Titel:
Umfang der Aufklärung im Strafvollzugsverfahren
Normenkette:
StVollzG § 109, § 115, § 120
Leitsätze:
Im Strafvollzugsverfahren hat das Gericht im Rahmen der Amtsermittlungspflicht von sich aus die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen. Der erforderliche Umfang der Aufklärung hängt von der Sachlage im konkreten Einzelfall ab. Er bemisst sich unter anderem an dem Vorbringen der streitenden Parteien: Je eingehender, plausibler und anhand der Umstände nachvollziehbarer eine der Parteien einen Sachverhalt darstellt, während die andere ihm aber nur pauschal oder neben der Sache liegend entgegentritt, desto eher darf sich der Tatrichter mit dem Vorbringen der erstgenannten Partei zufriedengeben. (Rn. 6)
Stehen die Angaben der Verfahrensbeteiligten zueinander in Widerspruch, obliegt es der Strafvollstreckungskammer infolge der Aufklärungspflicht, den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter zu erforschen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafvollzugsverfahren, Amtsermittlungspflicht, Sachverhaltsaufklärung, Widerspruch, Angaben, Freibeweisverfahren
Vorinstanz:
LG Augsburg, Beschluss vom 16.09.2024 – 2 NöStVK 203/24
Fundstellen:
BeckRS 2024, 37746
FDStrafR 2025, 937746
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Nördlingen vom 16. September 2024 aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens – an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
3. Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 500.- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Nördlingen vom 16. September 2024. Mit Schreiben vom 17. April 2024 hat der Strafgefangene bei der Strafvollstreckungskammer beantragt, die im Zusammenhang mit einer Disziplinarmaßnahme am 15. April 2024 verfügte Ablösung aus dem Arbeitsbetrieb „Elektro II“ aufzuheben. Die am 27. Februar 2024 in seinem Haftraum aufgefundenen Schrauben hätte er entgegen der Behauptung der Justizvollzugsanstalt nicht aus dem Arbeitsbetrieb der Anstalt entwendet, sondern sie wären bereits von ihm unbeanstandet zum Zeitpunkt des Bezugs der Zelle an Möbeln als Haken fest montiert gewesen. Die auf den Vorwurf der unerlaubten Wegnahme von Material gegründete Ablösung von der Arbeit sei rechtswidrig und somit aufzuheben. Die Justizvollzugsanstalt ist dem entgegengetreten und hat in ihrer Stellungnahme vorgebracht, die Ablösung wäre zu Recht erfolgt. Der Antragsteller hätte im Haftraumbelegbuch am 11. Oktober 2023 dafür unterschrieben, den Haftraum in einem ordnungsgemäßen Zustand übernommen zu haben. Die am 27. Februar 2024 anlässlich einer Haftraumkontrolle sichergestellten angespitzten Schrauben stammten aus dem Betrieb „Elektro II“, in dem der Strafgefangene damals beschäftigt gewesen wäre. Der Antragsteller hätte am 27. Februar 2024 zum wiederholten Male unerlaubte Gegenstände und Betriebsmaterial in Besitz gehabt.
2
Die Strafvollstreckungskammer hat mit Beschluss vom 16. September 2024 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung kostenpflichtig zurückgewiesen. Das Gericht habe keinerlei Grund, an der Richtigkeit des Tatsachenvortrags der Anstalt zu zweifeln. Der Antragsteller hätte unterschriftlich bestätigt, dass sich der von ihm übernommene Haftraum in einem ordnungsgemäßen Zustand befinden würde; das bedeute, dass die besagten Schrauben nicht vorhanden gewesen wären.
3
Der Strafgefangene hat gegen den ihm am 23. September 2024 zugestellten Beschluss am 11. Oktober 2024 zur Niederschrift des Urkundsbeamten Rechtsbeschwerde eingelegt und eine fehlerhafte Beweiswürdigung gerügt. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, da die angefochtene Entscheidung keinen Rechtsfehler erkennen ließe. Zu dem von der Rechtsbeschwerde dargelegten Fehler in der Beweiswürdigung äußert sie sich nicht.
4
Die frist- und formgerecht (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG) eingelegte Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers ist zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 116 Abs. 1 StVollzG) zulässig.
5
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss kann mangels Sachverhaltsaufklärung keinen Bestand haben.
6
1. Im Strafvollzugsverfahren hat das Gericht im Rahmen der Amtsermittlungspflicht von sich aus die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen (Senat, Beschluss vom 29. Januar 2024 – 203 StObWs 551/23 –, juris Rn. 28 m.w.N.). Wird die Sachverhaltsdarstellung der Justizvollzugsanstalt vom Gefangenen bestritten, so darf das Gericht seiner Entscheidung nicht ohne Weiteres die Ausführungen der Justizvollzugsanstalt zugrunde legen. Zwar können auch in einem solchen Fall weitere tatsächliche Ermittlungen entbehrlich sein. Die Annahme, es könne ohne weitere Sachverhaltsaufklärung von der Richtigkeit der behördlichen Darstellung ausgegangen werden, bedarf aber konkreter, auf die Umstände des Falles bezogener Gründe (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 29. Januar 2024 a.a.O. Rn. 28 m.w.N.; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 17. März 2021 – 2 BvR 194/20 –, juris Rn. 51; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 26. Januar 2021 – 2 BvR 676/20 –, juris Rn. 33; KG Berlin, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 5 Ws 157/17 Vollz –, juris Rn. 23; zur Amtsaufklärungspflicht auch KG Berlin, Beschluss vom 23. August 2019 – 2 Ws 125/19 Vollz –, juris Rn. 58 ff.; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 115 Rn. 2; Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 12. Kapitel Rechtsbehelfe I § 115 Rn. 2). Der erforderliche Umfang der Aufklärung hängt von der Sachlage im konkreten Einzelfall ab (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 5 Ws 157/17 Vollz –, juris Rn. 23). Er bemisst sich unter anderem an dem Vorbringen der streitenden Parteien: Je eingehender, plausibler und anhand der Umstände nachvollziehbarer eine der Parteien einen Sachverhalt darstellt, während die andere ihm aber nur pauschal oder neben der Sache liegend entgegentritt, desto eher darf sich der Tatrichter mit dem Vorbringen der erstgenannten Partei zufriedengeben (vgl. KG a.a.O. Rn. 23).
7
2. Nachdem hier bezüglich der Frage, ob die am 27. Februar 2024 im Einzelhaftraum des Antragstellers sichergestellten Schrauben bereits zum Zeitpunkt des Zellenbezugs als Haken an Möbeln montiert waren, die Angaben der Verfahrensbeteiligten zueinander in Widerspruch standen, hätte der Strafvollstreckungskammer infolge der Amtsaufklärungspflicht nach § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO oblegen, den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter zu erforschen. Die Auffassung des Tatgerichts, die im Haftraumbelegbuch am 11. Oktober 2023 geleistete Unterschrift des Strafgefangenen belege, dass die am 27. Februar 2024 festgestellten Schrauben damals nicht vorhanden gewesen wären, ist nicht zu halten, da eine entsprechende kleinteilige Prüfungs- und Beanstandungspflicht des Strafgefangenen nicht dargetan ist.
8
3. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zu erneuter Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde.
9
Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf den §§ 60, 52 GKG.