Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 28.10.2024 – 203 VAs 424/24
Titel:

Strafvollstreckung, Beiordnung eines Rechtsanwalts, Vorschaltverfahren, Vollstreckungsbehörde, Bayerisches Oberstes Landesgericht, Ermessensentscheidung, Weitere Vollstreckung, Freiheitsstrafe, Untersuchungshaft, Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Generalstaatsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft, Ermessensfehler, Hinreichende Erfolgsaussicht, Schwere der Schuld, Nicht geringe Menge, Maßgeblicher Zeitpunkt, Festsetzung des Geschäftswerts

Normenketten:
EGGVG § 23
StPO § 456a
Leitsätze:
1. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO ist eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 28 Abs. 3 EGGVG.
2. Bei der Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung nach § 456a StPO abgesehen werden konnte, sind die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in eine Gesamtbetrachtung einzustellen.
3. Die persönlichen Verhältnisse und Belange eines Verurteilten sind zwar, soweit dies geboten erscheint, bei der zu treffenden Entscheidung angemessen zu berücksichtigen, stehen jedoch nicht im Vordergrund.
Schlagworte:
Strafvollstreckung, Ermessensentscheidung, gerichtliche Entscheidung, Vollstreckungsbehörde, Ausweisung, Betäubungsmittelkriminalität, Abschiebung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 37478

Tenor

1. Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 6. August 2024 wird auf seine Kosten als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung eines Rechtsanwalts wird zurückgewiesen.
4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Der Verurteilte befindet sich im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt S. . Er verbüßt seit dem 13. Januar 2021 eine Freiheitsstrafe von acht Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. September 2020 (6 KLs 140 Js 33549/19) wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Vom 28. September 2019 bis zum 12. Januar 2021 befand er sich in dieser Sache in Untersuchungshaft. Am 27. September 2023 war der Halbstrafenzeitpunkt erreicht, der Zweidritteltermin datiert auf den 24. Januar 2025. Gemäß seit 12. Juni 2021 unanfechtbarem und vollziehbaren Bescheid des Landratsamts Rosenheim vom 7. Mai 2021 wurde der Verurteilte aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Die albanischen Behörden haben mit Schreiben vom 16. Dezember 2022 die Übernahme der Strafvollstreckung abgelehnt.
2
Mit Verfügung vom 27. Februar 2024 hat die Staatsanwaltschaft Traunstein gemäß § 456a Abs. 1 StPO von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe zum Zeitpunkt der Abschiebung des Verurteilten, jedoch frühestens zum 24. Januar 2025 abgesehen. Mit anwaltlichem Schreiben vom 2. April 2024, ergänzt mit Schreiben des Antragstellers vom 18. Juni 2024 und 3. Juli 2024, hat der Verurteilte beantragt, von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe bereits vor dem Halbstrafentermin gemäß § 456a StPO abzusehen. Die Staatsanwaltschaft Traunstein hat diesen Antrag mit Verfügung vom 10. Juli 2024 abgelehnt. Gegen diese Verfügung hat der Verurteilte mit Schreiben vom 22. Juli 2024 Beschwerde eingelegt, welcher die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 24. Juli 2024 nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Bescheid vom 6. August 2024 die Einwendungen des Verurteilten zurückgewiesen. Gegen diesen ihm am 16. August 2024 zugestellten Bescheid hat der Verurteilte mit einem an das Amtsgericht Straubing gerichteten, von einem Bevollmächtigten mitgezeichneten Schreiben vom 19. August 2024, eingegangen beim Bayerischen Obersten Landesgericht am 3. September 2024, gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Schreiben vom 1. Oktober 2024 beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Wegen der Einzelheiten wird auf die jeweiligen Ausführungen Bezug genommen.
II.
3
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 Abs. 1, 2 EGGVG in Verbindung mit § 456a StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere wurde das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt. In der Sache hat der Antrag aber keinen Erfolg, weil die nach § 456a StPO getroffene Entscheidung keinen Ermessensfehler aufweist und der Verurteilte deswegen nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG).
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1. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO ist eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 28 Abs. 3 EGGVG (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 21. August 2023 – 203 VAs 243/23 –, juris Rn. 5; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 456a Rn. 14). Danach sind ablehnende Entscheidungen durch die Gerichte nur daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung willkürlich ist, wenn die Vollstreckungsbehörde von einem unvollständig ermittelten oder unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, wenn sie Gesichtspunkte zum Nachteil des Antragstellers berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung von Belang sein können, falsch bewertet oder außer Acht gelassen hat oder wenn sie insgesamt keine diese Prüfung ermöglichende Begründung enthält (vgl. KK-StPO/Mayer, 9. Aufl., EGGVG § 28 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., EGGVG, § 28 Rn. 10 m.w.N.).
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2. Gegenstand der Überprüfung ist dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Traunstein vom 10. Juli 2024 in der Gestalt, die sie durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 6. August 2024 im Vorschaltverfahren erhalten hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2021- 203 VAs 274/21-, juris Rn. 15 m.w.N.).
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3. Bei der Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung nach § 456a StPO abgesehen werden konnte, sind die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in eine Gesamtbetrachtung einzustellen (vgl. Graalmann-Scheerer a.a.O. Rn. 14; KK-StPO/Appl, a.a.O., § 456a Rn. 3a m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 456a Rn. 5 m.w.N.).
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4. Gemessen daran ist die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde im Rahmen der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Senats nicht zu beanstanden. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Ausführungen in der vorbezeichneten Verfügung der Staatsanwaltschaft Traunstein und im angefochtenen Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München Bezug. Ermessensfehler lässt die Ablehnung des Absehens von der weiteren Vollstreckung im Fall des Antragstellers nicht erkennen. Die Entscheidung ist so gefasst, dass sie dem Senat eine Überprüfung auf Ermessensfehler ermöglicht. Die Vollstreckungsbehörde hat von dem ihr eingeräumten Ermessen auf einer zutreffenden Sachverhaltsgrundlage Gebrauch gemacht und dieses unter Beachtung des Normzwecks und der zu § 456a StPO mit dem Zweck einer gleichmäßigen Ermessensausübung erlassenen Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz sowie unter Berücksichtigung der Umstände der Tat, der Schwere der Schuld, der Verbüßungsdauer, des öffentlichen Interesses an einer nachhaltigen Strafvollstreckung und der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten rechtsfehlerfrei ausgeübt.
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a) Der Zweck der Ermächtigung des § 456a StPO liegt in der Entlastung des Vollzugs bei Straftätern, die das Bundesgebiet aufgrund hoheitlicher Anordnung verlassen müssen und denen gegenüber die weitere Vollstreckung weder unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung noch unter dem der Prävention sinnvoll wäre (Senat, Beschluss vom 21. August 2023 – 203 VAs 243/23 –, juris Rn. 9; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8; KK-StPO/Appl a.a.O. § 456a Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 456a Rn. 1).
9
b) Bei ihrer Entscheidung durfte die Vollstreckungsbehörde nach dem oben Gesagten den Unrechtsgehalt und die Umstände der von dem Antragsteller begangenen Taten in die Abwägung mit einstellen (st. Rspr., vgl. auch Senat a.a.O. Rn. 10 m.w.N.).
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c) Demgemäß ist nach Ziffer 2.2 der Ergänzenden Bestimmungen zur Strafvollstreckungsordnung (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 22. Juni 2006, Az. 4300 – II – 787/05 (JMBl. S. 91) -ErgStVollstrO) i.V.m. § 17 Abs. 1 BayStVollstrO eine über den Halbstrafenzeitpunkt hinausgehende Vollstreckung ungeachtet der Prüfung des Einzelfalls angezeigt, wenn – wie hier – die Verurteilung wegen eines Verbrechens aus dem Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität erfolgte oder der Verurteilte – ebenfalls wie hier – zur Tatbegehung nach Deutschland eingereist ist. Dann nähert sich der maßgebliche Zeitpunkt für die Anwendung des § 456a StPO dem Beginn des letzten Strafdrittels, falls nicht besondere Umstände sogar die vollständige Verbüßung der Strafe erfordern. Damit übereinstimmend hat die Staatsanwaltschaft Traunstein in ihrer Verfügung vom 27. Februar 2024 von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe zum Zeitpunkt der Abschiebung des Verurteilten, jedoch frühestens zum 24. Januar 2025 abgesehen.
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d) Dass es sich beim Verurteilten um einen Ausländer handelt, der aus persönlichen Gründen gerne wieder in sein Heimatland zurückkehren würde, hat die Vollstreckungsbehörde nicht aus dem Blick verloren. Einen Anspruch auf ein Absehen von der weiteren Vollstreckung nach Verbüßung der Halbstrafe kann der Antragsteller daraus jedoch nach der Begehung von schweren Straftaten nicht herleiten (Senat a.a.O. Rn. 12; vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 29. April 2020 – 2 VAs 3/20 –, juris Rn. 13). Die persönlichen Verhältnisse und Belange eines Verurteilten sind zwar, soweit dies geboten erscheint, bei der zu treffenden Entscheidung angemessen zu berücksichtigen, stehen jedoch nicht im Vordergrund (Senat a.a.O. Rn. 12; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8). Dementsprechend ergibt sich ein Anlass für eine andere Beurteilung auch nicht aus den Ausführungen des Verurteilten in seiner Antragsschrift.
III.
12
1. Die Tragung der Gerichtskosten durch den Antragsteller wird unmittelbar durch das Gesetz geregelt (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG). Es besteht kein Anlass, die Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dem Antragsteller entstandenen außergerichtlichen Kosten aus der Staatskasse anzuordnen (§ 30 EGGVG).
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2. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts kam mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung nicht in Betracht (§ 29 Abs. 4 EGGVG i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO).
14
3. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 1 Abs. 2 Nr.19 i.V.m. § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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4. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.