Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines Fahreignungsgutachtens (psychische Erkrankung) - Anfechtungsklage - Berufungsurteil
Normenketten:
StVG § 2 Abs. 12 S. 1, § 3 Abs. 1
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 7, Abs. 8 S. 1, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 7
Leitsätze:
1. Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen für eine Beibringungsanordnung ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Es genügt ein "Anfangsverdacht" im Sinne zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte. Nicht erforderlich ist, dass eine solche Erkrankung oder ein solcher Mangel bereits feststeht. Allerdings darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht "ins Blaue hinein" bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. VGH München BeckRS 2019, 2255 Rn. 15 und BeckRS 2019, 7170 Rn. 18, jeweils mwN). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Liegt ein Anfangsverdacht vor, sind die Hinweise jedoch vage und ist unklar, welche Erkrankung vorliegen könnte, kann es aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten sein, dass die Behörde zur Vorbereitung der Entscheidung über die Gutachtensanordnung Vorermittlungen anstellt und den Betroffenen ersucht, ärztliche Unterlagen vorzulegen oder bei der Fahrerlaubnisbehörde vorzusprechen (vgl. VGH München BeckRS 2024, 28729 Rn. 21 mwN). Die Auskünfte des Betroffenen und der behandelnden Ärzte dienen dann als Grundlage für die Entscheidung über den Erlass einer Gutachtensanordnung (vgl. VGH München BeckRS 2020, 26736 Rn. 21 mwN). Kommt der Betroffene dem Ersuchen nicht nach und sind die Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft, kann ihn die Behörde zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens auffordern. (Rn. 18 und 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Mitteilungen der Polizei nach § 2 Abs. 12 StVG und sonstige polizeiliche Schilderungen sind grundsätzlich berücksichtigungsfähig, wenn sie Anhaltspunkte für Fahreignungszweifel des Betroffenen enthalten und nicht durch substantiierte Einwände erschüttert werden oder sonst der weiteren Klärung bedürfen. Beobachtungen eines Polizeibediensteten bei Kontakt mit der betreffenden Person können hierfür durchaus relevant sein und ausreichen, selbst wenn die schriftliche Ereignismeldung subjektive Eindrücke und Wertungen des Verfassers wiedergibt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zwar sind § 11 Abs. 7 und Abs. 8 S. 1 FeV als Rechtsgrundlagen bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich austauschbar, weil sie keine Ermessensvorschriften, sondern zwingendes Recht sind (VGH München BeckRS 2024, 13854 Rn. 23 mwN). Allerdings ist Abs. 7 nur anwendbar, wenn ausreichend belastbare Tatsachen für eine feststehende Fahrungeeignetheit vorliegen, wie etwa für eine psychische (geistige) Störung iSv Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Anfangsverdacht für eine psychische Erkrankung aufgrund einer polizeilichen Ereignismeldung, Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens ohne Vorermittlungen, Ermessensausübung bei der Gutachterauswahl, hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne eines „Anfangsverdachts“, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gebotene Vorermittlungen, Grundlage für Gutachtensanordnung, polizeiliche Ereignismeldung, Austausch der Rechtsgrundlagen, zwingendes Recht, feststehende Fahrungeeignetheit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 15.01.2024 – RN 8 K 22.1587
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38193
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2021, der Widerspruchsbescheid de Regierung von Niederbayern vom 10. Mai 2022 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 15. Januar 2024 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis.
2
Die Klägerin war seit 16. September 1981 Inhaberin der Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt). Am 25. März 2020 erhielt das zu diesem Zeitpunkt zuständige Landratsamt ... Kenntnis von einer polizeilichen Ereignismeldung, wonach die Klägerin am 11. März 2020 ihren Sohn und eine Amtsärztin wegen Hausfriedensbruchs angezeigt habe. Die Amtsärztin habe aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Bamberg ein medizinisches Gutachten erstellen sollen. Die Klägerin sei bei der Anzeigenerstattung stark verwirrt und uneinsichtig gewesen, habe von einem Komplott ihrer Angehörigen, des Landratsamts, der Polizei und der Justiz gegen sie gesprochen und keinen chronologischen Ablauf der vermeintlichen Tatbegehung wiedergeben können. Es habe insgesamt den Anschein gemacht, dass sie unter Wahnvorstellungen leide.
3
Das Landratsamt forderte die Klägerin mit Schreiben vom 31. März 2020 auf, zur Klärung ihrer Fahreignung im Hinblick auf eine psychische Erkrankung bis zum 14. Juli 2020 ein Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen.
4
Das durch Umzug zuständig gewordene Landratsamt ... forderte die Klägerin mit Schreiben vom 11. und 20. August 2020 zur Übersendung eines ärztlichen Attests bis 25. August 2020 auf und hörte sie, nachdem eine Reaktion ausgeblieben war, mit Schreiben vom 21. Januar 2021 zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Per E-Mail vom 25. Februar 2021 teilte die Klägerin mit, sie habe das Schreiben vom 21. Januar 2021 erst am 24. Februar 2021 erhalten. Dieses sei „das erste Schreiben“, das sie „in Angelegenheit – Führerscheinstelle“ erhalten habe. Mit Schreiben vom 26. und 27. Februar 2021 übersandte sie ein für das Sozialgericht Bayreuth erstelltes ärztliches Gutachten vom 13. Dezember 2018, eine hierzu vorliegende psychiatrische Stellungnahme vom 11. Februar 2020, zwei anwaltliche Stellungnahmen sowie ein ärztliches Attest vom 9. Februar 2017.
5
Die durch nochmaligen Umzug der Klägerin zuständig gewordene Beklagte entzog ihr nach Anhörung mit Bescheid vom 7. Mai 2021 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete sie zur Vorlage des Führerscheins. Da sie sich keiner Begutachtung unterzogen habe, sei daraus auf ihre Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
6
Hiergegen ließ die Klägerin Widerspruch einlegen, den die Regierung von Niederbayern mit Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 2022 zurückwies.
7
Am 10. Juni 2022 ließ die Klägerin beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage einreichen mit dem Antrag, den Bescheid der Beklagten und den Widerspruchsbescheid der Regierung von Niederbayern aufzuheben. Mit Urteil vom 15. Januar 2024 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens und die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen unterbliebener Vorlage des Gutachtens seien rechtmäßig. Es hätten ausreichende Hinweise auf Fahreignungsmängel vorgelegen. Eine Anhörung der Klägerin vor Erlass der Gutachtensanordnung sei nicht erforderlich gewesen.
8
Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung lässt die Klägerin ausführen, eine Untersuchungsanordnung aufgrund bloßen Verdachts ohne belegte Tatsachen sei rechtswidrig. Sie sei zwar aufgrund der Fülle an Krankheitsbildern des Verdauungstrakts gesundheitlich schwer angeschlagen, im Straßenverkehr aber nie auffällig geworden und habe keinerlei Unfälle zu verantworten. Die Mitteilung der Polizei vom 13. März 2020 und die Aussagen der Klägerin in diesem Zusammenhang lieferten keine ausreichenden Hinweise für eine psychische (geistige) Störung. Die Fahrerlaubnisbehörde habe den Sachverhalt unzureichend ermittelt. Im Vorfeld der Gutachtensanordnung hätte sie weitere Nachforschungen tätigen müsse, um eine fachlich spezifische und detaillierte Tatsachenlage zu schaffen. Die Erregung der Klägerin bei ihrer Anzeigenerstattung dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen. Laienhafte Ausdrücke und Adaptionen eines einzelnen Polizeibeamten ohne fachliche Kenntnisse dürften nicht Grundlage einer behördlichen Entscheidung mit Anordnungscharakter sein. Das die Klägerin betreffende Betreuungsverfahren sei bereits vor Erlass des Bescheids eingestellt worden.
9
Die Klägerin beantragt,
10
das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 15. Januar 2024, den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2021 und den Widerspruchsbescheid der Regierung von Niederbayern vom 10. Mai 2022 aufzuheben.
11
Die Beklagte beantragt,
12
die Berufung zurückzuweisen.
13
Hinsichtlich der Eignungszweifel komme hier eine psychische (geistige) Störung im Sinne von Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV in Betracht. In der Gesamtschau, in die auch der Eindruck eines medizinischen Laien, insbesondere polizeiliche Schilderungen, sowie Äußerungen des Betroffenen im Verfahren einfließen könnten, sei die Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens rechtmäßig. Die Hinweise der Polizei seien äußerst spezifisch. Die Klägerin habe mehrfach zum Ausdruck gebracht, sich nicht untersuchen lassen zu wollen. Zielführende weitere Nachforschungen seien daher nicht denkbar.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
15
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Die Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens und die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung des Gutachtens sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2021, der Widerspruchsbescheid der Regierung von Niederbayern vom 10. Mai 2022 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 15. Januar 2024 sind daher aufzuheben.
16
1. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Fahrerlaubnisentziehung kommt es auf die Sach- und Rechtslage bei Erlass der letzten Behördenentscheidung an (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, B.v. 14.6.2024 – 3 B 11.23 – ZfSch 2024, 533 Rn. 5 m.w.N.). Maßgeblicher Zeitpunkt ist hier somit der Erlass des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2022.
17
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers oder -inhabers begründen, insbesondere bei Hinweisen auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach der Anlage 4 oder 5 zur FeV. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf die Fahrerlaubnisbehörde nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung schließen. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist, was nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt ihres Ergehens zu beurteilen ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 14, 19). Da die Anordnung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens nicht isoliert anfechtbar ist, stellt die Rechtsprechung an sie strenge Anforderungen, die im Falle einer Folgemaßnahme (hier die Entziehung der Fahrerlaubnis) inzident zu prüfen sind.
18
Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen für eine Beibringungsanordnung ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BayVGH, B.v. 10.4.2019 – 11 CS 18.2334 – juris Rn. 18). Es genügt ein „Anfangsverdacht“ im Sinne zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – juris Rn. 22; U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 11 C 18.1532 – juris Rn. 15). Nicht erforderlich ist, dass eine solche Erkrankung oder ein solcher Mangel bereits feststeht. Allerdings darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 a.a.O. Rn. 26; BayVGH, B.v. 10.4.2019 a.a.O. Rn. 18). Liegt ein Anfangsverdacht vor, sind die Hinweise jedoch vage und ist unklar, welche Erkrankung vorliegen könnte, kann die Behörde unter Umständen gehalten sein, zur Vorbereitung der Entscheidung über die Gutachtensanordnung Vorermittlungen anzustellen und den Betroffenen ersuchen, ärztliche Unterlagen vorzulegen oder bei der Fahrerlaubnisbehörde vorzusprechen (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2024 – 11 CS 24.1216 – juris Rn. 21; B.v. 23.2.2023 – 11 CS 22.2649 – juris Rn. 19; B.v. 7.2.2022 – 11 CS 21.2385 – juris Rn. 18; B.v. 23.11.2020 – 11 CS 20.1780 – juris Rn. 21; B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – juris Rn. 22 f.; B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 16 ff.). Eine derartige Vorabklärung hat dabei nichts damit zu tun, dass der das Fahreignungsgutachten erstellende Arzt nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein soll (§ 11 Abs. 2 Satz 5 FeV). Denn die Auskünfte des Betroffenen und der behandelnden Ärzte stellen keine gutachterliche Beurteilung dar, sondern sind nur Grundlage für die Entscheidung, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer in § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV genannten Stelle notwendig ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris Rn. 21; B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1809 – juris Rn. 13; B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 19 ff.). Kommt der Betroffene dem Ersuchen nicht nach und sind die Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft, kann ihn die Behörde zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens auffordern.
19
b) Aus der polizeilichen Ereignismeldung vom 13. März 2020 ergab sich auch ohne Auffälligkeit der Klägerin im Straßenverkehr ein hinreichender Anfangsverdacht für fahrerlaubnisrechtliche Maßnahmen. Nach § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG hat die Polizei Informationen über Tatsachen, die auf nicht nur vorübergehende Mängel hinsichtlich der Eignung oder auf Mängel hinsichtlich der Befähigung einer Person zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen lassen, den Fahrerlaubnisbehörden zu übermitteln, soweit dies aus der Sicht der übermittelnden Stelle für die Überprüfung der Eignung oder Befähigung erforderlich ist. Mitteilungen der Polizei nach § 2 Abs. 12 StVG und sonstige polizeiliche Schilderungen sind grundsätzlich berücksichtigungsfähig, wenn sie Anhaltspunkte für Fahreignungszweifel des Betroffenen enthalten und nicht durch substantiierte Einwände erschüttert werden oder sonst der weiteren Klärung bedürfen. Nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV können psychische (geistige) Störungen, zu denen auch affektive Psychosen zählen (vgl. Nr. 7.5), unter bestimmten Voraussetzungen zur Fahrungeeignetheit führen. Dies abzuklären und zu beurteilen ist Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, ggf. nach Einholung eines vom Betroffenen beizubringenden Gutachtens. Beobachtungen eines Polizeibediensteten bei Kontakt mit der betreffenden Person – etwa wie hier bei der Vorsprache zur Erstattung einer Strafanzeige – können hierfür durchaus relevant sein und ausreichen. Dies gilt auch dann, wenn die schriftliche Ereignismeldung subjektive Eindrücke und Wertungen des Verfassers wiedergibt und wie hier die Klägerin als „stark verwirrt“ bezeichnet und zusammenfassend festhält, es habe den Anschein gemacht, sie leide unter Wahnvorstellungen. Wie bereits ausgeführt muss der Wahrnehmung auch kein Verhalten des Betroffenen im Straßenverkehr zugrunde liegen. Sollten der Fahrerlaubnisbehörde die Angaben zu wenig konkret sein oder sonst nicht ausreichen, kann sie bei der meldenden Stelle oder Person nachfragen.
20
Das zum damaligen Zeitpunkt zuständige Landratsamt ... hat die Klägerin vor Erlass der sehr allgemein auf eine psychische Erkrankung bezogenen Beibringungsanordnung vom 31. März 2020 weder angehört noch zur Vorsprache und/oder Vorlage ärztlicher Unterlagen aufgefordert. Dies wäre allerdings unter den gegebenen Umständen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten gewesen, um zu versuchen, nach der polizeilichen Mitteilung nähere Erkenntnisse über etwaige fahreignungsrelevante Erkrankungen zu erlangen und den Untersuchungsgegenstand, der anlassbezogen sein muss, möglichst weit eingrenzen zu können (vgl. BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16.14 – BayVBl 2015, 421 Rn. 9). Ein solcher Versuch war hier, wie die Reaktion der Klägerin auf die spätere Aufforderung des Landratsamts ... zur Übersendung eines ärztlichen Attests gezeigt hat, auch nicht von vornherein aussichtslos. Vielmehr war die Klägerin nicht unkooperativ, sondern durchaus bereit, an der Klärung der Fahreignungszweifel mitzuwirken, und hat nach Erhalt der Aufforderung ein ärztliches Gutachten vom 13. Dezember 2018, eine psychiatrische Stellungnahme vom 11. Februar 2020 und ein ärztliches Attest vom 9. Februar 2017 vorgelegt. Allerdings haben weder das Landratsamt ... noch die Beklagte vor Erlass des Bescheids diese Unterlagen zum Anlass genommen, die Beibringungsanordnung zu konkretisieren oder – was nahe gelegen hätte – nochmals aktuellere ärztliche Befunde anzufordern. Auch im Widerspruchsverfahren wurden keine weiteren Aufklärungsversuche unternommen.
21
c) Die Entziehung der Fahrerlaubnis kann auch nicht alternativ auf § 11 Abs. 7 FeV gestützt werden, wonach die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens unterbleibt, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht. Zwar ist ein solcher Austausch der Rechtsgrundlagen grundsätzlich möglich. § 11 Abs. 7 und Abs. 8 Satz 1 FeV sind keine Ermessensvorschriften, sondern zwingendes Recht und daher bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen austauschbar (BayVGH, B.v. 5.6.2024 – 11 CS 24.324 – juris Rn. 23; B.v. 21.1.2019 – 11 ZB 18.2066 – juris Rn. 18; B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 25; B.v. 27.2.2017 – 11 CS 16.2316 – juris Rn. 28). Allerdings lagen hier zu keinem Zeitpunkt ausreichend belastbare Tatsachen für eine feststehende Fahrungeeignetheit der Klägerin wegen einer psychischen (geistigen) Störung i.S.v. Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV vor. Erkrankungen nach Nr. 7.1, 7.2, 7.3, 7.4 oder 7.6 der Anlage 4 zur FeV werden in keinem der vorgelegten Arztberichte diagnostiziert. Eine sehr schwere Depression (vgl. Nr. 7.5 der Anlage 4 zur FeV) wird ebenfalls nicht beschrieben. Vielmehr berichtet das für ein sozialgerichtliches Verfahren erstellte und von der Klägerin vorgelegte Gutachten vom 13. Dezember 2018 aufgrund von Vorbefunden von einer rezidivierenden depressiven Störung. Die Klägerin sei „zum Untersuchungszeitpunkt nicht tiefgreifend depressiv verstimmt“ und es sei eine „gewisse Besserung und Stabilisierung festzustellen“. Denk- oder Gedächtnisstörungen seien nicht nachweislich. Zwar ist die Aufstellung der in Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV genannten Krankheitsbilder nicht abschließend, weshalb auch andere, dort nicht genannte psychische Störungen fahreignungsrelevant sein können (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2024 – 11 C 23.2067 – juris Rn. 20 sowie B.v. 5.1.2022 – 11 CS 21.2692 – juris für Borderline-Persönlichkeitsstörungen). Für das Feststehen einer solchen psychischen Störung ist jedoch ebenfalls nichts ersichtlich.
22
d) Im Übrigen enthält die Beibringungsanordnung keine hinreichenden Ermessenserwägungen zur Gutachterauswahl. Das Landratsamt hat die Klägerin zur Vorlage des Gutachtens eines Arztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung verpflichtet (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV) und dies damit begründet, der Fahrerlaubnisbehörde sei die Auswahlmöglichkeit eingeräumt und sie habe sich für einen Arzt der Begutachtungsstelle für Fahreignung entschieden. Diese Begründung ist für die Gutachterauswahl keinesfalls ausreichend, zumal die Begutachtungen affektiver Psychosen nach Nr. 3.12.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind, nur durch einen Facharzt für Psychiatrie durchgeführt werden können, der jedoch in den Begutachtungsstellen für Fahreignung häufig nicht zur Verfügung steht (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 19.12.2022 – 11 B 22.632 – juris Rn. 26 ff.).
23
2. Für das weitere Vorgehen weist der Senat darauf hin, dass die zuständige Fahrerlaubnisbehörde grundsätzlich berechtigt ist, die Fahreignung der Klägerin im Blick zu behalten, und somit ggf. wieder in eine Eignungsprüfung eintreten kann. Allerdings setzt dies voraus, dass der Behörde neue konkrete Tatsachen bekannt werden, die unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse nachvollziehbar für einen Eignungsmangel sprechen. Aus dem Verhalten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 16. Dezember 2024 ergeben sich solche Anhaltspunkte jedenfalls nicht.
24
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
25
4. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.