Titel:
Erfolglose Klage gegen die Anordnung der Vorlage eines Nachweises über den ausreichenden Masernschutz eines schulpflichtigen Kindes
Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 S. 1
IfSG § 20 Abs. 9–13
Leitsätze:
1. Die Nachweispflicht für einen Masernschutz für schulpflichtige Kinder ist verfassungsgemäß. Bei dem Erlass von Zwangsmitteln zur Durchsetzung einer Aufforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG haben die Infektionsschutzbehörden ihr Ermessen auszuüben und die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte Spannungslage zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht sowie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes einerseits und dem Allgemeingut des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu berücksichtigen und im Einzelfall unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu bewerten. (Rn. 19 – 41)
2. Ein ärztliches Zeugnis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG über eine medizinische Kontraindikation muss dabei wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis zu überprüfen. Nicht ausreichend ist ein ärztliches Zeugnis, das lediglich den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG wiederholt und sich insoweit auf die bloße Behauptung beschränkt, dass eine medizinische Kontraindikation vorliege, ohne diese konkret zu benennen. (Rn. 44 – 48)
Schlagworte:
Verfassungsmäßigkeit der Nachweispflicht für schulpflichtige Kinder für einen Schutz gegen Masern, Masernimpfung, schulpflichtige Kinder, Nachweispflicht, Zwangsmittel, ärztliches Zeugnis, Kontraindikation
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Urteil vom 01.07.2024 – B 7 K 23.793
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 36848
Tenor
1. Die Berufung wird zurückgewiesen
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläger.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 22. August 2023, durch den sie verpflichtet werden, einen Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz für ihren schulpflichtigen Sohn, geb. ... 2014, vorzulegen. Dieser besuchte zunächst den Kindergarten und ist seit September 2021 Schüler in der Grundschule.
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Mit E-Mail vom 8. Juli 2020 wandte sich die Klägerin zu 1 an das Landratsamt mit der Bitte, die von einem Arzt ausgestellten Impfunfähigkeitsbescheinigungen vom 2. Juli 2020 für ihre beiden Kinder als Nachweis zur Vorlage für den Kindergarten zu bestätigen. Hierzu legte die Klägerin zu 1 dem Landratsamt am 13. Juli 2020 die Bescheinigungen sowie am 2. Februar 2021 Patienteninfos der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg über die Kostenabrechnung mit dem Arzt vor. Aus letzterem ergibt sich, dass für den Sohn die Diagnose „D80.9: Immundefekt mit vorherrschendem Antikörpermangel, nicht näher bezeichnet. Sicher: G“ abgerechnet wurde.
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Mit Schreiben vom 5. April 2021 wurde durch den Klägerbevollmächtigten der „Antrag auf Anerkennung der Bescheinigungen“ zurückgenommen. Es sei nicht erforderlich bzw. es fehle an einer entsprechenden Rechtsgrundlage, das Gesundheitsamt in die Anerkennung etwaiger Gesundheitszeugnisse miteinzubeziehen. Eine Impfunfähigkeitsbescheinigung sei vorgelegt worden, womit der Nachweispflicht nachgekommen worden sei.
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Mit Schreiben vom 7. Mai 2021 wies das Landratsamt auf Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigungen hin. Hierfür spreche insbesondere, dass für beide Kinder zwei im Wesentlichen gleichlautende Atteste ausgestellt worden seien und bei zumindest einer der Diagnosen die Ausstellung nicht nachvollziehbar sei. Darüber hinaus sei über den Arzt aus den Medien bekannt, dass er Impfunfähigkeitsbescheinigungen in großer Zahl ausstelle. Überdies sei die Praxis etwa 200 Kilometer vom Wohnsitz der Kläger entfernt. Die Kläger wurden in dem Schreiben letztlich aufgefordert, einen Nachweis eines anderen Arztes bis zum Ablauf der nach damaliger Rechtslage maßgeblichen Frist zum 31. Dezember 2021 vorzulegen. Am 9. Juli 2021 legte der Kläger zu 2 beim Landratsamt zwei inhaltlich identische Bescheinigungen eines anderen Arztes vom 21. April 2021 vor, die beiden Kindern bescheinigen, sie seien „ab sofort und zeitlich unbegrenzt für jede Art von Impfstoff“ von einer Impfpflicht freizustellen. Mit Schreiben vom 11. Januar 2023 äußerte das Landratsamt Zweifel an den Bescheinigungen, da es sich jeweils um einen pauschal formulierten Vordruck handle und bekannt sei, dass der Arzt eine Vielzahl derartiger Bescheinigungen ausstelle. Die Kläger wurden aufgefordert, bis zum 15. März 2023 Atteste eines anderen Arztes vorzulegen, die Angaben über den Zeitraum und nähere Angaben über den Grund der Impfunfähigkeit enthielten. Mit Schreiben vom 25. Mai 2023 forderte der Beklagte die Kläger nochmals zur Vorlage bis spätestens 30. Juni 2023 auf. Mit anwaltlichem Schreiben vom 1. Juli 2023 wiesen die Kläger die Bedenken gegen die Nachweise zurück. Daraufhin kündigte das Landratsamt mit Schreiben vom 21. Juli 2023 den Erlass eines kostenpflichtigen Bescheides an, durch den die Kläger verpflichtet werden sollen, einen Nachweis für ihren Sohn vorzulegen.
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Mit Bescheid vom 22. August 2023, zugestellt gegen Empfangsbekenntnis am 1. September 2023, wurden die Kläger verpflichtet, für ihren Sohn bis spätestens 30. November 2023 einen in Ziffer 2 des Bescheides näher bezeichneten Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz (Impfdokumentation, Attest über Immunität oder Attest über medizinische Kontraindikation) vorzulegen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG verwiesen. Die bislang vorgelegten Bescheinigungen würden nicht anerkannt, da sie keine medizinischen Angaben enthielten, die eine Überprüfung der Bescheinigungen ermöglichten. Überdies sei eine der Praxen offensichtlich Anlaufpunkt für viele Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen möchten. Die Anordnung sei auch nicht unzumutbar, da Masern eine gefährliche Infektionskrankheit sei.
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Die hierauf von den Klägern erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 1. Juli 2024 ab. Das Gericht habe keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen, sodass weder eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht, noch eine Aussetzung des Verfahrens analog § 94 VwGO geboten sei. Das BVerfG habe mit Beschluss vom 21. Juli 2022 (1 BvR 469/20 u.a. – juris) mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen Bestimmungen richteten, die durch das am 1. März 2020 in Kraft getretene Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) in das IfSG eingefügt worden seien. Allerdings hätten sich die Verfassungsbeschwerden nur insoweit gegen die Regelungen des § 20 IfSG gerichtet, als sie Kinder beträfen, die in einer Kindertageseinrichtung oder in einer nach § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtigen Kindestagespflege betreut würden (vgl. § 33 Nr. 1 und 2 IfSG) und die daher gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1, Abs. 9 Satz 1 IfSG eine Impfung gegen Masern nachweisen müssten. Von den Verfassungsbeschwerden nicht erfasst seien insbesondere von der Auf- und Nachweispflicht betroffene Schüler gewesen. Gleichwohl sei auch in der hier vorliegenden Konstellation die Verfassungsmäßigkeit zu bejahen. Die Ausführungen des BVerfG seien – auch wenn sie unmittelbar nur auf nicht-schulpflichtige Kinder bezogen seien – auf die hiesige Konstellation übertragbar. Insbesondere ließen die vom BVerfG herangezogenen Statistiken erkennen, dass auch bei schulpflichtigen Kindern die Impfquote unterhalb des für erforderlich gehaltenen Wertes von 95% liege. So betrage die Quote bei den Schuleingangsuntersuchungen nur 93,1%. Auch erscheine es naheliegend, dass die Infektionsrisiken aufgrund des engen Kontakts zwischen den Kindern in Schulen, insbesondere in Grundschulen, nicht wesentlich geringer sein dürften als in Kindertagesstätten und vergleichbaren Einrichtungen.
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Für die Angemessenheit spreche gerade im Kontext des Schulbesuchs von schulpflichtigen Kindern ferner, dass die Rechtsfolgen einer Nichterfüllung der Nachweispflicht weitaus milder ausgestaltet seien als in den vom BVerfG behandelten Fallkonstellationen. So könne im Regelfall zwar gemäß § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot ausgesprochen werden, wenn kein Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorgelegt oder der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nicht Folge geleistet werde. Gemäß § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG könne jedoch Personen, die einer gesetzlichen Schulpflicht unterlägen, nicht untersagt werden, die dem Betrieb einer Einrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG dienenden Räume (Schule) zu betreten. Somit habe der Gesetzgeber gerade für den Fall der Schulpflicht die schwerwiegende Rechtsfolge einer Untersagung des Schulbesuchs, die mit Blick auf die Entwicklung des Kindes erhebliche Folgen hätte, ausgeschlossen. Hierdurch werde auch der vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in einer bestimmten Weise auszuüben, in erheblicher Weise abgeschwächt. Schließlich streite für die Angemessenheit der Regelungen auch, dass für eine Durchsetzung der Nachweispflicht mit Verwaltungszwang – ein solcher sei im vorliegenden Fall nicht einmal angedroht – hohe Anforderungen zu stellen seien. Zwar gehe der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung davon aus, dass die Vorlagepflicht gegenüber dem Gesundheitsamt eine durch Verwaltungsvollstreckungsrecht – und insbesondere mit Zwangsgeld – durchsetzbare Pflicht darstelle. Dies sei jedoch restriktiv zu verstehen. Denn Verwaltungszwang in Form von Zwangsgeldern dürfe bei schulpflichtigen Kindern nicht zu einer faktischen Impfpflicht führen (BayVGH, B.v. 21.9.2023 – 20 CS 23.1432 – juris Rn. 5). Auch der Kostenrahmen (vgl. Art. 1, 2, 6 Abs. 1 Satz 2 KG) für die Gebühren der behördlichen Anordnung stelle keine unangemessene Belastung für die Adressaten dar, da es sich regelmäßig schon kraft Gesetzes um „überschaubare“ Beträge handele. Bei entsprechender Anwendung von Tarif-Nr. 2.II.1/1 KVz – wie im vorliegenden Fall geschehen – bewegten sich die Gebühren beispielsweise innerhalb eines Rahmens von 15 bis 600 EUR. Weitere Nachteile – abgesehen von ggf. etwaigen Bußgeldverfahren (vgl. § 73 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1a Nr. 7d IfSG), die jedoch eine andere „Stoßrichtung“ als verwaltungsrechtliche Grund- und Zwangsmittelverfügungen hätten –, drohten Nachweispflichtigen bei Nichterfüllung der Nachweispflicht bei Schulpflichtigen nicht. Demgegenüber müssten Eltern nicht-schulpflichtiger Kinder den gravierenden Nachteil in Kauf nehmen, dass sie eine andere Form der Kinderbetreuung (z.B. in der nicht erlaubnispflichtigen Tagespflege) finden müssten.
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Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 20 Abs. 12 Satz 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSG seien vorliegend erfüllt. Einen den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG über eine bei ihrem Sohn im Hinblick auf die Masernschutzimpfung bestehende medizinischen Kontraindikation hätten die Kläger bisher nicht vorgelegt. Die Anforderungen an den Inhalt eines ärztlichen Zeugnisses über eine Kontraindikation ergäben sich aus der Auslegung der einschlägigen Rechtsvorschriften, insbesondere aus der Regelungssystematik und dem Sinn und Zweck von § 20 IfSG. Gemäß § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG könne das Gesundheitsamt bei Zweifeln an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises unter anderem eine ärztliche Untersuchung im Hinblick auf die medizinische Kontraindikation anordnen. Der Nachweis müsse daher wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis auf Plausibilität hin zu überprüfen. Nicht ausreichend sei ein ärztliches Zeugnis, dass lediglich den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG wiederhole und sich insoweit auf die bloße Behauptung beschränke, dass eine medizinische Kontraindikation vorliege. Diesen Mindestanforderungen würden die beiden von den Klägern vorgelegten Bescheinigungen – wie sie im Schriftsatz vom 6. November 2023 selbst einräumten – nicht gerecht. Eine medizinische Kontraindikation werde nicht näher konkretisiert. Vielmehr werde jeweils nur pauschal auf einem offensichtlich vorgefertigten Formular eine Freistellung von jeglicher Impfung ausgesprochen. Unbeachtlich sei, dass sich aus den Patienteninfos der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg über die Kostenabrechnung die Diagnose „Immundefekt mit vorherrschendem Antikörpermangel“ ergebe. Denn diese seien kein ärztliches Zeugnis i.S.v. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG. Ein solches müsse vom Arzt selbst ausgestellt sein, was hier ersichtlich nicht der Fall sei. Die Vorlage eines nicht den Mindestanforderungen entsprechenden Nachweises sei einer Nichtvorlage gleichzustellen, da das vorgelegte Dokument in diesem Fall schon formal kein Nachweis i.S.v. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG sei. Entgegen der Auffassung der Kläger sei das Landratsamt auch nicht gehalten gewesen, zunächst gemäß § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG, eine ärztliche Untersuchung anzuordnen oder Dritte zur Erteilung von Auskünften zu verpflichten. Denn diese Vorschrift betreffe nur den Fall, dass Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises bestünden.
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Mit ihrer vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Berufung beantragen die Kläger sinngemäß
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unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 1. Juli 2024, den Bescheid des Beklagten vom 22. August 2023 aufzuheben.
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Der Sachverhalt wäre relativ unproblematisch, wenn eine Masernimpfung tatsächlich immer unproblematisch wäre und ärztliche Bedenken von den zuständigen Gesundheitsämtern auch nur ansatzweise ernst genommen würden und diese ihren gesetzlich vorgesehenen Überprüfungspflichten nachkommen würden. Letzteres sei jedoch erkennbar nicht der Fall. Im Rahmen der letzten Corona-Pandemie habe ein Impfwahnsinn in dieser Republik Einzug gehalten, der mit rationalen Argumenten nicht mehr erklärbar sei und der sich erkennbar auch im Umgang mit der Masernnachweispflicht auswirke. Es bestünden zu Recht erheblichste Bedenken gegen eine Impfpflicht, die aufgrund verpflichtenden Schulbesuchs durch die Feststellung der Rechtmäßigkeit des § 20 IfSG konstituiert wäre. Gesundheitsfürsorge sei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insbesondere aufgrund der Anerkennung des Menschen als Individuum stets der persönlichen Eigenverantwortung überlassen worden. Dass die Gerichte während der Corona-Pandemie hier durch die Absegnung eines staatlich gewollten Gesundheitskommunismus unisono mit der Politik beispiellose Grundrechtsverletzungen durchgepeitscht hätten, die sich anhand der mittlerweile veröffentlichten „RKI-Files“ als schwerer Betrug an der Bevölkerung erwiesen hätten, sei bis heute nicht aufgearbeitet worden. Die mittlerweile abenteuerliche Konstruktion des BayVGH zur Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Nachweispflicht lasse sich nur noch als Eiertanz bezeichnen zum vermeintlichen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Eltern sowie den politischen Vorgaben durch das Gesetz. Ausweislich der Akte hätten die Eltern als Kläger entsprechende Nachweise dem Gesundheitsamt vorgelegt, die, auch angesichts der weiteren Angaben durch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württembergs über die Kostenabrechnung mit dem Arzt, zumindest dazu hätten führen müssen, weitere Ermittlungen einzuleiten. Dies sei offensichtlich nicht geschehen. Die Auffassung des VG Düsseldorf, dass der Gesetzgeber von einer Erfüllung der Nachweispflicht auch dann ausgehe, wenn Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises bestünden, sei zutreffend. Das ergebe sich bereits aus dem Wortlaut von § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG, in dem von Zweifeln an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des „vorgelegten“ die Rede sei. Es folge im Übrigen eindeutig aus der weiteren, in § 20 Abs. 12 Sätze 2 bis 4 IfSG geregelten Vorgehensweise des Gesundheitsamts. Der Gesetzgeber unterscheide allein zwischen dem Fall, dass Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises bestünden (§ 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG), und dem Fall, dass ein Nachweis nicht innerhalb einer angemessenen Frist vorgelegt werde (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG). Im Umkehrschluss heiße das, dass auch ein inhaltlich zweifelhafter Nachweis als vorgelegt gelte.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 1. Juli 2024 zurückzuweisen.
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Es sei indes gerade nicht so, dass durch § 20 IfSG bzw. durch die Feststellung seiner Rechtmäßigkeit (Verfassungsmäßigkeit) aufgrund des verpflichtenden Schulbesuchs eine Impfpflicht konstituiert wäre. Vielmehr entbinde der Schulbesuch im Rahmen der Schulpflicht letzten Endes die Schülerinnen und Schüler von einer – von ihnen oder ihren Eltern – unter keinen Umständen gewollten Impfung nach § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG. Dessen unbeschadet bestehe nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG für Schülerinnen und Schüler als Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG betreut werden, die Verpflichtung zum Auf- und Nachweis der Immunität gegen Masern. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung hielten die Gesundheitsämter zu Recht an, wenn sie bei unzureichenden Unterlagen über eine medizinische Kontraindikation gegen die Masernschutzimpfung auf die Impfung selbst hinwirkten. Das Verwaltungsgericht gehe zu Recht davon aus, dass die Kläger einen solchen Nachweis bisher nicht erbracht hätten.
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Mit Beschluss vom 14. Oktober 2024 hat der Senat die von den Klägern beantragte Aussetzung des Berufungsverfahrens abgelehnt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten und hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagte ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Rechtsgrundlage für die Anordnung der Vorlagepflicht ist § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Demnach haben Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden, dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen (§ 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG). Soweit – wie hier – die verpflichtete Person minderjährig ist, hat derjenige für die Einhaltung der diese Person nach den Absätzen 9 bis 12 treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG).
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b) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser gesetzlich normierten Vorlagepflicht bestehen auch im Falle von Kindern, die einer Schulpflicht unterliegen, nicht. Insoweit wird zunächst auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 21. Juli 2022 (Az.:1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378) verwiesen. Mit diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden von Beschwerdeführern die von der Nachweispflicht bei der Betreuung in Kindertageseinrichtungen oder der Kindertagespflege betroffen waren, mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der durch das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) eingefügte § 20 Abs. 8 Satz 3 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen in Übereinstimmung mit den Gründen dieser Entscheidung (C II 4 a) verfassungskonform auszulegen ist. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die angegriffenen Vorschriften als verfassungsgemäß eingestuft. Die Frage, ob die Nachweispflicht auch bei schulpflichtigen Kindern grundgesetzkonform ist, war jedoch nicht Gegenstand der Entscheidung. Die maßgeblichen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts sind aber auch auf diese Fallkonstellation im Wesentlichen übertragbar. Auch die Nachweispflicht für schulpflichtige Kinder ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Allerdings haben die Infektionsschutzbehörden im Rahmen der Vollstreckung einer Anordnung zur Beibringung eines Nachweises aus § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG ihr Ermessen auszuüben und die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte Spannungslage zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht sowie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes und dem Allgemeingut des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu berücksichtigen und im Einzelfall unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu bewerten (BayVGH, B. v. 7.5.2024 – 20 CS 24.428 – BeckRS 2024, 12189 Rn. 7).
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b) Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2022 (Az.:1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn. 75) kommen die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises in Zielsetzung und Wirkung als Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde. Auf die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Entschließungsfreiheit der Eltern wird damit erheblich in Richtung der Vornahme von Masernimpfungen bei ihren Kindern eingewirkt. Diese Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes verknüpfen die Wahrnehmung grundrechtlich gewährleisteter Freiheit daher mit so gewichtigen nachteiligen Konsequenzen, dass sie in ihrer Wirkung einer Impfpflicht gleichkommen. Die Regelungen greifen zudem – ebenfalls zielgerichtet mittelbar – in das Grundrecht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein oder beeinträchtigen alternativ – abhängig von der Entscheidung der Eltern – das Recht der Kinder auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG).
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Allerdings muss bei schulpflichtigen Kindern berücksichtigt werden, dass nach § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG einer Person, die einer gesetzlichen Schulpflicht unterliegt, in Abweichung von Satz 4 nicht untersagt werden kann, die dem Betrieb einer Einrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG dienenden Räume zu betreten. Damit scheint sich zwar die Eingriffsintensität der Regelung im Falle der schulpflichtigen Kinder und deren Eltern zu reduzieren. Zu bedenken ist jedoch, dass der Gesetzgeber die Anordnung zur Beibringung eines Nachweises nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG als sofort vollstreckbaren Verwaltungsakt (§ 20 Abs. 12 Satz 7 und 8 IfSG) ausgestaltet hat, der grundsätzlich mit Zwangsmitteln, die in den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen der Bundesländer hierfür vorgesehen sind, vollzogen werden kann. Bei der Vorlagepflicht an das Gesundheitsamt sollte es sich nach der Konzeption des Gesetzgebers um eine durch Verwaltungsvollstreckungsrecht und insbesondere mit Zwangsgeld durchsetzbare Pflicht handeln. Zusätzlich oder alternativ könne ein Bußgeld verhängt werden (BT-Drs. 19/13452, 30). Adressat einer entsprechenden Anforderung ist nach § 20 Abs. 13 IfSG bei minderjährigen, schulpflichtigen Kindern eine sorgeberechtigte Person, also in der Regel die Eltern.
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Allein der durch die Verwaltungsvollstreckung ausgeübte psychische und finanzielle Druck kann geeignet sein, den Willen der Eltern zu beugen und sie zu bewegen, ihrer Verpflichtung nachzukommen (vgl. BVerfG, U. v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04 – BVerfGE 121, 69 Rn 76: Zwangsmittel gegen einen umgangsunwilligen Elternteil). Die Möglichkeit der Vollstreckung ist damit bei der Bewertung der Eingriffsqualität miteinzubeziehen und entsprechend im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung der Nachweispflicht zu bewerten.
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c) Die Eingriffe sowohl in das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch diejenigen in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder sind verfassungsrechtlich bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt. So genügen sie den Anforderungen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts und sind im verfassungsrechtlichen Sinn verhältnismäßig (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn 93 f.).
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Die Regelungen über die Beibringung eines Impfnachweises in Einrichtungen sind in der durch das Bundesverfassungsgericht gefundenen Auslegung insbesondere im verfassungsrechtlichen Sinne verhältnismäßig. Mit ihnen verfolgt der Gesetzgeber legitime Zwecke. Die Regelungen sind zur Erreichung dieses Zwecks sowohl geeignet als auch erforderlich. Trotz des nicht unbeträchtlichen Eingriffsgewichts belasten sie weder die betroffenen Kinder noch deren Eltern in ihren jeweiligen Grundrechten unzumutbar, sondern sind zum Schutz von Personen, die durch eine Masernerkrankung besonders gefährdet sind, verhältnismäßig im engeren Sinne.
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aa) Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 16). Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. Das kann vor allem bei Personen mit geschwächtem oder fehlendem Immunsystem der Fall sein. Aber auch Säuglinge können betroffen sein. Sie sollen in der Regel frühestens im Alter von neun Monaten geimpft werden. Dann hat ihr gegebenenfalls durch die Mutter erlangter Immunschutz aber bereits nachgelassen. Sie sind deswegen darauf angewiesen, dass alle Menschen in ihrer Umgebung geimpft sind und sie dadurch vor einer Ansteckung bewahrt werden. Es besteht daher ein hohes öffentliches Interesse an einem den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission entsprechenden Impfschutz der Bevölkerung. Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 26). Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs zielen die gegenständlichen Vorschriften des Masernschutzgesetzes darauf ab, durch Schutzimpfungen eine Infektion mit hochansteckenden Masern sowie die mit schweren Komplikationen bis hin zu Todesfällen verlaufenden Masernerkrankungen zu verhindern (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 16). Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach (BVerfG, B. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 – Rn. 155 m.w.N.). Die Pflicht umfasst auch den Schutz solcher Personen vor den Gefahren einer Masernerkrankung, die sich durch eine Impfung individuell nicht dagegen schützen können. Bei dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotenen Lebens- und Gesundheitsschutz von vulnerablen Personen handelt es sich selbst um ein Verfassungsgut, welches grundsätzlich eine Einschränkung des nicht mit einem Gesetzesvorbehalt versehenen Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wie auch des Grundrechts der zu impfenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen kann (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn 107).
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Die Annahme des Gesetzgebers, es handele sich bei Masern um eine der ansteckendsten Infektionskrankheiten beim Menschen, die in einer nicht geringen Zahl von Fällen zu schweren Komplikationen führt (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 16 und 26), beruht auf zuverlässigen Grundlagen. Gleiches gilt für die Einschätzungen einer bei Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes für den Gemeinschaftsschutz nicht ausreichend hohen Impfquote und von Infektionsgefahren für vulnerable Personen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 1 f. und 16). Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums konnte der Gesetzgeber im Einklang mit Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage für durch eine Masernerkrankung verletzliche Personen ausgehen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn. 108). Auch die Annahme fehlender Herdenimmunität und des Auftretens von Maserninfektionen in vom Masernschutzgesetz erfassten Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen beruhte bei dessen Verabschiedung auf zuverlässigen Erkenntnissen (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn. 110).
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Die tatsächlichen Grundlagen der gesetzgeberischen Annahme einer Gefahrenlage für Personen mit fehlender Immunität gegen Masern haben sich nachträglich nicht in einer Weise verändert, die die verfassungsrechtliche Legitimität der verfolgten Zwecke in Frage stellt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Masern in Deutschland zwischenzeitlich eliminiert wurden. Die Regionale Verifizierungskommission der europäischen WHO-Region bewertet alljährlich die eingesandten Berichte aller Mitgliedstaaten der Region und entscheidet, ob einem Mitgliedstaat eine Unterbrechung der Transmission oder letztendlich der Status der Elimination der Masern oder Röteln ausgesprochen werden kann. Für die Masern konnte im Gegensatz zu den Röteln aus Sicht der Regionalen Verifizierungskommission bisher nicht eindeutig belegt werden, dass in Deutschland eine endemische Transmission der Masern unterbrochen ist. Somit gilt für Deutschland weiterhin der Status einer endemischen Transmission (vgl. https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/376606/WHO-EURO-2024-9722-49494-74055-eng.pdf?sequence=1; https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04.html, Stand: 14. März 2023; https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html, Wie ist der aktuelle Stand der Elimination von Masern und Röteln in Deutschland? Stand: 29.10.2024). Nach der zusammenfassenden Einschätzung der aktuellen epidemiologischen Situation im Epidemiologischen Bulletin vom 15. April 2024 (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2024/Ausgaben/15_24.pdf? blob=publicationFile) sind die Masern „nach Deutschland „zurückgekehrt“. Seit 2023 steigen die Fallzahlen wieder an, liegen jedoch noch auf einem niedrigeren Niveau als in den Jahren vor der COVID-19-Pandemie. In anderen Ländern der europäischen WHO-Region werden teilweise deutlich höhere Fallzahlen gemeldet. Ein hoher Anteil der gegenwärtig in Deutschland beobachteten Fälle wurde aus dem Ausland importiert. Ein Anstieg der Masernfallzahlen war erwartbar, nachdem weltweit Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wieder aufgehoben wurden. Der weltweite Rückgang der Masernfälle erklärt sich leider nicht durch Maßnahmen zur Verbesserung der Immunitätslage gegen Masern und Eindämmung der Maserntransmission, denn aufgrund der Pandemie wurden geplante Impfkampagnen in vielen Ländern nicht durchgeführt und Millionen Kinder blieben ungeimpft. Hierzulande brechen die Infektionsketten meist schnell wieder ab oder dauern nur wenige Wochen an. Es gibt aktuell in Deutschland keinen Hinweis auf eine endemische Transmission der Masern. Deutschland hat von der WHO für das Jahr 2022 erstmals den Status der Unterbrechung der endemischen Transmission der Masern erhalten. Die kurzen Infektionsketten deuten auf eine hohe Immunität in der Bevölkerung hin, die die Masernausbreitung mittlerweile deutlich erschwert. Deutschland hat somit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Masernelimination getan. Um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen und dann auch aufrechtzuerhalten, müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die bestehenden Immunitätslücken so schnell wie möglich zu schließen. Dies gilt insbesondere für die Altersgruppe der 2- bis 4-jährigen Kinder.“
28
bb) Die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Auf- und Nachweispflicht ist ebenso wie eine hierauf gerichtete vollstreckbare Anordnung (§ 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG) im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem Masernschutzgesetz verfolgten Zwecke zu erreichen.
29
(1) Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern oder sich sogar gegenläufig auswirken kann (BVerfG, B. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 –, Rn. 166; stRspr).
30
(2) Daran gemessen erweisen sich die angegriffenen Regelungen als geeignetes Mittel, um vulnerable Personen vor einer Masernerkrankung und damit gegebenenfalls einhergehenden schweren Krankheitsverlaufen zu schützen. Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Eine vollstreckbare Anordnung ist auch grundsätzlich geeignet Druck auf impfunwillige Eltern auszuüben, um so die Zahl der geimpften Schüler zu erhöhen. Denn es ist nicht anzunehmen, dass sämtliche Eltern nicht geimpfter, schulpflichtiger Kinder die Befolgung einer mit Verwaltungszwang vollstreckbaren Anordnung ablehnen. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivitat von 95 bis 100% im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs (vgl. zu beidem RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 10 f.; siehe auch WHO Positionspapier – April 2017, Weekly epidemiological record, No. 17, 2017, 92, 213 ff.). Der Impfschutz wirkt lebenslang.
31
cc) Die Pflichten, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie ihre zwangsweise Durchsetzung sind sowohl zum Schutz der Einzelnen als auch zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Unter Berücksichtigung eines dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums ist nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleichen, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung standen (vgl. hierzu BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn 124 und 125).
32
Bestehende Unsicherheiten über die Wirksamkeit der vom Gesetzgeber gewählten Maßnahmen zur Zielerreichung einerseits und weiterer möglicherweise geeigneter Maßnahmen andererseits eröffnen dem hier zum Schutz besonders gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter, nämlich von Leben und Gesundheit vulnerabler Personen, handelnden Gesetzgeber nach dem dargelegten Maßstab einen Einschätzungsspielraum. Der Gesetzgeber konnte davon ausgehen, dass Maßnahmen zur Steigerung der Masernimpfquote, die nicht mit Auf- und Nachweispflichten verbunden sind, zur Erreichung der Gesetzesziele nicht sicher gleich wirksam sind. Auf der Grundlage der vorhandenen, wenn auch kontrovers bewerteten Erkenntnisse zur Impfbereitschaft und den dafür maßgeblichen Gründen durfte der Gesetzgeber unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums annehmen, ohne entsprechenden Druck auf die Willensbildung der Eltern die erforderliche Impfquote nicht gleichermaßen erreichen zu können. Dies trifft auch bei schulpflichtigen Kindern zu, auch wenn diesen nach dem gesetzgeberischen Willen bei Verstoß gegen die Nachweispflicht nicht das Betreten der Schule verboten werden kann. Zwar liegt es auf der Hand, dass der Erlass einer mit Verwaltungszwang durchsetzbaren Anordnung nicht annähernd die gleiche Wirkung entfalten kann, wie ein entsprechendes Betretungsverbot. Allein der durch die Verwaltungsvollstreckung ausgeübte psychische und finanzielle Druck ist jedoch grundsätzlich geeignet, den Willen der Eltern oder eines Elternteiles zu beugen und sie zu bewegen, ihrer Verpflichtung nachzukommen (vgl. BVerfG, U. v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04 – BVerfGE 121, 69 Rn 76: Zwangsmittel gegen einen umgangsunwilligen Elternteil).
33
dd) Die Vorschriften über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie deren grundsätzliche Vollstreckbarkeit mit Verwaltungszwang erweisen sich auch als angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinn. Trotz des nicht unerheblichen Gewichts der mittelbaren Eingriffe in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und in das der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG werden diese jeweils nicht unzumutbar im Hinblick auf den Schutz von Leben und Gesundheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen belastet. Allerdings ist im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung der gesetzgeberischen Konzeption der Nachweispflicht unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Rechnung zu tragen.
34
(1) Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (vgl. BVerfGE 155, 119 <178 Rn. 128>; stRspr). Danach greifen die Vorschriften mit nicht unerheblichem Gewicht zielgerichtet mittelbar sowohl in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder ein (a). Dem steht jedoch mit dem Schutz vor den Gefahren einer Masernerkrankung als dringlicher Zweck der Schutz hochwertiger Rechtsguter Dritter gegenüber (b). Die Abwägung zwischen den Grundrechtsbeeinträchtigungen einerseits und den mit den beanstandeten Regelungen bezweckten Gemeinwohlbelangen andererseits hält verfassungsrechtlicher Prüfung stand (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn. 131).
35
(a) Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes greifen in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenem Gewicht sowohl in das Elternrecht als auch in die körperliche Unversehrtheit der Kinder ein.
36
(aa) Der Eingriff in das Elternrecht durch § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG, der ihnen die Erfüllung der Pflichten aus den Absätzen 9 bis 12 auferlegt, ist im Falle eines Betretungsverbotes für sich genommen lediglich von geringem Gewicht. Insoweit handelt es sich letztlich um eine Ausprägung der gesetzlichen Vertretung ihrer Kinder nach § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn 131). Dies gilt allerdings nicht ohne weiteres Falle des Erlasses einer vollstreckbaren Anordnung, welche grundsätzlich im Wege des Verwaltungszwanges durchgesetzt werden kann. In einem solchen Fall sind die Eltern Adressaten eines belastenden Verwaltungsaktes und damit auch direktes Ziel von Vollstreckungsmaßnahmen. Hierbei kommen nach dem Vollstreckungsrecht des Beklagten grundsätzlich Zwangsgeld (Art. 31 VwZVG) und ggf. Ersatzzwangshaft (Art. 33 VwZVG) in Betracht. Unmittelbarer Zwang ist kraft Bundesrechts ausgeschlossen (BT-Drs. 19/13452 S. 2) und ginge auch ins Leere, da eine unmittelbare einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht besteht, sondern lediglich eine Nachweispflicht.
37
(bb) Entscheidungen über die Vornahme von Impfungen bei Kindern gehören als Teil der Gesundheitssorge zu den wesentlichen Elementen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Elternverantwortung. Wie stets ist aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der Ausübung des Elternrechts (vgl. BVerfGE 60, 79 <88>; 103, 89 <107>; 121, 69 <92>). Bei der Ausübung der Gesundheitssorge durch die Eltern haben diese zwar grundsätzlich den Primat der Beurteilung der Kindeswohldienlichkeit. Das schließt jedoch staatliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes nicht aus (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Seine absolute Grenze findet der Vorrang bei einer (konkreten) Gefährdung des Kindeswohls. Bei den Regelungen über die Beibringung eines Impfnachweises ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko (vgl. BGH, B. v. 3. 5.2017 – XII ZB 157/16 – Rn. 25 = BGHZ 144, 1 (9)). Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die familiengerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus (vgl. OLG Frankfurt am Main, B. v. 17.8.2021 – 6 UF 120/21 – Rn. 21; OLG München, B. v. 18.10.2021 – 26 UF 928/2 – Rn. 25). Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären. Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch eine vollstreckbare Anforderung des Nachweises (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn. 131).
38
Der Erlass einer Aufforderung zur Beibringung eines Impfnachweis ist für sich gesehen kein schwerwiegender Grundrechtseingriff in die Rechte von Eltern und schulpflichtigen Kind, konkretisiert eine solche Aufforderung doch die ohnehin kraft Gesetzes bestehende Nachweispflicht. Im Einzelfall ermöglicht die Regelung aber Eingriffe im Wege der Verwaltungsvollstreckung, die auch schwerwiegend sein können. Nach Art. 29 Abs. 1 VwZVG können Verwaltungsakte, mit denen die Herausgabe einer Sache, die Vornahme einer sonstigen Handlung oder eine Duldung oder eine Unterlassung gefordert wird, mit Zwangsmitteln vollstreckt werden (Verwaltungszwang). Zwangsmittel (Art. 29 Abs. 2 VwZVG) sind dabei das Zwangsgeld (Art. 31), die Ersatzvornahme (Art. 32), die Ersatzzwangshaft (Art. 33) und der unmittelbare Zwang (Art. 34). Sie entsprechen im Wesentlichen den bundesgesetzlichen Regelungen der §§ 6 ff. VwVG und den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen der anderen Bundesländer. Diese Konzeption war auch dem Gesetzgeber bei Erlass der Regelung bewusst, da er die Vorlagepflicht an das Gesundheitsamt als eine durch Verwaltungsvollstreckungsrecht und insbesondere mit Zwangsgeld durchsetzbare Pflicht bezeichnete (BT-Drs. 19/13452 S. 30). Erschwerend und eingriffsintensivierend kommt hier hinzu, dass, anders als im Bereich der frühkindlichen Betreuung, die der Schulpflicht unterliegenden Kinder und deren sorgeberechtigte Eltern keine Möglichkeit mehr haben, der bußgeldbewehrten und mit Verwaltungszwang durchsetzbaren Auf- und Nachweispflicht einer Immunität zu entgehen. Im Rahmen der frühkindlichen Bildung ist die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufgehoben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG ordnet keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 3 IfSG). Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum (vgl. zum verbleibenden Freiheitsraum auch BVerfG, B. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 – Rn. 209, 221, 232). Sorgeberechtigte Eltern können auf eine Schutzimpfung des Kindes verzichten. Dann müssen sie allerdings den Nachteil in Kauf nehmen, dass sie eine andere Form der Kinderbetreuung (bspw. in der nicht erlaubnispflichtigen Tagespflege) finden müssen (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378 Rn 145). Dass eine solche Ausweichmöglichkeit nur theoretischer Natur sein soll (so aber OVG NW, B. v. 15.8.2024 – 13 B 1280/23 –, juris) vermag der Senat nicht zu erkennen. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass ältere, der Schulpflicht unterliegende Kinder entwicklungsbedingt bereits in der Lage sein können, über Maßnahmen medizinischer Behandlung selbst zu entscheiden oder mitzuentscheiden. Das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht gewährleistet im Grundsatz, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten (Köhnlein, Die Rechtsprechung zu Impfnachweisen in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 7 unter Verweis auf BVerfGE 162, 378 (408f. Rn. 69)).
39
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln gegen die Sorgeberechtigten ist im Rahmen der Ermessensentscheidung deswegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonderes Gewicht beizumessen. Nachdem der Gesetzgeber mit der Einführung der Nachweispflicht bei Masern ausdrücklich keine Impfpflicht begründen wollte (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 27), ist diese Intention im Rahmen der Durchsetzung der Nachweispflicht zu berücksichtigen. Die Anwendung von Verwaltungszwang in Form von Zwangsgeld darf daher bei schulpflichtigen Kindern nicht zu einer faktischen Impfpflicht führen. Ob die zuständige Behörde das Vollstreckungsverfahren einleitet und welche Maßnahmen sie ergreift, steht in ihrem pflichtgemäßem Ermessen (vgl. Art. 19 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 VwZVG), das einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO). Das behördliche Ermessen erstreckt sich dabei sowohl auf die Frage, ob überhaupt Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet werden (Entschließungsermessen), als auch auf die Frage, gegen wen und auf welche Art und Weise (Ausübungsermessen). Auch der Bundesgesetzgeber hat ausdrücklich angenommen, dass die behördliche Zwangsvollstreckung einer Anforderung nach § 20 Abs. 12 IfSG der behördlichen Ermessensausübung im Einzelfall bedarf (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 30; BayVGH, B. v. 7.5.2024 – 20 CS 24.428 – BeckRS 2024, 12189 Rn. 7).
40
Die Infektionsschutzbehörden sind deswegen verpflichtet, die besonderen Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Dabei dürfte je nach Alter des Kindes eine erste Zwangsgeldandrohung gegen die Sorgeberechtigten regelmäßig ermessensgerecht sein. Damit wird Druck auf diese ausgeübt, um (noch einmal) über die Erfüllung der gesetzlichen Nachweisverpflichtung nachzudenken und ihr nachzukommen. Diese Anstoßwirkung ist bei einer zweiten und weiteren Zwangsgeldandrohung jedoch nicht ohne Weiteres gegeben und muss im Einzelfall abgewogen werden. Zudem hat das Gesundheitsamt das gesetzliche Entscheidungsprogramm des § 20 Abs. 12 IfSG zu berücksichtigen. Wird nach einer entsprechenden Anordnung ein solcher Nachweis vorgelegt, bestehen aber Zweifel an dessen Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit, kann das Gesundheitsamt – ebenfalls durch Verwaltungsakt – eine ärztliche Untersuchung anordnen, Auskünfte einholen und Unterlagen einsehen (§ 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG). Wird dagegen innerhalb einer angemessenen Frist kein solcher Nachweis vorgelegt (oder ist die Echtheit oder inhaltliche Richtigkeit vom Gesundheitsamt widerlegt worden), ergibt sich das vom Gesetzgeber vorgezeichnete Entscheidungsprogramm aus § 20 Abs. 12 Satz 3 bis Satz 6 IfSG: Die zur Vorlage verpflichtete Person kann zu einer Beratung geladen werden (§ 20 Abs. 12 Satz 3 Halbs. 1 IfSG); jedenfalls aber ist sie vom Gesundheitsamt zu einer Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern aufzufordern (§ 20 Abs. 12 Satz 3 Halbs. 2 IfSG). Schließlich kann das Gesundheitsamt der vorlageverpflichteten Person in einem letzten Schritt durch Verwaltungsakt untersagen, die dem Betrieb der jeweiligen Einrichtung dienenden Räume zu betreten oder in einer solchen Einrichtung tätig zu werden (§ 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG). Speziell ein solches – zudem kraft Gesetzes sofort vollziehbares (§ 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG) – Betretungs- oder Tätigkeitsverbot greift weitreichend in die Grundrechte der Betroffenen ein und bewirkt einen erheblichen Druck, die Anordnungen des Gesundheitsamts nach § 20 Abs. 12 Satz 1 und Satz 2 IfSG zu befolgen. Gegenüber schulpflichtigen (im Hinblick auf Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen i.S.d. § 33 Nr. 3 IfSG) und unterbringungspflichtigen Personen (im Hinblick auf Einrichtungen i.S.d. § 33 Nr. 4 und § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG) ist der Erlass eines Betretungsverbots jedoch nach § 20 Abs. 12 Satz 5 und Satz 6 IfSG im Wege einer Rückausnahme gesetzlich ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gewicht des mit dem Erfordernis einer Impfung für bestimmte Personengruppen verbundenen Eingriffs in die Grundrechte der Betroffenen maßgeblich daran gemessen, ob jeweils auch ein Verzicht auf die Impfung – und sei es unter Inkaufnahme gravierender Nachteile – möglich bleibt (vgl. BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 145; B.v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 – juris Rn. 209, 221). Vor diesem Hintergrund ist die im Gesetz angelegte (vgl. § 20 Abs. 12 Satz 8 IfSG; vgl. auch BT-Drs. 19/13452 S. 30: „eine durch Verwaltungsvollstreckungsrecht und insbesondere mit Zwangsgeld durchsetzbare Pflicht“) selbständige Vollstreckbarkeit einer behördlichen Anordnung der Vorlage eines Nachweises nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG aus systematischen, teleologischen und verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. hierzu auch zur Vereinbarkeit einer Impfpflicht für Kinder mit Art. 9 der EMRK: EGMR, U.v. 8.4.2021 – 47621/13 u.a. (Vavřička u.a./Tschechien) – NJW 2021, 1657 Rn. 330 ff.) zu begrenzen. Deswegen scheidet beispielsweise die Anordnung von Ersatzzwangshaft (Art. 33 VwZVG) aus Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen von vorneherein aus. Zudem kommt die Androhung weiterer Zwangsgelder nicht in Frage, wenn Anwendung des Zwangsmittels keinen zweckentsprechenden und rechtzeitigen Erfolg erwarten lässt.
41
Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Senat keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 bis 13 IfSG im Falle von schulpflichtigen Kindern.
42
c) Der Bescheid vom 22. August 2023 ist auch im Übrigen rechtmäßig.
43
aa) Die Voraussetzungen des § 20 Abs. 12 Satz 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSG sind erfüllt. Der minderjährige Sohn der sorgeberechtigten Kläger besucht eine Grundschule und wird daher in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG (Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen) betreut.
44
bb) Einen den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG über eine bei ihrem Sohn im Hinblick auf die Masernschutzimpfung bestehende medizinischen Kontraindikation haben die Kläger bis zum Erlass der streitgegenständlichen Anforderung nicht vorgelegt. Nach dieser Regelung kann auch ein ärztliches Zeugnis darüber, dass bei Personen eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können, als ausreichender Nachweis vorgelegt werden. Das ärztliche Zeugnis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG muss dabei wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis zu überprüfen. Nicht ausreichend ist ein ärztliches Zeugnis, das lediglich den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG wiederholt und sich insoweit auf die bloße Behauptung beschränkt, dass eine medizinische Kontraindikation vorliege, ohne diese konkret zu benennen.
45
Was unter einem ärztlichen Zeugnis zu verstehen ist, wird im Infektionsschutzgesetz nicht definiert. Das Infektionsschutzgesetz verwendet den Begriff allerdings an zahlreichen Stellen. Je nachdem, in welchem Kontext der Begriff des ärztlichen Zeugnisses verwendet wird, werden bestimmte Anforderungen an dieses vom Gesetzgeber gestellt. So setzt § 35 Abs. 5 IfSG ausdrücklich eine Befundung voraus. Im Falle des § 36 Abs. 5 Satz 3 IfSG ist der dort erforderlichen Befundung gegebenenfalls eine Röntgenaufnahme zugrunde zu legen. An anderer Stelle fehlen im Gegensatz dazu nähere Anforderungen, die an ein jeweiliges ärztliches Zeugnis zustellen sind. Im Fall des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG ist ein ärztliches Zeugnis darüber erforderlich, dass die Personen aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können. Eine Kontraindikation, also eine Gegenanzeige, ist im Fall der Masernimpfung ein Umstand, welche die Anwendung der Impfung verbietet. Das ärztliche Attest muss also die Kontraindikation wiedergeben und deshalb den die Impfung hindernden Umstand bezeichnen und warum dieser einer Masernimpfung entgegensteht. Nach Art. 85 Abs. 1 Satz 1 BayEUG sind die Schulen in Bayern befugt, entsprechende Daten zu verarbeiten (allgemein kritisch: Sangs/Eibenstein, IfSG, 1. Aufl. 2022, § 20 Rn. 137; Aligbe, ARP 2020, 227, 228). Der Nachweis ist in der Regel unproblematisch, wenn das Zeugnis sich auf die bei den in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe, die als MMR- oder MMRV-Kombinationsimpfstoffe angeboten werden, aufgeführten Kontraindikationen bezieht. In einem solchen Fall ist die Angabe der konkreten Kontraindikation ausreichend. Soweit sich Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des ärztlichen Zeugnisses ergeben, ist das Gesundheitsamt befugt, nach § 20 Abs. 12 Sätze 3 und 4 IfSG Ermittlungen anzustellen. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gesundheitsamt zudem berechtigt, den vorgelegten Nachweis zurückzuweisen.
46
Unter Zugrundelegung dieser Vorgabe erfüllen die von den Klägern vorgelegten Unterlagen nicht die Mindestanforderungen an ein ärztliches Zeugnis. Die sich auf Blatt 2 der Behördenakte befindliche „IMPFUNFÄHIGKEITS-BESCHEINIGUNG“ vom 2. Juli 2020 bezieht sich auf „alle von der STIKO empfohlenen und/oder geforderten Schutzimpfungen“ und gibt als Kontraindikation „aus gesundheitlichen Gründen“ an. Eine solche allgemein gehaltene Bestätigung ohne Bezeichnung der konkreten Impfung und der konkreten Kontraindikation ist kein ärztliches Zeugnis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
47
Gleiches gilt für das weitere Zeugnis vom 21. April 2021, welches von den Klägern vorgelegt wurde (Blatt 61 der Behördenakte). Dieses ärztliche Zeugnis „über eine Freistellung von der Impfpflicht und anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe“, „ab sofort und zeitlich unbegrenzt für jede Art von Impfstoff“ entspricht ebenso nicht den Anforderungen des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG. Beide Dokumente sind im Hinblick auf das Vorliegen einer Kontraindikation vollkommen unsubstantiiert und daher nicht einmal im Ansatz überprüfbar. Die vorgelegte Patienteninfo der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg über eine Kostenabrechnung mit einem der bescheinigenden Ärzte mit der dort genannten Diagnose „Immundefekt mit vorherrschendem Antikörpermangel“ stellt ebenfalls kein „Ärztliches Zeugnis“ im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG dar. Weder handelt es sich um ein Zeugnis noch ist diese Info von einem Arzt erkennbar ausgestellt.
48
Damit haben die Kläger die sie aus § 20 Abs. 9 und 13 IfSG treffende Nachweispflicht nicht erfüllt. Der Beklagte war nicht gehalten, von Amts wegen die Voraussetzungen einer Kontraindikation zu prüfen (BayVGH, B. v. 21.9.2023 – 20 CS 23.1432 – juris Rn 4). Folglich war der Beklagte befugt die streitgegenständliche Anforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG zu erlassen.
49
d) Ermessensfehler sind weder vorgetragen noch erkennbar. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 1. Juli 2024 verwiesen.
50
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
51
3. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 132 Abs. 2 VwGO).