Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 17.12.2024 – RN 2 K 24.31013
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4
Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2011/95/EU, Art. 3, 60 Istanbul-Konvention
Leitsatz:
Auch verlobten Eritreerinnen droht die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, wo weibliche Rekruten als bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlechtsspezfischer Verfolgung ausgesetzt sind.
Schlagwort:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Fundstelle:
BeckRS 2024, 37507

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24.4.2024 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags.
2
Die Klägerin ist am … 1999 geboren und eritreische Staatsangehörige mit tigrinischer Volkszugehörigkeit und orthodox-christlichem Glauben. Am 29.9.2023 reiste sie auf dem Landweg aus der Schweiz kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8.1.2024 einen förmlichen Asylantrag.
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Am 26.1.2024 fand die persönliche Anhörung der Klägerin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) statt. Dabei gab die Klägerin unter anderem an, in …1 geboren und in …2 aufgewachsen zu sein. Ihre Eltern seien Eritreer. Sie spreche Tigrinya und Amharisch, letzteres weil sie zwei Jahre in …3 gelebt habe. Sie habe aber nur die eritreische Staatsangehörigkeit. Sie übergab die Personalausweise ihrer Eltern. Ihre eigene Geburtsurkunde habe sie im Sudan verloren. Einen Personal- oder Reisepass habe sie nie besessen. Sie habe bis zu ihrer Flucht zusammen mit ihrer Mutter und zwei Schwestern in …2 in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt. Als ihre Mutter krank geworden sei, habe sie die Familie versorgen müssen. Ihr Vater sei im Krieg gefallen. Sie hätte im Januar 2016 zusammen mit einer Freundin Eritrea illegal verlassen. Zunächst seien sie nach Äthiopien gegangen, dann in den Sudan, von dort aus nach Libyen. Von Libyen sei sie mit einem Boot nach Italien gefahren, wo sie im August 2023 angekommen sei. Über die Schweiz sei sie schließlich nach Deutschland eingereist. Sie habe noch Kontakt zu ihrer Mutter in Eritrea, diese sei aber gesundheitlich in einem schlechten Zustand, weil sie an Epilepsie und Asthma leide. Ihre beiden Geschwister, Zwillinge, seien 10 Jahre alt. Zudem lebe die erweiterte Familie in Eritrea. Zu dieser habe sie telefonisch Kontakt. Im Jahr 2020 habe sich die Klägerin im Sudan mit einem Eritreer verlobt, der sich aktuell in Frankfurt befände. Der Verlobte sei als Flüchtling anerkannt worden. Kinder habe sie keine. Schwanger sei sie auch nicht. Sie habe die Schule bis zur 10. Klasse besucht, außerdem habe sie als Bedienung in einem Café und als Verkäuferin gearbeitet. Wehrdienst bzw. Nationaldienst habe sie nicht geleistet. Im Jahr 2016 habe sie die 10. Klasse abgebrochen, weil sie ihrer Mutter habe helfen müssen. Es habe Razzien gegeben, weshalb sie sich versteckt habe. Schließlich habe sie deswegen das Land verlassen. Die Soldaten der Regierung hätten nach ihr gesucht und würden sie zum Militär schicken. Es habe alle paar Wochen Razzien gegeben, bei denen Schulabbrecher zum Militär geholt worden seien. Sie selbst sei noch nie im Gefängnis gewesen oder bei einer Razzia angetroffen worden. Die Soldaten seien aber sehr oft bei ihr zu Hause gewesen. Sie habe sich woanders versteckt. Die Mutter der Klägerin sei inhaftiert worden, nachdem die Klägerin Eritrea verlassen habe. Die Mutter bekäme auch kein Witwengeld mehr seit die Klägerin das Land illegal verlassen habe. Die Klägerin traue nicht dem Diaspora-Status. Ein Reuebekenntnis wolle sie nicht unterschreiben, weil sie der Regierung nicht trauen könne.
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Mit Bescheid vom 24.4.2024, laut Postzustellungsurkunde der Klägerin am 29.4.2024 zugegangen, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4).
5
Am 30.4.2024 erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg.
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Begründet wurde die Klage im Wesentlichen damit, dass der Klägerin zumindest der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei. Der Klägerin drohe trotz ihrer Ausreise als Minderjährige bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes und dort eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden. Die 24-jährige Klägerin sei im dienstpflichtigen Alter. Bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland würde die Klägerin in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen werden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nicht mehr in den Nationaldienst einberufen werde nur, weil sie nicht mehr schulpflichtig sei. Dem könne sie sich auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus entziehen. Der Klägerin sei die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie gehöre der abgrenzbaren sozialen Gruppe „nationaldienstpflichtige Frauen“ an.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
Die Beklagte wird verpflichtet der Klägerin, unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 24.04.2024, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Hilfsweise:
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Die Beklagte wird verpflichtet der Klägerin, unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 24.04.2024, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
Weiterhin hilfsweise:
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Die Beklagte wird verpflichtet für die Klägerin, unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 24.04.2024, Abschiebungsverbote festzustellen.
10
Das Bundesamt beantragt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
11
Das Bundesamt bezieht sich zur Klagebegründung auf die angefochtene Entscheidung.
12
Mit Beschluss vom 15.11.2024 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
15
Die Klage ist zulässig und begründet.
16
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
17
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in sein Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
18
Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
19
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
20
Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG. Der Klägerin droht nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
21
a) Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 15). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; Danish Refugee Council (DRC), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; AI; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
22
Die zum Zeitpunkt der Entscheidung 25-jährige Klägerin ist im dienstpflichtigen Alter, nach ihren Angaben vom 2.12.2024 und in der mündlichen Verhandlung vom 17.12.2024 nicht verheiratet, nicht schwanger und kinderlos. Danach ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird bzw. jedenfalls eine sechsmonatige militärische Ausbildung abzuleisten hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst das Schulsystem darstellt, in das die Klägerin nicht zurückkehren würde. Gleiches gilt für die Annahme der Beklagten, dass auch eine Rekrutierung außerhalb des Schulsystems für die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich sei, da die eritreischen Behörden nicht mehr die Kapazitäten zu haben scheinen, alle Dienstverweigerer systematisch zu Hause aufzusuchen, um sie zu verhaften oder zu rekrutieren und es auch trotz „giffas“ zahlreichen Dienstverweigerern gelinge, sich längerfristig auch diesen Kontrollen zu entziehen. Bei dieser Betrachtungsweise der Beklagten lässt diese völlig außer Betracht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea einreisen muss und damit eine Einreisekontrolle durchlaufen muss. Es ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bei der Situation eines Rückkehrers davon auszugehen, dass dieser nach seinem Nationaldienststatus befragt und damit unmittelbar im Visier der Behörden ist. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung des SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
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Die Gefahr der Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes im Rahmen der Einreisekontrolle oder einer „giffa“ ist bei der Klägerin zudem dadurch erhöht, dass sie sich der „regulären“ Rekrutierungsmethode im Schulsystem entzogen hat, indem sie die Schule in der 10. Klasse, also noch vor der Versetzung in das Militärlager „Sawa“, abgebrochen hat. Es liegt also nahe, dass sie bei einer Rückkehr, wenn nicht bereits als Form der Bestrafung für ihre sozusagen vorverlagerte Desertion, dann aber jedenfalls zum Nachholen der Rekrutierung, der sie sich entzogen hat, doch noch zum militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen werden würde. Da die Klägerin wegen ihres vorzeitigen Schulabbruchs keine Papiere vorweisen kann, die einen Schulabschluss, eine Musterung oder eine Befreiung hiervon nachweisen würden, ist die Gefahr, im Rahmen der Einreisekontrolle oder einer „giffa“ eingezogen zu werden, besonders hoch.
24
b) Dem steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass die Klägerin verlobt ist. Wie ausgeführt werden verheiratete Frauen und Mütter in der Regel nicht in den militärischen Teil des Nationaldienstes berufen. Soweit in diesem Kontext teilweise in Rechtsprechung (OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A – juris Rn. 47) oder (älteren) Erkenntnismitteln (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f.) auch verlobte Frauen genannt werden, so kann sich die Annahme der Befreiung verlobter Frauen vom militärischen Teil des Nationaldiensts jedenfalls nicht auf die aktuelle Erkenntnislage stützen (so bereits VG Hamburg U.v. 13.2.2019 – 19 A 984/18 – juris Rn. 33-42). Vielmehr findet sich in den aktuellen Erkenntnismitteln – so insbesondere auch dem letzten EASO Bericht vom September 2019, S. 33 f. – kein Hinweis mehr auf verlobte Frauen, sondern nur auf Schwangere, Mütter und verheiratete Frauen (vgl. auch AA Lagebericht vom 16.10.2024 S. 14; SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016 S. 49). Dabei ist zu beachten, dass bereits die eingangs genannten Befreiungen keineswegs rechtssicher garantiert werden, sondern vielmehr der Willkür der Rekrutierungsbeamten unterliegen (AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 28; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f.). Im Kontext der Verlobung trägt zu zusätzlicher Unsicherheit bei, dass Berichten zufolge vom Nationaldienst befreite Frauen im Rahmen von „giffas“ auch dann zum Dienst eingezogen wurden, wenn sie den Grund für ihre Befreiung nicht nachweisen konnten (Røsberg/Tronvoll Migrants or Refugees? The internal and external drivers of migration from Eritrea, Project Report 14.02.2017, S. 75; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9). Eine Verlobung kann nicht ohne weiteres nachgewiesen werden, insbesondere wenn diese im Ausland stattfand und sich der Verlobte nicht in Eritrea aufhält. Weiterhin ist zu beachten, dass Sinn der Dienstbefreiungen für Mütter, Schwangere und verheiratete Frauen ist, dass die vom militärischen Teil des Nationaldiensts befreiten Frauen sich als Mütter um die Erziehung ihrer Kinder kümmern (vgl. VG Augsburg, U.v. 11.4.2024 – Au 9 K 23.30697 –, Rn. 31, juris; VG Bayreuth, U.v. 15.03.2021 – B 8 K 18.31541 –, S. 8 juris) bzw. als Ehefrauen Kinder zeugen und sich sodann um diese Kinder kümmern sollen, wie sich etwa darin zeigt, dass im zivilen Teil des Nationaldiensts tätige Mütter anders als Frauen im militärischen Teil zuhause bei ihren Familien leben dürfen (vgl. Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, 15./16. Oktober 2014, S. 12 f.). Es ist fernliegend, dass der Klägerin in Anbetracht dieser Hintergründe eine Befreiung vom militärischen Teil des Nationaldienst gewährt würde. Aus ihrem im Ausland geschlossenen Verlöbnis mit einem Mann, der sich selbst nicht in Eritrea aufhält, können nicht ohne Weiteres Kinder folgen, um die sich die Klägerin zu kümmern hätte. Es besteht also eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin trotz der bestehenden Verlobung in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen werden würde.
25
c) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann die Klägerin nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass sie diesen überhaupt erlangen kann und zum anderen ihr der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihr ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist.
26
(1) Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
27
Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Status richtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
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(2) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
29
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehören (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
30
Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bereits nicht gesichert, dass die Klägerin den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
31
Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
32
Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
33
Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Die Klägerin hat nach dem streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland. Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und ihre Rückkehr ist nicht nur vorübergehend.
34
(3) Aber selbst wenn man annimmt, dass die Klägerin bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür sprechen könnte, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihr ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
35
Problematisch ist die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
36
Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter https://www.refworld.org/sites/default/files/attachments/54c0d9d44.pdf) kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von ihrem Alter, erfüllen.
37
Die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Ausreise zwar noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Sie war jedoch bereits in der 10. Klasse und damit kurz vor der Versetzung in das Ausbildungslager „Sawa“ zur Vorbereitung auf die Einziehung in den Nationaldienst. Indem sie die Schule abgebrochen ist, hat sie sich zugleich der wichtigsten Rekrutierungsmethode zum Nationaldienst entzogen. Sie ist mit einem Alter von nunmehr 25 Jahren inzwischen auch im nationaldienstpflichtigen Alter. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass im Falle der Klägerin die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ verlangt wird.
38
Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
39
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
40
Der in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt für die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters eine gewisse Aussagekraft zu. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
41
Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 22 f.). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Der zuständige Einzelrichter geht von der Annahme einer Unzumutbarkeit im Regelfall aus, ohne dass die Klägerin ihre Weigerung plausibel darstellen muss. Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar ausführte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammenhang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen (vgl. für § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG VGH Mannheim, B.v. 5.6.2024 – 12 S 871/22 – beck-online).
42
(4) Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ von der Klägerin nicht verlangt wird oder der Klägerin zumutbar wäre, bietet der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes.
43
Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
44
Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, nicht in den Nationaldienst einberufen zu werden, dazu führt, dass eine Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, der Kläger damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
45
Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitliche Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar sind, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein zeitlicher Aufschub des Nationaldienstes für nur sechs bis zwölf Monate, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
46
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen weder gesichert erlangen kann, ein Nachfragen wohl unzumutbar wäre und er sie jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde.
47
d) Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
48
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. a AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschrift, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG). Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchstabe a der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft.
49
Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Aber auch die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b AsylG liegen für Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes vor. Zwar schließt das selbständige Erfordernis der „deutlich abgrenzbaren Identität“ eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder Abs. 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-473/16 – juris; BVerwG, B.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris). Hiervon geht auch die Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 – C 621/21 – beck-online aus, in der der Gerichtshof ausführt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können. Gleichwohl könne eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt sei, zu beurteilen sei, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handele. Diese Auslegung werde durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt. Folglich könnten Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststehe, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt seien. Der zuständige Einzelrichter geht zwar nicht davon aus, dass alleine die verbreitete sexuelle Gewalt in Eritrea Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes zu einer gesonderten und abgrenzbaren sozialen Gruppe gegenüber z.B. Frauen außerhalb des militärischen Nationaldienstes macht. Allerdings führt die Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen und die in Eritrea Frauen gegenüber bestehende Einstellung und die Rahmenbedingungen im militärischen Bereich des Nationaldienstes dazu, dass Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes, zu dessen Ableistung sie grundsätzlich verpflichtet sind, gegenüber den männlichen Rekruten anders angesehen und behandelt werden und damit eine „soziale Gruppe“ i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt (anders OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21; VG Berlin, U.v. 6.2.2023 – VG 28 K 505.17.A; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 4 B 21.9.2020 – 19.A.; OVG Lüneburg, B.v. 9.2.2022 – 4 LA 74/20 – jeweils beck-online). Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass Frauen gerade zu dem Zweck rekrutiert werden, um für sexuelle Dienste von Vorgesetzten zur Verfügung zu stehen. Ihre Einberufung erfolgt vielmehr im Zuge der allgemeinen Dienstpflicht, unter die auch konsequent Frauen fallen. Auch, dass diese Frauen, die in den militärischen Bereich einberufen werden, häufig Funktionen wie Köchinnen, Putzkraft, Wäscherin, persönliche Assistentin des Kommandanten oder Büromittarbeiterin zugeteilt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S.26), führt alleine nicht automatisch zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Diese Tätigkeiten sind nicht automatisch mit einem sexuellen Bezug belegt, sondern im militärischen Bereich notwendig. Allerdings ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass es gerade im militärischen Bereich und gerade in diesen Funktionen gehäuft zu sexuellen Übergriffen kommt und hiergegen nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea S. 8; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Nach dem letzten Bericht der früheren VN Sonderberichterstatterin Sheila B. Keetaruth stelle die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass die nach den Erkenntnismitteln weit verbreitete Annahme, dass weibliche Rekrutinnen ihren Vorgesetzten auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung stehen, auch in der Rolle der Frau im sozialen Kontext und ihrem mangelnden gesellschaftlichen Schutz zu sehen ist (vgl. allgemein auch Gaim Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service). Soweit bislang davon ausgegangen wurde, dass Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen allgemein im militärischen Bereich des Nationaldienstes verbreitet sind und die sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht sei, erscheint dies im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 (s.o.) nicht mehr sachgerecht. Zwar sind sowohl die Misshandlungen als auch die sexuellen Übergriffe darin bedingt, dass den Vorgesetzten fast unbegrenzte Macht gegenüber den Rekruten zukommt. Dennoch ist auch zu berücksichtigen, dass die Machtdemonstration bei Frauen geschlechtsspezifische Formen hat und auch im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu sehen ist. Anders als ihre männlichen Kollegen sind sie auf Grund ihres Geschlechts auch sexueller Gewalt ausgesetzt bzw. werden unter Strafandrohung unter Druck gesetzt, zu sexuellen Diensten zu sein. Daneben tragen auch sie das Risiko bei Fehlverhalten im Dienst bestraft und dabei menschenunwürdig behandelt zu werden. Das zusätzliche Risiko, bestraft zu werden, weil sie nicht zu sexuellen Diensten sein wollen, tragen nur weibliche Rekrutinnen. Auch dies spricht dafür, dass weibliche Rekrutinnen aufgrund ihres Geschlechts im militärischen Bereich des Nationaldienstes anders angesehen und behandelt werden als männliche Rekruten. Auch tragen nur Frauen in Eritrea das Risiko einer Stigmatisierung, wenn sie unehelich schwanger werden, selbst bei einer Vergewaltigung (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15). Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichters nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Im Lichte einer geschlechtersensiblen Auslegung geht daher der zuständige Einzelrichter davon aus, dass Frauen, die beachtlich wahrscheinlich in den militärischen Bereich einberufen werden, eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.
50
Der Klägerin droht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im militärischen Teil des Nationaldienstes eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. Da die Verfolgung im Nationaldienst von staatlichen Akteuren nach § 3c Nr. 1 AsylG ausgeht und innerhalb Eritreas keine Möglichkeit besteht, einer Einziehung in den Militärdienst zu entgehen (§ 3e Abs. 1 AsylG) hat die Klägerin damit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
51
Die Klage erweist sich damit insgesamt bereits im Hauptantrag als begründet.
52
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
53
Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).