Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 23.12.2024 – 204 StObWs 446/24
Titel:

Rechtsweg bei einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bedienstete einer Justizvollzugsanstalt

Normenketten:
StVollzG § 108, § 109, § 115
BayStVollzG § 115
VwGO § 40
EGGVG § 23
Leitsätze:
1. Zur Auslegung von Anträgen auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff. StVollzG. (Rn. 19 – 21)
2. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bedienstete einer Justizvollzugsanstalt stellt im Gegensatz zu einer Sachaufsichtsbeschwerde nach Art. 115 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG keine Maßnahme auf dem Gebiet des Strafvollzugs dar, sondern eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, für die die Verwaltungsgerichte zuständig sind. (Rn. 5 – 32)
Schlagworte:
Strafvollzug, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Auslegung, Dienstaufsichtsbeschwere, Sachaufsichtsbeschwerde, Rechtsweg, Verwaltungsgericht
Vorinstanz:
LG Landshut, Beschluss vom 29.07.2024 – 3 StVK 547/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 38006

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen S. K. wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts L. vom 29. Juli 2024 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Der Gegenstandwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 500 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Strafgefangene S. K. befand sich vom 09.08.2021 bis zum 24.08.2021 zum Vollzug von Untersuchungshaft und vom 25.08.2021 bis zum 06.10.2021 zum Vollzug von Strafhaft in der JVA L.
2
Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 23.09.2021 trug er vor, dass er „aufgrund der in hiesiger Verwahreinrichtung grassierenden Inkompetenz“ in Vergangenheit eine Vielzahl von Dienst- und Sachaufsichtsbeschwerden im Sinne des § 108 StVollzG habe einreichen müssen, wobei er ein Recht auf Verbescheidung in angemessener Frist – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 14 Tage – habe, die mittlerweile trotz mehrmaliger Erinnerung deutlich überzogen worden sei. Er listete sodann 11 Dienstaufsichtsbeschwerden auf, von denen die ersten neun zwischen dem 15.08.2021 und dem 24.08.2021 erhoben wurden und die beiden weiteren vom 01.09.2021 und vom 03.09.2021 datieren.
3
Er beantragte festzustellen, dass die Verweigerung der JVA L., die genannten Beschwerden unter Ziffer 01 bis 11 zu verbescheiden, den Antragsteller in seinen Rechten verletze, und die JVA L. zu verpflichten, die gelisteten Beschwerden zu verbescheiden.
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Am 06.10.2021 wurde der Strafgefangene in die Justizvollzugsanstalt X. verlegt.
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Mit zahlreiche Verfahren betreffendem Sammelschreiben vom 01.10.2021 (am Ende) teilte der Antragsteller mit, im Falle einer Verlegung an den jeweils in den Anträgen formulierten Feststellungsklagen festzuhalten. Dies wiederholte er im Schreiben vom 05.10.2021 im Hinblick auf die am 06.10.2021 anstehende Verlegung.
6
Mit Schreiben 08.10.2021 teilte die Justizvollzugsanstalt L. mit, dass mit Verlegung des Strafgefangenen in die Justizvollzugsanstalt JVA X. Erledigung eingetreten sei und aus hiesiger Sicht weder ein berechtigtes Feststellungsinteresse gegeben sei noch Wiederholungsgefahr und Rehabilitationsinteresse ersichtlich seien.
7
Mit Verfügung vom 03.07.2023 bat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts L. das Landgericht – allgemeine Strafkammer – A. um Übernahme des Verfahrens, da sich der Verurteilte vom 18.08.2018 bis 25.08.2021 für das dortige Verfahren 14 KLs 302 Js 137364/18 in Untersuchungshaft befunden habe, der Antrag vom 23.09.2021 die Untersuchungshaft betreffe und die Strafvollstreckungskammer deshalb nicht zuständig sei. Das Landgericht A. leitete die Akten zurück, mit der Anregung, das Verfahren hinsichtlich der Dienstaufsichtsbeschwerden vom 01.09. und 03.09.2021 abzutrennen und in eigener Zuständigkeit zu erledigen, da diese nicht in laufender Untersuchungshaft angebracht worden seien.
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Mit Schreiben vom 07.07.2023 teilte die Antragsgegnerin unter anderem mit, dass die Dienstaufsichtsbeschwerden vom 01.09.2021 und vom 03.09.2021 am 23.11.2021 und am 24.11.2021 verbeschieden worden seien und dies dem Antragsteller in der JVA X. am 02.12.2021 eröffnet worden sei. Damit sei Erledigung eingetreten. Ein Feststellungsinteresse liege nicht vor, da dem Sachbearbeiter der jeweiligen Dienst- und Sachaufsichtsbeschwerden eine angemessene Frist zustehe, das jeweilige Beschwerdeverfahren zu bearbeiten und eine Entscheidung darüber zu treffen. Diese verlängere sich, je umfangreicher sich der zu erforschende Sachverhalt darstelle bzw. je größer das Beschwerdeaufkommen sei, das seitens des Antragstellers im Vergleich zu seinen Mitgefangenen deutlich ausgeprägter sei.
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Sie beantragte, den Antrag des Strafgefangenen als unzulässig, jedenfalls aber unbegründet zurückzuweisen.
10
Dieses Schreiben ist dem Antragsteller nach Aktenlage nicht zur Kenntnis- und Stellungnahme zugeleitet worden.
11
Mit Verfügung vom 16.05.2024 wies die Strafvollstreckungskammer den Strafgefangenen darauf hin, dass nach ihrer Ansicht durch die Verlegung des Strafgefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt (aktuell in die Justizvollzugsanstalt S.) im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand Erledigung eingetreten sei.
12
Mit Schreiben vom 27.05.2024 erklärte der Strafgefangene die Erledigung und stellte gleichzeitig Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit im Hinblick auf ein bestehendes Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen der Absicht, Amtshaftungs- und Schadensersatzansprüche zu bestreiten. Zudem bestehe die konkret gegebene Wiederholungsgefahr.
13
Mit Beschluss vom 29.07.2024 entschied die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts L., dass der Antrag in der Hauptsache erledigt und eine Kostenentscheidung nicht veranlasst sei. Zur Begründung führte sie aus, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung durch die Verbescheidung der Beschwerden in der Hauptsache erledigt sei. Dies gelte auch für den Feststellungsantrag, da die gelisteten Beschwerden in angemessener Zeit, insbesondere in Anbetracht der Vielzahl der Beschwerden des Antragstellers, verbeschieden worden seien. In der Folge seien weder ein Rehabilitationsinteresse noch Wiederholungsgefahr noch Anhaltspunkte für Amtshaftungsansprüche ersichtlich.
14
Gegen diesen ihm am 16.08.2024 zugestellten Beschluss hat der Strafgefangene zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts S. am 26.08.2024 Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Rüge der Verletzung materiellen und formellen Rechts erhebt und die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Entscheidung gemäß seinen Anträgen, hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht L. zu erneuten Entscheidung beantragt. Zur Begründung führt er aus, dass er eine ihn begünstigende Maßnahme beantragt habe, bei der durch eine Verlegung in der Regel keine Erledigung eingetreten sei, und dass die Amtsaufklärungspflicht ganz erheblich verletzt sei, da sein Feststellungsantrag nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Es habe keine Prüfung des Sachverhalts stattgefunden.
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Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragt mit Schreiben vom 09.09.2024, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
16
Eine Stellungnahme hierzu seitens des Strafgefangenen erfolgte nicht mehr.
II.
17
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie wurde gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 118 StVollzG form- und fristgerecht eingelegt. Auch sind die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG gegeben, da die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist.
III.
18
Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts L. vom 29.07.2024 den Strafgefangenen in seinen Rechten verletzt. Der Beschluss ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen (§ 119 Abs. 4 Satz 1 und 3 StVollzG). Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat mangels Spruchreife nicht möglich (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).
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1. Der Strafgefangene hatte mit Schreiben vom 23.09.2021 einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verweigerung der Justizvollzugsanstalt L., die genannten Beschwerden zu verbescheiden, und einen Antrag auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Verbescheidung dieser Beschwerden ohne weiteren Verzug gestellt. Im Rahmen einer sachgerechten Auslegung handelt es sich dabei um einen einheitlichen Antrag auf Verbescheidung der Beschwerden, da es dem Strafgefangenen erkennbar um die zeitnahe Verbescheidung geht. Hierfür spricht auch, dass der Strafgefangene in seinem Schreiben vom 23.09.2021 keinerlei Ausführungen zu einer Weigerung der Justizvollzugsanstalt und einem bestehenden Feststellungsinteresse macht, sondern sich auf ein Recht auf Verbescheidung in angemessener Frist beruft, die trotz mehrfacher Erinnerung deutlich überzogen sei.
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Mit Schreiben vom 27.05.2024 hatte der Strafgefangene sodann die Erledigung erklärt und gleichzeitig den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit im Sinne des § 115 Abs. 3 StVollzG gestellt, mit der Folge, dass nach einem von Amts wegen zu prüfenden Eintritt der Erledigung (st. Rspr., vgl. BayObLG, Beschluss vom 27.01.2021 – 204 StObWs 378/20 –, FS 2021, 218, juris Rn. 22 m.w.N.) hinsichtlich des Verpflichtungsantrags nur noch dieser Fortsetzungsfeststellungsantrag Verfahrensgegenstand ist. Die Gerichte sind insoweit verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und auslegungsfähige Anträge nicht daran scheitern zu lassen, dass die Rechtslage unübersichtlich ist, und die Anträge sachdienlich auszulegen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 04.01.2021 – 2 BvR 673/20 –, juris Rn. 26). Nach den vom Beschwerdeführer nicht konkret angegriffenen Feststellungen der Strafvollstreckungskammer im Beschluss vom 29.07.2024 sind sämtliche Dienstaufsichtsbeschwerden des Antragstellers zwischen dem 09.09.2021 und dem 24.11.2021 von der Justizvollzugsanstalt L. verbeschieden worden, so dass die Strafvollstreckungskammer – ihre Zuständigkeit unterstellt – zutreffend von der Erledigung des zunächst gestellten Verpflichtungsantrags ausgeht. Diese Feststellungen beruhen zwar auf dem Vorbringen der Antragsgegnerin im Schreiben vom 07.07.2023, das dem Antragsteller nicht übermittelt worden ist. Eine Rüge der Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) hat der Antragsteller aber in der Beschwerdebegründung nicht erhoben.
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Aus seinem Schreiben vom 27.05.2024 ergibt sich aber, dass der Antragsteller nicht lediglich die Feststellung der Erledigung mit einer entsprechenden Kostenentscheidung begehrte, sondern gleichzeitig mit der Erledigungserklärung einen Fortsetzungsfeststellungsantrag gestellt hat, der sich auch nicht durch die Verlegung in eine andere Haftanstalt erledigt hat. Dieser bezieht sich auf die vom Antragsteller erhobene Beanstandung, die Antragsgegnerin habe nicht in angemessener Frist über die Dienstaufsichtsbeschwerden entschieden. Über diesen Fortsetzungsfeststellungsantrag hat die Strafvollstreckungskammer mit ihrer verfahrensabschließenden Entscheidung, wie der Blick auf den Entscheidungssatz des angegriffenen Beschlusses zeigt, mit dem lediglich die Erledigung festgestellt worden ist, nicht entschieden und dadurch den Rechtsschutz des Beschwerdeführers verkürzt. Der Umstand, dass in Ziffer II. der Gründe ein Satz mit pauschalen Ausführungen zum Feststellungsinteresse enthalten ist, ändert hieran nichts. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
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2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
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a) Zunächst wird die Strafvollstreckungskammer aufzuklären haben, ob es sich bei den im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 23.09.2021 aufgelisteten Beschwerden, zu deren Inhalt das Antragsschreiben keine Ausführungen enthält, wie vom Antragsteller bezeichnet, um Dienstaufsichtsbeschwerden handelt. Dafür würde sprechen, dass der Antragsteller im Antragsschreiben generell zwischen Dienstaufsichtsbeschwerden und Sachaufsichtsbeschwerden unterscheidet und die Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vom 07.07.2023 von einer Verbescheidung von Dienstaufsichtsbeschwerden spricht.
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Die Dienstaufsichtsbeschwerde richtet sich gegen das persönliche Verhalten des Bediensteten und wendet sich an den Dienstvorgesetzten (in der Regel an den Anstaltsleiter). Beantragt der Antragsteller hingegen die sachliche Überprüfung einer Maßnahme, handelt es sich nicht um eine Dienstaufsichtsbeschwerde, sondern um eine sich gegen die Sachentscheidung der Vollzugsbehörde in der Regel an die vorgesetzte Behörde richtende Sachaufsichtsbeschwerde gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG (BayObLG, Beschluss vom 24.11.2020 – 204 VAs 180/20 –, juris Rn. 12; Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG Vor § 108 Rn. 3; Nestler, in: Laubenthal/Nestler/ Neubacher/Verrel/Baier, StVollzG, 13. Aufl. 2024, Kap. P Rn. 10; Laubenthal in: Schwind/Böhm/ Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl. 2020, 12. Kap. Abschn. A Rn. 9).
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b) Soweit der Antrag vom 23.09.2021 sich auf Dienstaufsichtsbeschwerden bezieht, sind die Verwaltungsgerichte zuständig.
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aa) Der Streit um die Verbescheidung einer Aufsichtsbeschwerde durch die angegangene Behörde stellt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar (BVerwG, Urteil vom 28.11.1975 – VII C 53.73 –, NJW 1976, 637, juris Rn. 15; BayVGH, Beschluss vom 12.4.1999 – 5 A 99.48, juris Rn. 7). Demgemäß kann der Anspruch auf Verbescheidung einer Dienstaufsichtsbeschwerde grundsätzlich im Verwaltungsrechtsweg nach §§ 40 ff. VwGO durchgesetzt werden (vgl. – zur Petition – BVerwG, Urteil vom 28.11.1975 – VII C 53.73 –, NJW 1976, 637, juris Rn. 15; Beschluss vom 13.11.1990 – 7 B 85/90 –, NJW 1991, 936, juris Rn. 7; BayVerfGH, Entscheidung vom 02.05.2017 – Vf. 64-VI-15 –, BayVBl 2017, 674, juris Rn. 16; – zur Dienstaufsichtsbeschwerde – BGH, Beschluss vom 15.11.1988 – IVa ARZ (VZ) 5/88 –, BGHZ 105, 395 = NJW 1989, 587, juris Rn. 26; Eyermann/ Wöckel, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 40 Rn. 14).
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bb) Der Verwaltungsrechtsweg ist jedoch gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Dies ist bei Dienstaufsichtsbeschwerden im Bereich des Justizvollzugs nicht der Fall, da § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG – anders als bei Sachaufsichtsbeschwerden nach Art. 115 Abs. 1 BayStVollzG – hierfür nicht anwendbar ist. Art. 115 BayStVollzG regelt nicht die Dienstaufsichtsbeschwerde. Dies ergibt sich aus Art. 115 Abs. 3 BayStVollzG, wonach die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde von dieser Vorschrift unberührt bleibt.
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cc) Demgegenüber vertritt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass die Bearbeitung und Verbescheidung von Dienst- und Sachaufsichtsbeschwerden von Strafgefangenen zu den Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs im Sinne des § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG gehöre. Die Behandlung solcher formloser Rechtsbehelfe zähle bei funktioneller Betrachtungsweise zu den typischen Angelegenheiten des Strafvollzugs (BayVGH, Beschlüsse vom 21.09.1999 – 5 C 99.1726, juris Rn. 5; vom 12.04.1999 – 5 A 99.48, juris Rn. 7; vom 27.01.1999 – 5 A 99.48, juris Rn. 5; Urteil vom 15.02.1984 – 5 B 83 A.2076 –, BayVBl. 1985, 121). Nach § 109 Abs. 1 Satz 2 StVollzG könne auch das Unterlassen der Bearbeitung der Beschwerde gerügt und die Verpflichtung der Behörde zur Vornahme der unterlassenen und abgelehnten Bearbeitung bei Gericht begehrt werden. Dem stehe die gesonderte Regelung des Beschwerderechts und des Antrags auf gerichtliche Entscheidung in §§ 108 (bzw. Art. 115 BayStVollzG) und 109 StVollzG nicht entgegen (BayVGH, Beschlüsse vom 12.4.1999 – 5 A 99.48, juris Rn. 7; vom 21.9.1999 – 5 C 99.1726, juris Rn. 5).
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dd) Entgegen dieser Ansicht handelt es sich bei der Verbescheidung einer Dienstaufsichtsbeschwerde durch den Dienstvorgesetzten nicht um die Maßnahme einer Justizbehörde – hier der Justizvollzugsanstalt – im funktionalen Sinn.
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Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach im Rahmen dienstaufsichtlicher Tätigkeit erfolgte Handlungen eines Richters am Amtsgericht keine Maßnahmen einer Justizbehörde auf dem Gebiet des Zivilprozesses oder des bürgerlichen Rechts im Sinne des § 23 Abs. 1 EGGVG darstellen. Begründet wird dies damit, dass ein Tätigwerden einer Behörde im Rahmen ihrer Dienstaufsicht bei gebotener funktionaler Betrachtung kein Handeln auf einem der in § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG genannten Gebiete darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 15.11.1988 – IVa ARZ (VZ) 5/88 –, BGHZ 105, 395 = NJW 1989, 587, juris Rn. 24; NK-VwGO/Sodan, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 615; Zöller/Lückemann, ZPO, 35. Aufl. 2024, EGGVG § 23 Rn. 27). Die Frage, ob eine Maßnahme einer Justizbehörde auf einem dieser Gebiete vorliegt, hängt nicht von der Ressortzugehörigkeit der handelnden Behörde und deren oberster Dienstbehörde ab, sondern ist nach funktionalen Gesichtspunkten zu beantworten (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.1984 – 1 C 10/84 –, BVerwGE 69, 192, juris Rn. 15; vom 03.12.1974 – I C 11.73 –, BVerwGE 47, 255 = NJW 1975, 893, juris Rn. 20 ff.). Eine Anordnung, Verfügung oder sonstige Maßnahme einer Justizbehörde im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG liegt deshalb nur vor, wenn die jeweils in Rede stehende Amtshandlung in Wahrnehmung einer Aufgabe vorgenommen wird, die der jeweiligen Behörde als ihre spezifische Aufgabe auf einem der in der genannten Vorschrift aufgeführten Rechtsgebiete zugewiesen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1984 – 1 C 10/84 –, BVerwGE 69, 192, juris Rn. 15; BGH, Beschluss vom 15.11.1988 – IVa ARZ (VZ) 5/88 –, BGHZ 105, 395 = NJW 1989, 587, juris Rn. 23; KG, Beschluss vom 17.07.1987 – 1 VA 2/87 –, NJW-RR 1988, 1531). Dies ist bei der Verbescheidung von Dienstaufsichtsbeschwerden nicht der Fall. Diese gehören zu den Petitionen im Sinne des Art. 17 GG (BVerwG, Beschluss vom 01.09.1976 – VII B 101.75 –, NJW 1977, 118, juris Rn. 12). Ein Petitionsbescheid trifft aber keine Regelung mit unmittelbarer rechtlicher Außenwirkung, sondern stellt nur die tatsächliche Erfüllung der Verpflichtung aus Art. 17 GG dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 01.09.1976 – VII B 101.75 –, NJW 1977, 118, juris Rn. 12 m.w.N.). Art. 17 GG gibt dem Petenten nur ein Recht auf Entgegennahme, sachliche Prüfung und Bescheidung der Petition, jedoch keinen Anspruch auf Erledigung im Sinne des Petenten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.04.1953 – 1 BvR 162/51 –, BVerfGE 2, 225, juris Rn. 29 ff.; Urteil vom 11.07.1961 – 2 BvG 2/58 –, BVerfGE 13, 54, juris Rn. 79; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 27.12.2005 – 1 BvR 2354/05 –, BVerfGK 7, 133, juris Rn. 6; vom 15.05.1992 – 1 BvR 1553/90 –, NJW 1992, 3033, juris Rn. 21).
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ee) Dem folgend hält die überwiegende Rechtsprechung und die einhellige Kommentarliteratur auch für Dienstaufsichtsbeschwerden im Bereich des Strafvollzugs – in Abgrenzung zu § 109 StVollzG – den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten für gegeben (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 09.11.2015 – 2 Ws 501/15 Vollz –, juris Rn. 16; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., § 108 Rn. 6; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 21. Ed. 01.10.2024, Art. 115 BayStVollzG Rn. 6; Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, a.a.O., 12. Kap. Abschn. A Rn. 13; Nestler, in: Laubenthal/ Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, a.a.O., Kap. P Rn. 15; Spaniol, in: Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl. 2022, § 91 LandesR Rn. 13; so auch VG Schwerin, Urteil vom 15.11.2004 – 1 A 568/04 –, juris Rn. 23). Bei Dienstaufsichtsbeschwerden geht es darum, ein personenbezogenes Fehlverhalten eines Bediensteten zu rügen. Diese sind als Instrument der Dienstaufsicht demgegenüber nicht darauf gerichtet, Rechtsbeziehungen zwischen der Vollzugsanstalt und dem Gefangenen zu regeln (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 15.02.2008 – 1 Ws 41/08 –, juris Rn. 5; KG, Beschluss vom 16.09.1996 – 5 Ws 451-453/96 Vollz –, bei Matzke NStZ 1997, 428, Nr. 34; OLG Hamburg, Beschluss vom 14.08.1991 – Vollz (Ws) 24/91 –, NStZ 1991, 560, juris Rn. 3 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.12.2001 – 1 Ws 301/01 –, ZfStrVo 2002, 189, juris Rn. 6; OLG Koblenz, Beschluss vom 09.11.2015 – 2 Ws 501/15 Vollz –, juris Rn. 11; OLG Stuttgart, Beschluss vom 14.03.1986 – 4 Ws 45/86 –, NStZ 1986, 480; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.11.1996 – 7 E 13031/96 –, juris Rn. 3 m.w.N.). Dies gilt auch für einen Vornahmeantrag (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.11.2015 – 2 Ws 501/15 Vollz –, juris Rn. 12 m.w.N.). Ein solcher ist nur dann zulässig, wenn sich der Antragsteller gegen das Unterlassen einer Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs (§ 109 Abs. 1 StVollzG) wendet. Da mit der Dienstaufsichtsbeschwerde jedoch kein Vollzugsverwaltungsakt begehrt wird und dem auf die Dienstaufsichtsbeschwerde ergehenden Bescheid keine Regelungswirkung zukommt, also keine Maßnahme nach § 109 StVollzG im Raum steht, kann bei Untätigkeit der Dienstaufsichtsbehörde eine Entscheidung über eine solche nicht in einem Verfahren nach §§ 109, 113 StVollzG erzwungen werden (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 14.08.1991 – Vollz (Ws) 24/91 –, NStZ 1991, 560, Leitsatz; OLG Hamm, Beschluss vom 09.06.1992 – 1 Vollz (Ws) 99/92 bei Bungert (Nr. 50), NStZ 1993, 426; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.12.2001 – 1 Ws 301/01 –, juris Rn. 6; OLG Koblenz, Beschluss vom 09.11.2015 – 2 Ws 501/15 Vollz –, juris Rn. 12; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., § 108 Rn. 6; Nestler in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/ Baier, a.a.O., Abschn. P Rn. 15; Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, a.a.O., 12. Kap. Abschn. A Rn. 13; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 26. Ed. 01.08.2024, § 108 StVollzG Rn. 7; Spaniol, in: Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., § 91 LandesR Rn. 13).
32
Dem schließt sich der Senat, der diese Frage bisher offen gelassen hat (vgl. Beschluss vom 24.11.2020 – 204 VAs 180/20 –, juris Rn. 22), an.
33
c) Sollte die Strafvollstreckungskammer zum Ergebnis kommen, dass es sich bei den vom Antragsteller genannten Beschwerden tatsächlich ganz oder zum Teil um Dienstaufsichtsbeschwerden handelt, wird das Verfahren nach Anhörung der Beteiligten insoweit an das örtlich für die Justizvollzugsanstalt L. zuständige Bayerische Verwaltungsgericht R. zu verweisen sein (§ 17 Abs. 2 Satz 1 GVG).
34
Soweit Sachaufsichtsbeschwerden erhoben worden sind, wird die Strafvollstreckungskammer zu prüfen haben, ob sich diese auf den Vollzug der Untersuchungshaft beziehen (insoweit ist die Strafvollstreckungskammer unzuständig, vgl. § 119a Abs. 1 StPO), oder den Vollzug der Strafhaft betreffen. Letzteres kommt allenfalls für die Beschwerden vom 01.09. und 03.09.2021 in Betracht. Insofern wird die Strafvollstreckungskammer zu erwägen haben, ob sie nicht entsprechend der Anregung der Strafkammer des Landgerichts A. das Verfahren betreffend die aus der Zeit der Untersuchungshaft stammenden Sachaufsichtsbeschwerden abtrennt und an die Strafkammer abgibt.
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d) Die Zurückverweisung gibt der Strafvollstreckungskammer zudem Gelegenheit, die Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 07.07.2023 (Bl. 16 f.) an den Antragsteller zu übermitteln.
IV.
36
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer dieser vorbehalten (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, a.a.O., StVollzG § 121 Rn. 1).
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Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52 GKG.