Titel:
Therapiebereitschaft, Zurückstellung der Strafvollstreckung, Vollstreckungsbehörde, Beurteilungsspielraum, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Hauptverhandlung, Erneute Zurückstellung, Bayerisches Oberstes Landesgericht, Außergerichtliche Kosten, Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, Generalstaatsanwaltschaft, Vorschaltverfahren, Staatsanwaltschaft, Aufhebung, Angefochtene Entscheidung, Festsetzung des Geschäftswerts, Therapiewilligkeit, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Betäubungsmittelabhängigkeit, Kostengrundentscheidung
Normenketten:
BtMG § 35
EGGVG § 23
Leitsätze:
1. Mit der Zusage, sich einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung zu unterziehen, erklärt sich der Verurteilte zu der konkreten Behandlung in der konkret bezeichneten Form nach dem konkreten Behandlungskonzept bei einer bestimmten Person oder Einrichtung bereit. Die Erklärung muss die Bereitschaft umfassen, sich einer Hausordnung und einem Therapieprogramm zu unterwerfen und den Anweisungen der Therapeuten und Auflagen der Vollstreckungsbehörde Folge zu leisten.
2. Eine grundsätzliche Bereitschaft des Verurteilten zum Antritt und zum Durchstehen einer Therapie zu den vereinbarten Bedingungen ist Voraussetzung der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG. Bloße Zweifel der Vollstreckungsbehörde an einer hinreichenden Therapiebereitschaft rechtfertigen eine Versagung der Zurückstellung nicht.
3. Eine einmalig geäußerte Ablehnung einer Unterbringung nach § 64 StGB rechtfertigt nicht, dem Verurteilten zukünftig eine Therapiechance nach § 35 BtMG zu versagen.
Schlagworte:
Therapiebereitschaft, Betäubungsmittelabhängigkeit, Ermessensentscheidung, Beurteilungsspielraum, Rechtsfehler, gerichtliche Entscheidung
Fundstellen:
BeckRS 2024, 37745
FDStrafR 2025, 937745
Tenor
1. Auf den Antrag des Verurteilten wird der Bescheid der Staatsanwaltschaft A. vom 9. September 2024 in Gestalt des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft B. vom 25. September 2024 aufgehoben.
2. Die Staatsanwaltschaft A. wird verpflichtet, über den Antrag des Verurteilten vom 1. August 2024 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.
3. Das Verfahren ist kostenfrei. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verurteilten sind aus der Staatskasse zu erstatten.
4. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG. Er verbüßt seit dem 25. April 2024 eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 29. Februar 2024 (Az. 301 Ls 102 Js 9172/23), rechtskräftig seit 25. April 2024, wegen gemeinschaftlichen Herstellens von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Abgabe von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Im Urteil hat das Amtsgericht von einer Unterbringung nach § 64 StGB abgesehen. Beim Angeklagten bestehe zwar ein Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, allerdings habe der Angeklagte in der Hauptverhandlung eine Therapie nach § 64 StGB abgelehnt, so dass insoweit keine Erfolgsaussichten gegeben seien. Die Staatsanwaltschaft A. hat die vom Verurteilten am 1. August 2024 beantragte Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG mit Verfügung vom 09. September 2024 aufgrund erheblicher Zweifel an der Therapiebereitschaft des Antragstellers abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers hat der Generalstaatsanwalt in Bamberg mit Bescheid vom 25. September 2024 zurückgewiesen. Der Verurteilte sei in der ersten Instanz von dem psychiatrischen Gutachter als therapiebereit und als therapierbar beurteilt worden. Allerdings habe der Antragsteller aus taktischen Erwägungen in der Hauptverhandlung eine Unterbringung abgelehnt. Das Taktieren des Verurteilten lasse „Zweifel“ an einer Therapiebereitschaft „als plausibel erscheinen“. Es könne nämlich nicht „ausgeschlossen“ werden, dass der Verurteilte nun eine vermeintlich bestehende Therapiebereitschaft bekunde, um eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug zu erreichen.
2
Mit seinem am 21. Oktober 2024 beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangenen Schreiben vom 1. Oktober 2024 stellt der Verurteilte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit dem Ziel der Zurückstellung nach § 35 Abs. 1 BtMG. Seit Beginn seiner Inhaftierung halte er Kontakt zu der externen Suchtberatung und nutze Beratungsgespräche. Er sei – wie ihm die Drogenberatung bescheinigt habe – therapiewillig und therapiefähig. Vor der Rücknahme der Berufung sei ihm in der Berufungsverhandlung am 25. April 2024 in Aussicht gestellt worden, dass er eine Therapie nach § 35 BtMG machen dürfe. Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragt mit Schreiben vom 07. November 2024 unter Verweis auf die angefochtenen Entscheidungen der Vollstreckungsbehörden, den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Bezüglich der Einzelheiten nimmt der Senat auf die genannten Entscheidungen, Verfügungen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
3
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 EGGVG statthaft, gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG fristgerecht eingelegt worden und auch nach § 24 Abs. 1 und 2 EGGVG zulässig. Das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollStrO) ist durchgeführt worden.
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In der Sache führt der Antrag zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und zur Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung. Die Ablehnung der Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG).
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1. Gemäß § 35 Abs. 1 BtMG kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung einer Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde und der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist.
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2. Mit der Zusage erklärt sich der Verurteilte zu der konkreten Behandlung in der konkret bezeichneten Form nach dem konkreten Behandlungskonzept bei einer bestimmten Person oder Einrichtung bereit (Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 110 m.w.N.). Die Erklärung muss die Bereitschaft umfassen, sich einer Hausordnung und einem Therapieprogramm zu unterwerfen und den Anweisungen der Therapeuten und Auflagen der Vollstreckungsbehörde Folge zu leisten (Weber a.a.O.; Fabricius in Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl. § 35 Rn. 209).
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3. Eine grundsätzliche Bereitschaft des Verurteilten zum Antritt und zum Durchstehen einer Therapie zu den vereinbarten Bedingungen ist damit Voraussetzung der Zurückstellung der Strafvollstreckung (Fabricius a.a.O. Rn. 205 m.w.N.; Weber a.a.O. Rn. 111; vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 204 VAs 131/21-, juris Rn. 21). In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Ablehnung einer Zurückstellung nach § 35 BtMG wegen fehlender Therapiewilligkeit allerdings Ausnahmecharakter hat, denn eine Motivation des Verurteilten zur Therapie ist nicht Voraussetzung, sondern erst das Ziel weiterer Therapiebemühungen (st. Rspr., zu den Nachweisen vgl. Weber a.a.O. Rn. 114; BayObLG a.a.O. Rn. 20 m.w.N.). Grundsätzlich ist dem Antragsteller Vertrauen entgegenzubringen und das Risiko eines Therapieabbruches einzugehen (Fabricius a.a.O. Rn. 201). Bloße Zweifel der Vollstreckungsbehörde an einer hinreichenden Therapiebereitschaft rechtfertigen daher eine Versagung der Zurückstellung nicht (Weber a.a.O. Rn. 114 m.w.N. aus der Rspr.; Kornprobst in MüKoStGB, 4. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 95). Eine Zurückstellung darf auch nicht an Verhaltensweisen oder Charaktermängeln scheitern, die als Krankheitssymptome der Sucht anzusehen sind und durch die Therapie gerade behoben werden sollen (Fabricius a.a.O. Rn. 203). Labilität, Passivität, Flucht vor Verantwortung und Entscheidungen gelten als symptomatisch für eine Drogenabhängigkeit; sie stehen der Drogentherapie nicht entgegen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22. April 2003 – 1 VAs 17/03 –, juris; Kornprobst a.a.O. Rn. 100 m.w.N.; Weber a.a.O. Rn. 163 und Rn. 117 zum Schwanken in der Therapiebereitschaft). Selbst ein Therapieabbruch ist nicht regelhaft Ausdruck von Therapieresistenz, sondern häufig nur ein Symptom der Sucht (vgl. BayObLG a.a.O. Rn. 22 m.w.N.; Fabricius a.a.O. Rn. 206, 207 m.w.N.; Kornprobst a.a.O. Rn. 98; Weber a.a.O. Rn. 117). Wenn allerdings konkrete Anhaltspunkte oder Beweismittel dafür vorliegen, dass der Antragsteller die Therapiebereitschaft nur vorgibt, kann dies einen Versagungsgrund darstellen (Fabricius a.a.O. Rn. 210; Kornprobst a.a.O. Rn. 97; Weber a.a.O. Rn. 119). Ein Anzeichen kann sein, dass der Verurteilte unlängst in besonders verantwortungsloser und leichtfertiger Weise Therapiechancen vergeben hat, ohne dass nunmehr ein grundlegender Einstellungswandel erkennbar geworden ist (vgl. BayObLG a.a.O. Rn. 21; zu den Einzelfällen vgl. Fabricius a.a.O. Rn. 210 ff.; Weber a.a.O. Rn. 120 f.).
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4. Der Vollstreckungsbehörde steht bei ihrer Entscheidung über die Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogentherapie gemäß § 35 BtMG ein Ermessen und hinsichtlich der dabei zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich die Feststellung einer Betäubungsmittelabhängigkeit, deren Kausalität für die Tat, der Therapiebereitschaft und der Therapiebedürftigkeit des Antragstellers ein Beurteilungsspielraum zu (BayObLG, Beschluss vom 26. August 2020 – 204 VAs 298/20 –, juris Rn. 22 m.w.N.; Weber a.a.O. Rn. 111, 142, 207; Fabricius a.a.O. Rn. 398; Kornprobst a.a.O. Rn. 172, 173).
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5. Die Annahme eines Beurteilungsspielraums der Vollstreckungsbehörde hat zur Folge, dass die gerichtliche Nachprüfung nach § 28 Abs. 3 EGGVG eingeschränkt ist. Kommt ein Beurteilungsspielraum zum Tragen, prüft der Senat insoweit nur, ob die Vollstreckungsbehörde von einem vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und sich innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten hat (Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2024 – 203 VAs 397/24 –, juris Rn. 11).
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6. Gegenstand der Überprüfung ist dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in der Gestalt, die sie durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft erhalten hat (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 11).
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7. Nach den oben dargestellten Vorgaben weist die Versagung der Zurückstellung mehrere Beurteilungsfehler auf. So haben weder die Staatsanwaltschaft noch die Generalstaatsanwaltschaft ihren ablehnenden Entscheidungen einen vollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Sie haben sich mit dem auch von der Justizvollzugsanstalt bescheinigten nachhaltigen Kontakt des Verurteilten zu einer externen Suchtberatung nicht hinreichend befasst und dem Vollzugsverhalten und der Expertise der Therapeuten keine Bedeutung zugemessen. Beide Behörden haben ihrer Entscheidung zudem einen fehlerhaften Maßstab zugrunde gelegt, indem sie bloße Zweifel an der Therapiebereitschaft für ihre Ablehnung der Zurückstellung haben genügen lassen. Schließlich haben die Vollstreckungsbehörden diese Zweifel rechtsfehlerhaft aus einer einmalig geäußerten Ablehnung einer Unterbringung nach § 64 StGB abgeleitet und sich den Blick darauf verstellt, dass sich der Antragsteller bereits anlässlich der psychiatrischen Untersuchung im Strafverfahren, anschließend in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht, in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht und in der Folgezeit im Strafvollzug einer Suchttherapie gegenüber stets als aufgeschlossen gezeigt hat. Die sich im Verhalten des Antragstellers in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung widerspiegelnde Unbeständigkeit rechtfertigt nicht, dem Verurteilten zukünftig eine Therapiechance zu versagen. Denn der Weg aus der Drogensucht ist regelmäßig sogar mit gescheiterten Therapieversuchen verbunden, die einer – auch erneuten – Zurückstellung nicht entgegenstehen würden. Zudem können der Hafteindruck wie auch die Beratungsgespräche den Willen zur Therapie weiter gefördert haben.
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8. Die aufgezeigten Rechtsfehler bei der Beurteilung der Therapiebereitschaft führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und zur Pflicht der Vollstreckungsbehörde, über den Antrag des Verurteilten unter Beachtung der dargelegten Rechtsauffassung erneut zu entscheiden (§ 28 Abs. 2 S. 2 EGGVG).
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Eine Kostengrundentscheidung nach § 1 Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Nr. 15300 bzw. 15301 KV GNotKG war nicht veranlasst, da der Antrag weder zurückgenommen noch (insgesamt) zurückgewiesen wurde und (gerichtliche) Auslagen im Sinne von Teil 3, Hauptabschnitt 1 des Kostenverzeichnisses zum GNotKG nicht angefallen sind.
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Hinsichtlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Verurteilten entsprach es billigem Ermessen, diese der Staatskasse aufzuerlegen (§ 30 Satz 1 EGGVG). Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 1 und 3 GNotKG.
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Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.