfasst die Regelung des § 89b Abs. 2 SGB VIII auch Fallgestaltungen, in denen ein (zuständigkeitsbegründender) gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar ist, etwa in den Fällen einer Inobhutnahme eines Säuglings im Anschluss an eine anonyme Geburt (so BayVGH, U.v. 9.6.2005 – 12 BV 03.1971 – BayVGHE 58, 165 = BeckRS 2008, 26211: „Ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger ist daher auch dann im Sinne des § 89b Abs. 2 SGB VIII ‚nicht vorhanden‘, wenn er nicht ermittelbar ist.“).
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Soweit der Beklagte zur Begründung seiner Berufung daher auf eine „Systematik“ des Kostenerstattungsrechts verweist, die streng zwischen vertikaler und horizontaler Kostenerstattung unterscheidet, und die Fallgruppe der vertikalen Kostenerstattung ausschließlich in den Fällen vorsehen soll, in denen mangels eines gewöhnlichen Aufenthalts die Zuständigkeit des örtlichen Jugendhilfeträgers (lediglich) an einen tatsächlichen Aufenthalt anknüpft (in diesem Sinne argumentieren etwa Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 8. Aufl. 2022, § 89e Rn. 14), trifft dies nicht zu. Es ist demnach auch nicht im Sinne einer im Rahmen der Kostenerstattung obwaltenden Systematik nachzuvollziehen, wenn das Bayerische Landesjugendamt im Rahmen seines Internetauftritts (https://www.blja.bayern.de/finanzen/kosten/erstattung/index.php) eine vertikale Kostenerstattung nur in den Fällen für gegeben erachtet, „in denen die örtliche Zuständigkeit an den tatsächlichen Aufenthalt anknüpfen muss, weil ein gewöhnlicher Aufenthalt fehlt“ und hierunter den Tatbestand des § 89e Abs. 2 SGB VIII subsumiert.
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Angesichts des Regelungskontextes der §§ 89 ff. SGB VIII lässt sich daher eine Einstandspflicht des überörtlichen Jugendhilfeträgers neben den Fällen eines fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts – und damit der Zuständigkeitsanknüpfung an den tatsächlichen Aufenthalt – vielmehr auch für die Fälle annehmen, in denen zwar ein gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern oder des Kindes bzw. Jugendlichen vorliegt, sich aber gleichwohl nicht eindeutig ergibt, welcher öffentlich-rechtliche Träger kostenerstattungspflichtig ist bzw. falls sich überhaupt kein erstattungspflichtiger öffentlich-rechtlicher Träger ermitteln lässt (so Reisch in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl. Stand April 2014, § 89e Rn. 29, der diese Auslegung als „systemgerecht“ versteht und sie auch durch die historische Auslegung bestätigt sieht; vgl. ferner Winkler in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.9.2024, § 89e SGB VIII Rn. 11: fehlende Erstattungspflicht eines örtlichen Trägers liegt „vor allem“ dann vor, wenn die betroffene Person unmittelbar vor Einrichtungsaufnahme keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; ähnlich Streichsbier in jurisPK SGB VIII, Stand 6.7.2023, § 89e Rn. 16; a.A. OVG Lüneburg, U.v. 20.8.2008 – 4 LB 28/06 – BeckRS 2008, 38728). Gemessen hieran liegt in der Regelung des § 89e Abs. 2 SGB VIII auch bei systematischer Betrachtungsweise keine planwidrige Regelungslücke, da sie systemisch auch Fallkonstellationen erfasst, bei denen sich ein kostentragungspflichtiger örtlicher Jugendhilfeträger trotz feststehenden gewöhnlichen Aufenthalts der Kindseltern nicht konkret ermitteln lässt, weil hierfür zwei gleichermaßen verpflichtete Jugendhilfeträger in Betracht kämen.
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2.3.2 Hinzu kommt, dass unter systematischen Gesichtspunkten die zur Ausfüllung der mutmaßlichen planwidrigen Regelungslücke auf das Kostenerstattungsrecht heranzuziehende Regelung über die Gesamtschuld nach Maßgabe der §§ 421 ff. BGB, insb. eine Kostenteilung nach § 426 BGB analog, dem Jugendhilferecht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, fremd ist. Das Achte Buch Sozialgesetzbuch kennt insoweit weder mehrere, gleichermaßen für einen Jugendhilfefall zuständige und damit auch gleichermaßen kostenverantwortliche Jugendhilfeträger (vgl. hierzu VGH Mannheim, U.v. 16.2.2011 – 12 S 1608/08 – BeckRS 2011, 49088 Rn. 40) noch eine daran anknüpfende Quotelung von Kostenerstattungsansprüchen, wie sie in Anlehnung an die Gesamtschuld gem. § 426 BGB zum Teil als Lösung für die vorliegende Fallkonstellation vorgeschlagen wird.
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Soweit der Beklagte im Rahmen der Berufungsbegründung diesbezüglich auf die Regelung des § 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hinweist, der im Falle der Miterbschaft einen gesamtschuldnerischen Kostenerstattungsanspruch des Leistungsträgers vorsieht, kann er damit die Möglichkeit eines gesamtschuldnerisch gegen mehrere örtliche Jugendhilfeträger gerichteten Kostenerstattungsanspruchs im Jugendhilferecht nicht belegen. § 102 SGB XII regelt im Sozialhilferecht einen Kostenerstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen den oder die Erben eines Leistungsberechtigten oder seines Ehegatten für in der Vergangenheit erbrachte Sozialhilfeleistungen. Diese Rückgriffsregelung soll verhindern, dass sich der Schutz des Schonvermögens eines Leistungsberechtigten im Erbfall auch auf den oder die Erben des Leistungsempfängers erstreckt. Im Erbfall kommt daher dem Sozialleistungsträger die Möglichkeit zu, Kostenerstattung für erbrachte Leistungen auch aus vererbtem Schonvermögen zu verlangen. Dass insoweit die Regelungen der Gesamtschuld greifen, liegt an der zivilrechtlichen Ausgestaltung der Miterbschaft und der daran anknüpfenden gesamtschuldnerischen Haftung. Rückschlüsse auf jugendhilferechtliche Kostenerstattungsansprüche lassen sich daraus nicht ziehen.
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2.4 Auch die teleologische Auslegung von § 89e SGB VIII führt nicht zur Annahme einer Regelungslücke im jugendhilferechtlichen Kostenerstattungsrecht (vgl. hierzu DIJuF Rechtsgutachten JAmt 2008, wonach die Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII zwar möglich, jedoch mit „Sinn und Zweck“ der Norm nicht vereinbar sein soll). Denn die Zielrichtung der Norm lässt sich ausgehend von den Gesetzgebungsmaterialien und dem systematischen Zusammenhang präzise dahingehend bestimmen, dass sie dem finanziellen Schutz der Einrichtungsorte dient, indem sie – anknüpfend an den Aufenthalt in einer Einrichtung – dem örtlich zuständigen Jugendhilfeträger einen Kostenerstattungsanspruch gewährt, ihm es demzufolge ermöglicht, die mit der Erbringung von Jugendhilfeleistungen verbundene Kostentragungslast auf einen anderen Jugendhilfeträger abzuwälzen. Dieser Zielsetzung wird die Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII in der vorliegenden Fallkonstellation, bei der mehrere Jugendhilfeträger als kostentragungspflichtig in Betracht kommen, auch dadurch gerecht, dass sie einen Kostenerstattungsanspruch gegen den überörtlichen Jugendhilfeträger gewährt und damit den leistenden Jugendhilfeträger finanziell entlastet. Auch unter teleologischen Gesichtspunkten ist daher keine (planwidrige) Regelungslücke erkennbar, die durch die analoge Anwendung einer gesamtschuldnerischen Haftung mehrerer Jungendhilfeträger geschlossen werden müsste.
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Wollte man dem Kostenerstattungsregime des Achten Buchs Sozialgesetzbuch den Telos einer – wie auch immer zu definierenden – „gerechten“ Verteilung von Jugendhilfekosten zuschreiben und die schlussendliche Kostentragungspflicht bei demjenigen Jugendhilfeträger ansiedeln, der dem Jugendhilfefall „am nähesten“ steht, würde dies bei der vorliegenden Fallkonstellation zu keinem anderen Ergebnis führen (anders DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2021, 28 ff; die die Kostenteilung als angeblich „gerechteste“ Problemlösung betrachten; zu den angeblichen „Gerechtigkeitsvorstellungen“ des Kostenerstattungsrechts vgl. auch DIJuF Rechtsgutachten JAmt 2008, 205 sub III.). Denn diese ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sich der dem Fall „am nähesten stehende“ Jugendhilfeträger nicht identifizieren lässt. Zugleich besitzt der überörtliche Jugendhilfeträger, hier der Bezirk, ebenfalls einen zumindest räumlichen Bezug zu dem Jugendhilfefall, für den er finanziell haften soll. Schließlich kennt das Jugendhilferecht, worauf der Kläger zutreffend hinweist, im Bereich der statischen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 SGB VIII eine örtliche Zuständigkeit – und damit zugleich Kostentragungspflicht – für Jugendhilfefälle, zu denen der örtliche Jugendhilfeträger überhaupt keinen aktuellen räumlichen Bezug mehr besitzt. Dass in der vorliegenden Konstellation die Kostentragungslast beim subsidiär heranzuziehenden überörtlichen Jugendhilfeträger angesiedelt wird, ist daher auch nicht als „ungerecht“ und dem Normzweck widersprechend anzusehen.
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Mithin führt auch die teleologische Auslegung von § 89e SGB VIII nicht zur Identifikation einer planwidrigen Regelungslücke im jugendhilferechtlichen Kostenerstattungsregime, die durch eine analoge Anwendung der §§ 421 ff. BGB zu schließen wäre. Die Berufung des Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen waren nach § 162 Abs. 3 VwGO dem Beklagten aufzuerlegen, da der Beigeladene durch seinen Sachvortrag das Verfahren wesentlich gefördert hat (vgl. Wysk in Wysk, VwGO, 4. Aufl. 2025, § 162 Rn. 69). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708, 711 ZPO.
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4. Die Revision wird vorliegend nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angesichts divergierender obergerichtlicher Rechtsprechung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.